Zeige deine Wunde

Wahnsinn, Ekel und Familienbande: Die Kino-Adaption von Charlotte Roches Roman »Feuchtgebiete« schenkt dem Zuschauer nichts. Das ist vor allem eines: gnadenlos

Mit mei­nen hei­ßen Trä­nen (Bild: © Peter Hartwig/​Majestic)

Es gibt die­sen Moment, nach weni­gen Sekun­den Film, da denkt man: Hal­le­lu­ja. Die haben Erbar­men mit uns. Die erspa­ren uns den gan­zen Scheiß. Die­se Geschich­ten, die man mit­be­kom­men hat, frei­wil­lig oder nicht, selbst wenn man Char­lot­te Roches Roman „Feucht­ge­bie­te“ nie gele­sen hat: Anal-Ver­let­zun­gen, Schmie­re­rei mit allen erdenk­li­chen Körperflüssigkeiten.

Es ist die­ser Moment, in dem ein Kör­per­teil im Clo­se-up die Lein­wand füllt, von dem nicht ganz klar ist, um was es sich han­delt: ein Dekol­le­tee? Oder, ohgot­toh­gott, doch schon die Pofal­te? Dann fährt die Kame­ra zurück, und der Zuschau­er ent­spannt sich. Es ist nur die Linie zwi­schen dem nack­ten Unter- und Ober­schen­kel eines Mäd­chens, das auf sei­nem Skate­board hockt. Fal­scher Alarm.

Es bleibt der ein­zi­ge fal­sche Alarm in 109 Minuten.

Schon über die lite­ra­ri­sche Vor­la­ge wur­de unend­lich viel geschrie­ben. Auch der Film hat vor dem offi­zi­el­len Kino­start viel Staub auf­ge­wir­belt. Am Tag der Erst­aus­strah­lung titel­te das »Ham­bur­ger Abend­blatt« auf­ge­regt: Skan­dal! Ekel-Sze­nen im Kino! Darf man das? Wer die letz­ten Jah­re in der Wüs­te, im tibe­ta­ni­schen Schwei­ge­klos­ter oder in der inne­ren Immi­gra­ti­on ver­bracht hat und mit dem Inhalt nicht ver­traut ist, für den kommt hier die Kurzzusammenfassung:

Die 18jährige Helen (Car­la Juri) liegt nach einer ver­un­glück­ten Intim­ra­sur mit ein­ge­ris­se­ner Anal­fal­te im Kran­ken­haus, ver­dreht einem Pfle­ger den Kopf, sin­niert aus­gie­big über Sex und ande­re Gele­gen­hei­ten zum Aus­tausch von Kör­per­flüs­sig­kei­ten und wünscht sich im Grun­de ihres Her­zens nichts ande­res, als das die geschie­de­nen Eltern (Meret Becker und Axel Mil­berg) sich an ihrem Kran­ken­bett wie­der ver­söh­nen könnten.

Eine Geschich­te, die vie­le Les­ar­ten zulässt – erstaun­li­cher­wei­se einig­te sich die vor­nehm­lich weib­li­che Leser­schaft des Romans vor eini­gen Jah­ren auf das The­ma »sexu­el­le Befrei­ung« und sti­li­sier­te die Prot­ago­nis­tin zu einer Art Anti-Hei­di Klum, einer trot­zi­gen Ver­fech­te­rin abgrün­di­ger Ero­tik. Dabei zeigt zumin­dest die Lein­wand-Ver­si­on eher das Dra­ma eines unge­lieb­ten Kin­des als die selbst­be­wuss­te Zur­schau­stel­lung einer Sexua­li­tät, die sich nicht um per­fek­te Kör­per schert. Mit ihrer Fas­zi­na­ti­on für getrock­ne­tes Sper­ma, Mens­trua­ti­ons­blut und schmut­zi­ge Toi­let­ten spielt die New­co­me­rin Car­la Juri furi­os eine jun­ge Frau, die nie über früh­kind­li­che Phan­ta­sien hin­aus­ge­kom­men ist.

Die an Avo­ca­do­ker­nen lutscht, mit dem selbst­ver­ges­se­nen Gesichts­aus­druck eines Babys, das sich die Welt mit Gau­men und Zun­ge aneig­net. Auch der rot­zi­ge Charme der Hel­din und die komi­schen Sze­nen (groß­ar­tig: Edgar Sel­ge als über­grif­fig-jovia­ler Chef­arzt) kön­nen nicht dar­über hin­weg­täu­schen: Was wir hier sehen, ist ein Dra­ma auf Leben und Tod. Ein Ein­blick in die Kran­ken­ak­te unse­rer Gesellschaft.

