Bene-Diktum: Getanzte Freude

John Neumeiers Choreografie des Weihnachtsoratoriums – ein theologischer Blick

Unter dem Kreuz … (Bild: Hol­ger Badekow)

Es gibt in Ham­burg eine tief ver­ankerte kirchen­musikalis­che Tra­di­tion, sich in der Advents- und Wei­h­nacht­szeit von der musikalis­chen Verkündi­gung der Wei­h­nachts­botschaft durch Johann Sebas­t­ian Bachs Ora­to­ri­um berühren zu lassen.

Wenn jet­zt John Neumeier seine Chore­ografie zu Bachs gesamtem Wei­h­nacht­so­ra­to­ri­um vor­legt, so will er damit nach eigen­er Aus­sage nicht in Konkur­renz treten zu den zahlre­ichen Auf­führun­gen des Ora­to­ri­ums in Ham­burg­er Kirchen.

Auch sei sein Bal­let “kein religiös­es Unter­fan­gen oder ein Ersatz­gottes­di­enst”. Er wolle er keinen sakralen Tanz schaf­fen, son­dern the­atrale Bewe­gun­gen auf die Bal­let­tbühne brin­gen, die der inspiri­erten Musik Bachs entsprin­gen.

Damit nimmt er impliz­it eine zeit­genös­sis­che Kri­tik an Bachs Kirchen­musik kon­struk­tiv auf, die davon sprach, dass die Musik Bachs “oft so weltlich und lustig klinge, dass sie bess­er auf einen Tanz­bo­den (!) oder in eine Oper” gehöre. Es ist weniger die Heils­geschichte als die Men­schengeschichte des Evan­geli­ums, die Neumeier bei sein­er Chore­ografie inter­essiert.

So heißen Maria und Joseph in sein­er Per­so­n­en­liste auch nur die Mut­ter (Anna Laud­ere) und ihr Mann (Edwin Rezarov). Es ist die Fleis­chw­er­dung des Wortes, des Wortes, das nach dem Pro­log des Johan­ne­se­van­geli­ums “unter uns wohnt”, in Gestalt des Tanzes, des Tanzes als ein­er Urform men­schlich­er Bewe­gung, die durch­pulst wird von einem inneren Antrieb des Über­sich­hin­aus­ge­hens, der Ekstase.

Nach­dem er 2007 bere­its in Wien die Kan­tat­en 1–3 chore­ografiert hat­te, hat er jet­zt die Kan­tat­en 4–6 tänz­erisch umge­set­zt und bei­de Teile zusam­men fünf Mal an der Ham­bur­gis­chen Staat­sop­er aufge­führt.

Zum Ein­gangschor, der eben­so wie der Ein­gangschor der 3. Kan­tate bekan­ntlich ein­er Huldigungskan­tate zum 34. Geburt­stag der säch­sis­chen Kur­fürstin Maria Josepha entstammt, stürmt das Corps de Bal­lett wie los­ge­lassen aus den Kulis­sen, springt sozusagen tänz­erisch vor Freude kreis­chend jubel­nd in die Höhe.

Gesteigert wird diese furiose Aufhe­bung der Schw­erkraft noch ein­mal zu dem Chor “Ehre sei dir Gott gesun­gen” mit seinen Stac­ca­to-Noten und vor­wärt­streiben­den Rhyth­men, zu denen das Tänz­er-Kollek­tiv der­art fan­tastis­che Lauf- und Sprung­fol­gen tanzt, dass es einen kaum auf dem Sitz hält.

Hat man sich an gewisse manieris­tisch ver­schachtelte Hebun­gen und leicht groteske Hand­be­we­gun­gen gewöh­nt, so wird sowohl der dri­ve der Musik in den Ein­gangschören wie die Beruhi­gung in den Pas de deux  der betra­ch­t­en­den Arien und Chorälen zu ein­er tänz­erisch-sinnlichen Verkör­pe­rung der Musik, die zunehmend ihr eigenes Recht gewin­nt.

So, wie Bachs Musik mit ihrer dif­feren­zierten Affek­ten­darstel­lung sowohl einem weltlichen Herrsch­er huldigen, als dem arm gebore­nen Hei­land der Welt in Lob und Demut sich näh­ern kann, so kann sie auch den Tanz umfassen, der diesen Lobpreis der Inkar­na­tion Gottes in einem Kind auf seine Weise kör­per­lich auszu­drück­en ver­sucht.

Bevor die Musik (Leitung: Alessan­dro de Marchi) mit dem Ein­gangschor (Chor­leitung: Eber­hard Friedrich) “Jauchzet frohlock­et” ein­set­zt, sehen wir auf der leeren Bühne (Fer­di­nand Wöger­bauer) einen  Mann (Lloyd Rig­gins) in abgeris­sener Klei­dung mit einem kleinen Wei­h­nachts­baum, den er gegen eine ihn bedrän­gende Menge vertei­digt.

