Der Herbst ist die perfekte Jahreszeit, um zur Kunst-Biennale, der Urmutter aller Biennalen, nach Venedig zu reisen. Ein paar Wochen vor Toresschluss – die Schau läuft bis zum 24. November –, sind die meisten semiprofessionellen Kunstjünger schon wieder abgezogen, die Lagunenstadt wirkt zum Teil sogar angenehm leer. Man ist nicht durch Scharen von Menschen abgelenkt, genügt doch die Überfülle an Kunst vollkommen zur temporären Reizüberflutung.
Die 55. Biennale hat nichts von ihrer Faszination der Ausstellungsidee eingebüßt: Wie ein Schatzsucher streift der Besucher in den Giardini von Pavillon zu Pavillon unter Zypressen hindurch – mit der Möglichkeit, mal nach Luft zu schnappen. Eine Mischung aus Planung und Sich-Treiben-Lassen hilft dabei, Kunst noch genießen zu können, ohne sich selbst heillos zu überfordern bei der schieren Menge der Ausstellungen, die sich über ganz Venedig verteilen. Einige Kunst-Stücke wollen gesucht werden. Hat man sie gefunden, gilt es, vielfach auch Teil der Kunst-Aktion zu werden.
So ummauert der dänische Videokünstler Jesper Just den schlichten Landespavillon in den Giardini mannshoch mit weißen Ytong-Steinen. Körperlicher Einsatz ist gefragt: Wer den dänischen Beitrag sehen will, ist prompt involviert und muss zunächst den Eingang hinter den weißen Steinblöcken suchen; auf dem Weg begegnen sich leicht irritierte Biennale-Fans und kommunizieren kurz miteinander.
Ist das Ziel aufgespürt, gibt es einen schwarz-weiß Film zu sehen, das Innere des Pavillons ist spärlich beleuchtet, man findet Wandeinbrüche, Schutt, Zwischenwände mit Ytong-Steinen vor – kurz: Baustellenatmosphäre. Im Video läuft ein Mann läuft quer durchs Brachland auf Wohnblöcke zu, die irgendwie nach Frankreich, nach Belle Époque aussehen.
Doch hier bröckelt der Putz ab, einige Schaufenster sind zu Bruch gegangen, es ist menschenleer. Es hat was Morbides, genau wie Venedig selbst. Dabei sind die Häuser keine zehn Jahre alt. Es ist die Vorstadt von Hangzhou in China, eine Replik von Paris. Das Projekt “Intercourses” zeigt ein Land in einem anderen, der Pavillon wird zum körperlichen Stellvertreter. Eine Verlagerung der Kulturen durch architektonische Nachahmung und den Aufbau eindringlicher, facettenreicher Umgebung. Die Stadt ist die Protagonistin, die sich ausdehnt und doch Menschen verbindet.
Im russischen Pavillon regnet es Goldmünzen für die Frauen: Auch hier partizipieren die Betrachter aktiv an der Ausstellung “Danaë” — allerdings nur die weiblichen. Sie sammeln und verteilen anschließend die extra für die Biennale angefertigten Goldmünzen in einen dafür vorgesehenen Eimer, die dann wiederum auf die anderen Zuschauerinnen herabregnen.
Diese sind geschützt durch einen durchsichtigen Regenschirm. Männer dürfen von einer Galerie aus den Goldregen verfolgen, aber nicht an der Aktion selbst teilnehmen. Keusch ist hier keiner, die Aktion spielt auf die Sage um die kinderlose Danaë an: Die wird von ihrem Vater, König Akrisios von Argos, in ein Verlies gesperrt. Ein Orakel hatte ihm verkündet, er würde durch seinen Enkel zu Tode kommen. Aber Göttervater Zeus begehrt sie und findet durch das Dach des Gefängnisses Zugang in Goldregen-Gestalt zu ihr. Somit überwindet die korrumpierende Macht des Goldes alle Hindernisse, auch die der Keuschheit.
