Es gibt diesen Moment, nach wenigen Sekunden Film, da denkt man: Halleluja. Die haben Erbarmen mit uns. Die ersparen uns den ganzen Scheiß. Diese Geschichten, die man mitbekommen hat, freiwillig oder nicht, selbst wenn man Charlotte Roches Roman „Feuchtgebiete“ nie gelesen hat: Anal-Verletzungen, Schmiererei mit allen erdenklichen Körperflüssigkeiten.
Es ist dieser Moment, in dem ein Körperteil im Close-up die Leinwand füllt, von dem nicht ganz klar ist, um was es sich handelt: ein Dekolletee? Oder, ohgottohgott, doch schon die Pofalte? Dann fährt die Kamera zurück, und der Zuschauer entspannt sich. Es ist nur die Linie zwischen dem nackten Unter- und Oberschenkel eines Mädchens, das auf seinem Skateboard hockt. Falscher Alarm.
Es bleibt der einzige falsche Alarm in 109 Minuten.
Schon über die literarische Vorlage wurde unendlich viel geschrieben. Auch der Film hat vor dem offiziellen Kinostart viel Staub aufgewirbelt. Am Tag der Erstausstrahlung titelte das “Hamburger Abendblatt” aufgeregt: Skandal! Ekel-Szenen im Kino! Darf man das? Wer die letzten Jahre in der Wüste, im tibetanischen Schweigekloster oder in der inneren Immigration verbracht hat und mit dem Inhalt nicht vertraut ist, für den kommt hier die Kurzzusammenfassung:
Die 18jährige Helen (Carla Juri) liegt nach einer verunglückten Intimrasur mit eingerissener Analfalte im Krankenhaus, verdreht einem Pfleger den Kopf, sinniert ausgiebig über Sex und andere Gelegenheiten zum Austausch von Körperflüssigkeiten und wünscht sich im Grunde ihres Herzens nichts anderes, als das die geschiedenen Eltern (Meret Becker und Axel Milberg) sich an ihrem Krankenbett wieder versöhnen könnten.
Eine Geschichte, die viele Lesarten zulässt – erstaunlicherweise einigte sich die vornehmlich weibliche Leserschaft des Romans vor einigen Jahren auf das Thema “sexuelle Befreiung” und stilisierte die Protagonistin zu einer Art Anti-Heidi Klum, einer trotzigen Verfechterin abgründiger Erotik. Dabei zeigt zumindest die Leinwand-Version eher das Drama eines ungeliebten Kindes als die selbstbewusste Zurschaustellung einer Sexualität, die sich nicht um perfekte Körper schert. Mit ihrer Faszination für getrocknetes Sperma, Menstruationsblut und schmutzige Toiletten spielt die Newcomerin Carla Juri furios eine junge Frau, die nie über frühkindliche Phantasien hinausgekommen ist.
Die an Avocadokernen lutscht, mit dem selbstvergessenen Gesichtsausdruck eines Babys, das sich die Welt mit Gaumen und Zunge aneignet. Auch der rotzige Charme der Heldin und die komischen Szenen (großartig: Edgar Selge als übergriffig-jovialer Chefarzt) können nicht darüber hinwegtäuschen: Was wir hier sehen, ist ein Drama auf Leben und Tod. Ein Einblick in die Krankenakte unserer Gesellschaft.
Nun könnte man natürlich anmerken, dass diese Scheidungsgeschichte doch eigentlich recht banal ist, hundertfach erzählt, im Kern auch ganz schön reaktionär: Eltern, seht her, was ihr euren Kindern antut, wenn ihr eure Familie der bösen Selbstverwirklichung opfert! Andererseits: Viele große Geschichten sind im Kern banal, und faszinieren doch immer wieder. Weil sie anrühren, und weil man sie immer wieder neu erzählen kann, mit anderen Bildern, in einer anderen Sprache. So gesehen ist “Feuchtgebiete” ein hervorragender Film.
Auch die Frage nach dem, was Kino darf, ist sehr leicht zu beantworten: Kino darf alles, um eine Geschichte adäquat zu erzählen. Und darf selbstverständlich auch da hin gehen, wo es wehtut, dahin, wo es eklig wird. Regisseur David F. Wnendt ist ja in guter Gesellschaft: von “Clockwork Orange” über “Trainspotting”, von David Lynch bis David Cronenberg, immer wieder war der menschliche Körper in seiner Unzulänglichkeit, seinen Abgründen und mit seinen abstoßenden Seiten Thema großer Erzählungen.
Mehr noch als auf der Leinwand kennt man diese Herangehensweise aus der Bildenden Kunst. “Zeige deine Wunde!” heißt eine berühmte Installation von Joseph Beuys, dessen Filz- und Fett-Feuchtgebiete ihn in den Sechzigern und Siebzigern zum Star machten. Und gebrauchte Tampons? Sind die neue Ölmalerei, seit die britische Künstlerin Tracey Emin in einer New Yorker Galerie ihr benutztes Bett ausstellte, Ekel-Accessoires inklusive. Vielleicht kein Zufall, dass auch die aberwitzigen Bilder aus “Feuchtgebiete” häufig eher an documenta-Kunst erinnern als an gängige Kino-Kost. Ein Strudel aus Tagtraum, Wahnsinn und Realität, der rasant die Ebenen wechselt.
Darunter sind große, eindrückliche Momente. Etwa der monströse Braten, bei dem eine Wachtel, ein Huhn, eine Ente und ein Gans nach Matrioschka-Art ineinander gestopft werden und schließlich mit der Geflügelschere gemetzelt – ein Bild für schmerzhafte weibliche Körperlichkeit, das kaum zu toppen ist. Oder der Vorspann, in dem die Bakterien von der verdreckten Klobrille einen rasanten Reigen aufführen wie unter einem gigantischen Elektronenmikroskop. Aber eben auch spätestens alle fünf Minuten eine neue Steigerung ganz banalen Ekels. Pipi, Kacka, Kotze.
Man bewegt sich durch den Film wie ein Kind durch die Geisterbahn, ständig mit halb zusammen gekniffenen Augen. Der nächste Schocker kommt bestimmt. Nichts ist harmlos – bis auf die Pofalte ganz zu Beginn, die dann doch keine ist. Und die Dialoge zwischen Tochter und Eltern genau so böse wie die Fotos der OP-Wunde, die Helen den Pfleger mit dem Smartphone schießen lässt.
Gegen Ende liegt dann doch ein wenig Happiness in der Luft und die Feuchtigkeit ausnahmsweise außerhalb des Körpers, im Sturzregen vor dem Autofenster. Aber da ist man schon längst viel zu ermattet und zu beschäftigt, Bild und Ton gründlich aus dem Zwischenspeicher des eigenen Hirns zu löschen.
Ähnlich wie die wenigen anderen Zuschauer, die am Premierenabend ihren Weg ins Zeise-Kino gefunden haben. Offensichtlich war die Abschreckung größer als die Sogwirkung des Ex-Beststellers. Singt zum Abspann auch noch eine Punkrock-Tussi etwas wie “Komm in meinen Mund, ich will dich schmecken”, möchte man ihr gerne ein herzhaftes “Fuck you!” zurufen.
“Feuchtgebiete” ist ein toller Film. Und dabei absolut unerträglich.
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