Er zün­det den Stern an und schlägt sein Lager vor der Tanzbühne über dem Orch­ester­gar­ben auf, wo sich später auch die Mut­ter und ihr Mann nieder­lassen. Dieser Unbe­hauste  soll nach Neumeier sowohl  die kindlichen Wei­h­nachts­ge­füh­le, an denen er fes­thält, wie den Außen­seit­er – fast eine Chris­tus­fig­ur – verkör­pern.

Ein­mal spielt er trau­rig im Hin­ter­grund auf der  Mund­har­moni­ka, eine Melodie, die an die aus “Spiel mir das Lied vom Tod” erin­nert. Im Laufe der Auf­führung nimmt er mehr und mehr an dem Geschehen Anteil und wird schließlich ein­er, der step­pend in der Wei­h­nachts­freude der anderen Tänz­er  mit­macht.

In den ersten vier Kan­tat­en ver­sucht Neumeier nicht das bib­lis­che Geschehen tänz­erisch zu illus­tri­eren, also mit Bal­lettszenen eine Bebilderung der Musik Bachs zu erre­ichen. Es ist vielmehr so, dass die Musik Bachs eine  eigen­ständi­ge  tänz­erische Bewe­gung aus­löst, die sich par­al­lel zur Musik entwick­elt, aber zum Teil auch in Span­nung zu ihr ver­hält.

Mit ein­er  gold­far­be­nen Tafel wird die Sphäre des Him­mels angedeutet. Etwas anders wird das in Kan­tat­en 5 und 6, wo die drei Weisen aus dem Mor­gen­land  mit bloßem Oberkör­p­er und in bun­ten Pluder­ho­sen  auftreten, der böse König Herodes (Dario Fran­coni) im schwarzen Habit und mit Tan­goschrit­ten.

Neumeier hat dur­chaus eigen­ständig the­ol­o­gisch nachgedacht über das, was er von seinen Ensem­ble tanzen lässt. Für ihn ist die Assozi­a­tion von Krippe und Kreuz wichtig.

In der 4. Kan­tate, die von der Beschnei­dung Christi erzählt, deutet Neumeier die Beschnei­dung im Kon­text der Opfer­ung Christi für unsere Sün­den. Zwei große Holzbalken hän­gen über dem Geschehen auf der Bühne. Das weiße Hemd, das Maria wie eine Windel herumge­tra­gen hat, erhält eine rote Blut­spur.

Im Gespräch meint Neumeier, der wohl einen katholis­chen Hin­ter­grund hat, dass hier die Ein­set­zungsworte des Abendmahls anklin­gen. Nun ist aber die Beschnei­dung, an jedem jüdis­chen neuge­bore­nen Jun­gen vol­l­zo­gen, zuerst und vor allem Zeichen der Zuge­hörigkeit zum Bund Israels mit Gott, nicht Voraus­deu­tung auf das Opfer Jesu, das diesen Bund mit schreck­lichen Fol­gen für die Juden in Frage stellte.

Bei Lukas dominiert zudem die Namensge­bung (als Evan­ge­list wenig aus­sagekräftig: Christoph Genz), die dann im Rez­i­ta­tiv “Immanuel o süßes Wort” aufgenom­men wird. Im fol­gen­den Arioso wird dann zwar auf Jesu Kreuzestod hingewiesen “der du dich für mich gegeben an des bit­tern Kreuzes Stamm”, um dann aber im näch­sten Rez­i­ta­tiv und in der bewe­gen­den Echoarie (schön gesun­gen von Melis­sa Petit und Kat­ja Pieweck) als Halt im Ster­ben gedeutet zu wer­den – der Name Jesu vertreibt des Todes Furcht.

Das “Ja” des Echos, das Neumeier kühn als  Rück­blende des “Ja” Marias  zu den Worten des Engels im 2. Teil deutet, ist aber gen­uin­er Aus­druck lutherisch­er The­olo­gie, die den eige­nen Tod im gläu­bi­gen Anblick des Ster­bens Jesu erträgt.

Insofern erliegt dann auch der Tanz zu dieser Arie – im Hin­ter­grund tanzt ein zweites Paar hin­ter ein­er Milch­glaswand gewis­ser­maßen wie im Schat­ten­riss das nach, was vorne auf der Bühne getanzt wird – dem “Irrtum” des Chore­o­graphen, der eigene Tod bleibt aus­ge­blendet.

Jedoch: Die getanzte Frem­dausle­gung des Wei­h­nacht­so­ra­to­ri­ums erschließt ger­ade dem, der es oft gehört und die Choräle mit­ge­sun­gen hat, die meist verkan­nte kör­per­liche Dimen­sion des Heils­geschehens. Gott wird Men­sch, wird Aus­druck und Affekt in der Musik, wird sich freuen­der und lei­den­der Kör­p­er im Tanz.

Religiöse Inbrun­st, die an Him­melfahrt und Engelflug glaubt, kann sich an der par­tiellen Aufhe­bung der Schw­erkraft freuen, wie sie auf die Deck­en barock­er Kirchen gemalt ist. Hier wird sie getanzt Ereig­nis.

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