Seine Welt sind Mythen: Partizipation und Aktionismus nehmen im Werk des in Moskau und Berlin lebenden Künstlers Vadim Zakharov von Beginn an einen zentralen Platz ein. Der Neureichtum der Russen dürfte dabei eine nicht unbedeutende Rolle spielen.
Die Deutschen haben diesmal getauscht: Mit dem Gegenüber. Mit dem französischen Pavillon auf Vorschlag der Außenministerien beider Länder. Als Besonderheit, um die internationale Vielseitigkeit des eigenen Landes zu präsentieren, sich als Multi-Kulti-Land zu positionieren. Dies soll nun die kritische Beschäftigung mit der Bedeutung der traditionellen Form nationaler Repräsentation in den Länderpavillons fortsetzen. Kuratorin Susanne Gaensheimer vom MMK Frankfurt hat sich schon vor zwei Jahren hervorgetan, als sie den Goldenen Löwen für den besten Pavillon mit einer posthumen Ehrung der Kunst Christoph Schlingensiefs gewann.
2013 nun wird Deutschland von den vier internationalen Künstlern Ai Weiwei, Romuald Karmakar, Santu Mofokeng, Dayanita Singh vertreten. So soll das “Verständnis Deutschlands als aktiver Teil eines komplexen, weltweiten Netzwerks, geprägt von vielen Einflüssen und Abhängigkeiten, und nicht als hermetische nationale Einheit zum Ausdruck” gebracht werden. Weltoffenheit um jeden Preis – doch leidet die Verknüpfung, denn die vier Akteure stehen jeder für sich und bauen keine Beziehung untereinander auf.
Um Dokumentarstoff geht es beim in Wiesbaden geborenen Filmemachers Romuald Karmakar. Seit Jahrzehnten hat er sich auf Mechanismen von Gewalt und Massenphänomen insbesondere aus der Täterperspektive konzentriert, dabei hauptsächlich auf die deutsche Geschichte fokussiert. Dayanita Singh lässt ein Video laufen, das sich mit indischen Traditionen beschäftigt, während der Südafrikaner Santo Mofokeng Foto-Essays zum Thema Apartheid mit entweihten Landschaften zeigt.
Ai Weiwei bezieht sich auch auf sein Land und präsentiert übergroß Gesellschaftsgeschichte, mit 886 dreibeinigen Hockern, die er aus allen Teilen Chinas geholt hat. Früher gab es in jedem Haushalt solch ein Sitz- oder Arbeitsmöbel: Heute eine Antiquität, sind die Hocker ergänzt, repariert mit einem oder zwei neuen Beinen. Sie türmen sich über dem Kunstbetrachter, sind wie schwebend aneinander gereiht und geben dem Raum so eine netzähnliche Leichtigkeit, ja Schwerelosigkeit beinahe.
Der Besucher läuft unter den Stühlen hindurch wie durch ein Labyrinth, ab und zu muss er den Kopf einziehen, um nicht an die Installation zu geraten, die aber nicht im Mindesten erschüttert wird. Auch Kinderwagen, eingehakte Paare und Gruppen verträgt dieser erste Raum im französischen Pavillon, der in diesem Jahr den Deutschen gehört. Die französische Darstellung im deutschen Kunsttempel lautet “Ravel, Ravel, Unravel”. Hier platziert der albanische Künstler Anri Sala übergroße Videoleinwände, auf denen zwei Pianisten ein Ravel-Stück für die linke Hand einspielen. Nicht ganz so tiefschürfend, dafür hübsch anzuhören.
Der israelische Pavillon von Gilad Ratman wird lautstark als “The Workshop” mit Videoinstallationen bespielt; schräg hallt es durch den zweigeschossigen Raum. Aufgenommen ist eine Performance, bei der zahlreiche Akteure ihre Konterfeis in Ton formen und dazu skurrile Laute von sich geben, untermalt mit DJ-Musik. Das Ganze mischt sich zu einer verstörenden Kulisse mit Weglauf-Potential. So gesehen hat es durch den Aspekt der Verunsicherung einen starken Länderbezug mit politischer Brisanz.
