Noch ist der Vorhang geschlossen. Noch zirpen die Grillen im Zuschauerraum und wiegen das Publikum in trügerischer Sicherheit. Fährt der Vorhang hoch, putzt Martin Brauer, Grebes kongenialer Schlagzeuger, sich die Zähne, das macht ein tolles Geräusch vom Schrubben bis zum Gurgeln, denn er tut das natürlich mit Mikro. Den ersten Lachern nach zu urteilen, befürchtet im Zuschauerraum niemand etwas. Mit Jens-Karsten Stolls Auftritt im Rasen-bedruckten Dirigats-Frack allerdings ist es vorbei mit dem Frieden. Denn der dirigiert einen Schreichor. Zwar nur auf der Leinwand, aber ordentlich Wumms hat das allemal, immerhin sind das Thalia-Schauspieler mit grandioser Mimik und ausgeprägten Organen.
Und so beginnt sie, die Soziologie des chorisch geprägten Lauts. Denn nicht mehr und nicht weniger ist es, was Rainald Grebe uns an diesem Thalia-Abend verspricht. Oder um mit Musikwissenschaftler Ernst Klusen zu sprechen, der im Programmheft zitiert wird: “Von seinen Anfängen her ist das Singen eine Lautgebärde, die des Wortes nicht bedarf.” So weit so gut.
Der Vorhang fällt wieder, und das erste Lied, dessen Text nicht fehlen darf, ist “Wo man singt, da lass dich ruhig nieder/Böse Menschen haben keine Lieder” – mit einer Klarheit präsentiert von einer Mitsängerin des sogenannten Bürgerchors, dass es fast schon anrührt. Niemals würde das bei Grebe so stehen bleiben, nein, während der letzten Zeilen muss ein Grebe´scher Bruch her. Den besorgt Jens-Karsten Stoll, der mit einer kleinen Taschenlampe in ihren Hals leuchtet, während der Vorhang aufgeht und auf der Rückwand die Stimmlippen in Aktion projiziert werden – fast ein obszöner Anblick mit diesen Speichelfäden, die sich dazwischen spannen.
Dann geht alles ganz schnell, ein Baum (natürlich eine Linde!) schwebt von der Decke, und ein paar Bierkisten werden zusammengestellt. Nun braucht es nur noch Rainald und die “Kapelle der Versöhnung”, die Band mit der er einst das Programm “Volksmusik” kreierte, das bereits 2006 im Tipi am Berliner Kanzleramt für Begeisterungsstürme sorgte. Das Lagerfeuer-Idyll mit Marcus Baumgart an der Gitarre und zünftigem Flensburger-Flaschen-Plöpp als Percussion von Brauer mutiert zum Volkslieder-Medley von Xavier Naidoo bis zu Finale-Fußballgesängen. Denn was kann das Volkslied sein, wenn nicht das Lied, das “das Volk” heute singt.
Ist das also das Ziel des Abends? Feldforschung in der Volksmusik? Das wird zumindest behauptet. Und wie Grebe ganz richtig konstatiert, darf der das Volk nicht fürchten, der sich mit dessen Musik beschäftigt. Folgerichtig wurden Menschen auf der Straße zum Thema “Volkslied” befragt. Was die aus dem Hinterkämmerchen ihrer Erinnerung kramen, wird per Video an die Leinwand projiziert und sorgt im Publikum für Heiterkeit. Von “Am Brunnen vor dem Tore” bis “Lustig ist das Zigeunerleben”, vom Teenager bis zum Seniorenpaar – den Text kann irgendwie keiner mehr. Und so leicht kommt auch das Publikum nicht davon. Es wird dunkler auf der Bühne, Grebe geht in Dirigenten-Pose, es gibt Volksmusik-Karaoke: “Der Mond ist aufgegangen”, der Text kommt von der Leinwand, und unisono singt das Publikum, dass es eine Freude ist.