Nun könn­te man natür­lich anmer­ken, dass die­se Schei­dungs­ge­schich­te doch eigent­lich recht banal ist, hun­dert­fach erzählt, im Kern auch ganz schön reak­tio­när: Eltern, seht her, was ihr euren Kin­dern antut, wenn ihr eure Fami­lie der bösen Selbst­ver­wirk­li­chung opfert! Ande­rer­seits: Vie­le gro­ße Geschich­ten sind im Kern banal, und fas­zi­nie­ren doch immer wie­der. Weil sie anrüh­ren, und weil man sie immer wie­der neu erzäh­len kann, mit ande­ren Bil­dern, in einer ande­ren Spra­che. So gese­hen ist »Feucht­ge­bie­te« ein her­vor­ra­gen­der Film.

Auch die Fra­ge nach dem, was Kino darf, ist sehr leicht zu beant­wor­ten: Kino darf alles, um eine Geschich­te adäquat zu erzäh­len. Und darf selbst­ver­ständ­lich auch da hin gehen, wo es weh­tut, dahin, wo es eklig wird. Regis­seur David F. Wnendt ist ja in guter Gesell­schaft: von »Clock­work Oran­ge« über »Train­spot­ting«, von David Lynch bis David Cro­nen­berg, immer wie­der war der mensch­li­che Kör­per in sei­ner Unzu­läng­lich­keit, sei­nen Abgrün­den und mit sei­nen absto­ßen­den Sei­ten The­ma gro­ßer Erzählungen.

Mehr noch als auf der Lein­wand kennt man die­se Her­an­ge­hens­wei­se aus der Bil­den­den Kunst. »Zei­ge dei­ne Wun­de!« heißt eine berühm­te Instal­la­ti­on von Joseph Beuys, des­sen Filz- und Fett-Feucht­ge­bie­te ihn in den Sech­zi­gern und Sieb­zi­gern zum Star mach­ten. Und gebrauch­te Tam­pons? Sind die neue Ölma­le­rei, seit die bri­ti­sche Künst­le­rin Tracey Emin in einer New Yor­ker Gale­rie ihr benutz­tes Bett aus­stell­te, Ekel-Acces­soires inklu­si­ve. Viel­leicht kein Zufall, dass auch die aber­wit­zi­gen Bil­der aus »Feucht­ge­bie­te« häu­fig eher an docu­men­ta-Kunst erin­nern als an gän­gi­ge Kino-Kost. Ein Stru­del aus Tag­traum, Wahn­sinn und Rea­li­tät, der rasant die Ebe­nen wechselt.

Dar­un­ter sind gro­ße, ein­drück­li­che Momen­te. Etwa der mons­trö­se Bra­ten, bei dem eine Wach­tel, ein Huhn, eine Ente und ein Gans nach Matriosch­ka-Art inein­an­der gestopft wer­den und schließ­lich mit der Geflü­gel­sche­re gemet­zelt – ein Bild für schmerz­haf­te weib­li­che Kör­per­lich­keit, das kaum zu top­pen ist. Oder der Vor­spann, in dem die Bak­te­ri­en von der ver­dreck­ten Klo­bril­le einen rasan­ten Rei­gen auf­füh­ren wie unter einem gigan­ti­schen Elek­tro­nen­mi­kro­skop. Aber eben auch spä­tes­tens alle fünf Minu­ten eine neue Stei­ge­rung ganz bana­len Ekels. Pipi, Kacka, Kotze.

Man bewegt sich durch den Film wie ein Kind durch die Geis­ter­bahn, stän­dig mit halb zusam­men geknif­fe­nen Augen. Der nächs­te Scho­cker kommt bestimmt. Nichts ist harm­los – bis auf die Pofal­te ganz zu Beginn, die dann doch kei­ne ist. Und die Dia­lo­ge zwi­schen Toch­ter und Eltern genau so böse wie die Fotos der OP-Wun­de, die Helen den Pfle­ger mit dem Smart­phone schie­ßen lässt.

Gegen Ende liegt dann doch ein wenig Hap­pi­ness in der Luft und die Feuch­tig­keit aus­nahms­wei­se außer­halb des Kör­pers, im Sturz­re­gen vor dem Auto­fens­ter. Aber da ist man schon längst viel zu ermat­tet und zu beschäf­tigt, Bild und Ton gründ­lich aus dem Zwi­schen­spei­cher des eige­nen Hirns zu löschen.

Ähn­lich wie die weni­gen ande­ren Zuschau­er, die am Pre­mie­ren­abend ihren Weg ins Zei­se-Kino gefun­den haben. Offen­sicht­lich war die Abschre­ckung grö­ßer als die Sog­wir­kung des Ex-Best­stel­lers. Singt zum Abspann auch noch eine Punk­rock-Tus­si etwas wie »Komm in mei­nen Mund, ich will dich schme­cken«, möch­te man ihr ger­ne ein herz­haf­tes »Fuck you!« zurufen.

»Feucht­ge­bie­te« ist ein tol­ler Film. Und dabei abso­lut unerträglich.

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