Einen drolligen Zeichentrickfilm mit tierischen Hauptdarstellern im Disney-Look der 1940er Jahre zu Big-Band-Musik mit Gesangseinlage à la Frank Sinatra oder Dean Martin — “Gotta feelin’ you foolin’ with me” — zeigt dagegen der Österreicher Matthias Poledna. Wie eine Besucherin spontan bemerkte: “Endlich mal was für die Kinder!“Auf großer Fläche ein paar Minuten mit einem tanzenden Eselchen in Matrosenklamotten. Das wars auch schon. Ganz amüsant für zwischendurch und entspannend für die Sinne. Und nicht mehr.
Polen hat große Geschütze aufgefahren und lässt Konrad Smoleński mit Lautstärke spielen: “Everything was forever, until it was no more” heißt die Installation, in der zwei Glocken das menschliche Gehör ganze fünfzehn Minuten lang auf Durchhaltevermögen prüfen. Die Zuschauer sind zuvor instruiert, dass es laut werden kann, wenn man sich im Glockenturm aufhält, und so halten auch die wenigsten das viertelstündige Gedröhne aus. Smoleński engagiert sich nach der visuellen Kunst nun als Soundkünstler und erprobt Energie-Fluss und ‑Effekte.
Goldener Löwe-Gewinner Tino Sehgal mag keine Abbildungen seiner Kunst, also gibt’s auch keine langen Katalogisate oder ähnliches. Der Performance-Künstler bezieht gerne Mensch und Publikum in seine vergänglichen Aktionen ein, so erlebt der Zuschauer ein Schauspiel, an das er sich erinnern muss. Der Grund für die Preisvergabe war die “Klasse und Innovation, mit der seine Arbeit zur Öffnung der künstlerischen Gattungen beigetragen hat.”
Auf dem Arsenale fügen sich filigrane wie monumentale Arbeiten bestens ein in die historischen Werfthallen. Lateinamerika hat sich zusammengetan im “El Atlas del Imperio” mit duftenden Gewürzen und Farbpigmenten (Sonia Falcone für Bolivien), zusammengetragenen Fundstücken und Treibgut (Simón Vega für El Salvador) und Blumenparfum aus dem Präsidentengarten (Martín Sastre für Uruguay), während gleich nebenan Lettland zeigt, wie kalt es im eigenen Land ist und Landsleute in Arbeitskluft in den Schnee stellt. Über den Porträtierten schwingt langsam ein entlaubter Baum hin und her (“North by Northeast” von Kaspars Podnieks und Krišs Salmanis).
Auch die Bahamas, die das erste Mal mit von der Partie sind, haben sich in die Kälte gewagt: Der in New York lebende Konzeptkünstler Tavares Strachan war für seine Schau “Polar Eclipse” genau dort, am Nordpol. Mitgebracht hat er Fotos von sich im weißen Schneeanzug, Fotos vom Ewigen Eis, zwei Eisblöcke, die auf bis zu minus 60 Grad gehalten werden – einer davon echt, einer geklont. Der Mensch als Entdecker, der kein Fleckchen Erde unberührt lässt und diese damit immer weiter zerstört. Auch die Präsentation verbraucht viel Energie und setzt die Zerstörung damit fort.
Die Giardini mit allen Länderpavillons lässt der politisch arbeitende Künstler Alfredo Jaar absaufen: Mit “Venezia, Venezia” tunkt der aus Chile stammende, in New York lebende Jaar den Weltausstellungspark in grünliches Kanalwasser und kritisiert damit den Alleinvertretungsanspruch. Jaar moniert, dass immer noch zu wenig Länder auf der Biennale vertreten sind. Er möchte die Betrachter erhellen, sieht sich als Weltverbesserer. Doch die Biennale ist hartnäckig, sie lässt sich nicht einfach so versenken.
Erfrischend für zwischendurch wieder ein Musikstück: “S. S. Hangover” des isländischen Performancekünstlers Ragnar Kjartansson. Auf einem Boot spielen Berufs-Musiker, während das Boot ständig von einem Dock zum anderen fährt. Vier Stunden lang, jeden Tag bis zum Ende der Kunstschau.