Ganz wohlig wird einem im Zuschauerraum. Verführerisch ist es, in der Menge unterzutauchen, ganz aufzugehen im gemeinschaftlichen Gesang, und angeblich kommt auch daher der Deutschen Unwohlsein zum Thema Volkslied. Das Dritte Reich, so Grebe in seinen Ausführungen, habe uns die Begeisterung am gemeinsamen Volkslieder-Singen schlichtweg versaut.
Doch der Fokus, das wird schnell klar, soll hier gar nicht nur auf “die Deutschen” gerichtet werden, denn wir sind sehr multikulti, und das beweist Grebe auch. Auftritt “Hamburger Bürgerchor”: 17 Menschen aller Altersgruppen und Nationen hat Grebe mit seinem Team gecastet, und die machen den Abend zu dem, was er ist. Sie kommen aus Hamburg oder aus Albanien, aus dem tiefsten Ruhrpott, haben Wurzeln in Curacao, Norwegen, Russland oder der Türkei. Sie tragen rote Schuhe, Capri-Leggins mit Turnhosen darüber und dazu weiße Blusen mit einer Art Corsage. Sie sind eine Mischung aus Motettenchor und Fußball-Mannschaft, und wenn es poetisch oder (alp-) traumhaft wird, tauschen sie die Sporthosen gegen weite Reifröcke, egal welchen Geschlechts (Kostüme: Kristina Böcher).
Dieser Bürgerchor trägt Rainald und seine Jungs durch den Abend mit Ernsthaftigkeit und Professionalität. Chorleiter Jens-Karsten Stoll hat diesen engagierten Haufen mit unterschiedlichsten Stimmen und Talenten zu einem homogenen Chor der Vielfalt geformt. Die dürfen singen, schuhplatteln und den Amerikanischen Line Dance tanzen, was das Zeug hält. Einige von ihnen waren gar zu Recherchezwecken in Grund- und Stadtteilschulen, um zu hören, was “die jungen Leute” heute so singen. Nix mehr mit “Leise rieselt die 4/auf das Notenpapier” oder “Von den blauen Bergen kommen wir”. “Deine Mudda” und “Agathe Bauer” haben auf der Thalia-Bühne ebenso ihre Berechtigung wie Zitate aus “Des Knaben Wunderhorn” und Fußballchöre. “Das ist dokumentarisches Theater, ich versteh´s nicht mehr”, so Grebe kopfschüttelnd.
Doch natürlich versteht er, beispielsweise wenn er mit den Damen des Bürgerchors bei schwerem Beat und Hammond-Orgel “Die Stimme des Volkes” singt mit Zeilen wie “Die Wut kommt von unten, und da gehört sie hin” oder “Ich singe für alle, ich bin schwarz-rot-gold”. Das hat den bitterbösen Beigeschmack, den man von Grebe kennt. Darauf einen Klecks Sahne und eine ordentliche Portion Idyll: Grebe darf in eine Kettenkarussellschaukel steigen und über die Geschichte des Volksliedes von Herder bis Achim von Arnim referieren. Das steht neben dem aggressiven Sound von vorhin, als gehöre es zusammen. Und an diesem Abend tut es das auch. Genau wie der Türk-Pop zum Line Dance, die russische Volksweise zum albanischen Gesang und das argentinische Bandoneon zu Krefeld.
Und wenn Grebe am Ende wie so oft von seiner Heimat auf der Autobahn singt, von Rei in der Tube, Etap Hotels, dem TomTom und dem baumelnden Wunderbaum, verzeiht man ihm sogar, dass er kein Ende findet und der Abend letztlich doch ein bisschen zerfällt. Man will ja auch gar nicht, dass er die Bühne verlässt, genauso wenig wie sein Bürgerchor. Denn hier geht es um etwas, nach dessen Definition sich irgendwie jeder sehnt, und Grebe ist ganz vorne mit dabei – mal mit mehr Theater, mal mit weniger: auf der Suche nach einem Heimatabend der anderen Art. Und davon darf er gern noch ganz viele machen.
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