Der Pole Pavel Althammer hat mit seiner Skulptureninstallation “The Venetians“ 90 authentische Venezianer abgebildet, von denen sich die wenigsten selbst entdeckt haben dürften. Stark erinnern diese sehnigen Plastikfiguren an die Plastinate von Gunther von Hagens, die er als “Körperwelten“ ausgestellt hat: Sie alle stellen Posen nach. Zumal die Augen der grauen Figuren geschlossen sind.
Die zentrale Ausstellung “Il Palazzo Enciclopedico” rückt die Zeitgenossen etwas in den Hintergrund: Der jüngste Kurator aller Zeiten, Massimiliano Gioni, Jahrgang 1973, zeigt mehr tote als lebende Künstler. Er greift mit “Il Palazzo Enciclopedico” das in der Garage entstandene Modell des Landsmanns und Hobbyarchitekten Marino Auriti auf, der in den 1950ern seine Utopie zum Patent anmeldete: Ein 700 Meter hoher Bau, der alles Wissen der Welt beherbergen sollte. Das gewaltige Modell dazu steht nun zumindest im Entree des Arsenale. Und doch hat Gioni etwas ausgesucht, was vor ihm keiner in dieser Form zu zeigen gewagt hätte:
Er gibt den sogenannten Outsidern ein großes Forum, stellt die Außenseiter-Kunst in den Mittelpunkt. Im Giardini-Zentralpavillon und in der Hallenflucht im Arsenale steckt der Kunstkritiker bekannte und unbekannte Künstler zusammen. Gioni lässt sich nicht hinreißen, nur “angesagte” Künstler zu zeigen, sondern lenkt den Blick auf Wesentliches. Auch Outsider-Künstler – nicht jeder von ihnen ist unbedingt psychisch krank – arbeiten mit Präzision und Sinn für Details, sind dabei erfrischend unangepasst, radikal und doch konsequent. Und mit Leidenschaft für Materialsammlungen ausgestattet. Das entspannt die Aufregung um hochgehandelte Künstler enorm. So wird Kunst nicht in erster Linie für einen hart umkämpften Platz auf dem Markt produziert, sondern um essenzielle Dinge zum Ausdruck zu bringen.
In Ton gefasste Figuren mit spitzen kleinen Zähnen, stachelige Meeresmonster, Kultgegenstände mit unzähligen Verzierungen: Diese eindringlichen Arbeiten stammen von Shinichi Sawada. Der Japaner leidet unter Autismus, und in der psychatrischen Klinik begann er, eine Vielzahl dieser Tonfiguren zu fertigen. Auch der 1989 verstorbene Brasilianer Arthur Bispo do Rosário erhält in Gionis Schau einen angemessenen Platz für sein komplexes Universum aus Stoffen, Piratenschiffen und Karussells, das er in einer psychiatrischen Klinik schuf.
Eine Sonderstellung nimmt der Amerikaner Robert Crumb ein: Als Ikone des Anti-Establishments schuf er psychedelische Poster und Underground-Comics. Vier Jahre, bis 2009, hat der jetzt in Frankreich lebende Künstler an seiner Version der Bibel (1. Buch Mose) gearbeitet. Diese Genesis gilt für Juden als erstes Buch ihrer Heiligen Schrift und ist für Christen das erste Buch des Alten Testaments. Neben den Zeichnungen, wurden auch die Bildtexte aus mehreren Bibelfassungen nach dem Verständnis Crumbs adaptiert. Im Übrigen war Crumbs Dad, ein Ex-Marine, schwer gewalttätig und seine Mutter häufig in psychiatrischer Behandlung. Das mag zweifelsohne großen Einfluss ausgeübt haben.
In Gionis enzyklopädischer Wunderkammer steht der Mensch im Mittelpunkt – und der soll den Blick erweitern, der Mensch darf staunen und herumstöbern. Um zu entdecken. Die schier unendliche Vielfalt der Kunst und sich selbst.
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