Frühmorgens im Stadtpark. Auf der Straße, die den Park durchschneidet, kommen die Autos des morgendlichen Berufsverkehrs nur schrittweise voran. Ein paar Jogger, vom Planetarium kommend, überqueren den Zebrastreifen. Ich folge ihnen und komme in den ruhigeren Teil des Parks. Das Autogeräusch wird leiser. Morgenlicht liegt hell auf der riesigen grünen Wiese. Cat Stevens Morgenlied fällt mir ein: Morning has broken like the first morning, blackbird has spoken like the first bird. Der Text stammt von der englischen Schriftstellerin Eleanor Farjeon.
Es ist schön, am Morgen in den Park zu treten, wenn alles noch still und frisch ist. Die Dichterin dieses Lieds aber erlebt mehr als nur den morgendlichen Garten. Ihr wird der Garten durchscheinend für den ersten Garten, den Garten Eden. Sie entdeckt die Spuren Gottes im Gartenpark. Mit dem Licht und im Lied wird ihr erneut bewusst: Die Welt entspringt dem Wort Gottes. So schildert es jedenfalls die biblische Schöpfungsgeschichte. “Und Gott sprach, es werde Licht. Und es ward Licht.“
Der Elektrowagen der Parkreinigung schnurrt vorbei, ein paar Kinder sind auf dem Fahrrad unterwegs zur Heinrich Hertz-Schule. Krähen fliegen krächzend auf. Ein erster Sonnenstrahl auf einem Rhododendron-Busch. „Sanft fallen Tropfen sonnendurchleuchtet. So lag auf erstem Gras erster Tau. Dank für die Spuren Gottes im Garten, grünende Frische, vollkommenes Blau.“
Die Beschreibung des Garten Edens am Anfang der Bibel lässt das Bild eines wonnevollen Paradieses vor uns entstehen, das sich ähnlich auch in anderen Kulturen findet. Was den Garten Eden wie alle Paradiese eigentlich ausmacht, ist zweierlei – die schöne Fülle an Grün, Bäume, Pflanzen, Vegetation und viel Wasser, Inbegriff von Lebenskraft und Freude, gerade im Orient. Zum andern die Abgrenzung dieses Garten-Inneren gegenüber einer andersartigen, manchmal feindlichen Außenwelt.
Das Wort Paradies trägt diese Vorstellung bereits im Namen. Es stammt aus dem Persischen und bedeutet umhegter umzäunter Garten. Und auch im deutschen Wort Garten steckt das Eingegrenzte. Ohne Trennung von der nicht-paradiesischen Außenwelt ist also das Paradies nicht zu haben. Hier gelten aber auch bestimmte Regeln. Zwei Bäume stehen in seiner Mitte. Vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen soll der Mensch nicht essen, doch Eva und Adam verstoßen dagegen.
„Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr, auch davon, und er aß.“
Wir kennen die Folgen. Gott entdeckt das Vergehen des ersten Menschenpaares, als er abends im Garten sich ergeht und sagt in einem Selbstentschluss, unter dem wir alle zu leiden haben, bis heute:
“Sieh, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche vom Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim, mit dem flammendem blitzenden Schwert.”
Wir sind vertrieben aus dem Garten Eden, und wir haben Sehnsucht nach dem Paradies. Es sind Erzählungen, die diese Sehnsucht lebendig halten. Das Paradies ist aber nicht nur ein Phantasieprodukt, nicht nur Mythos. Die Archäologie hat durch ihre Grabungen gezeigt, dass es diese Gärten im alten Orient wirklich gab, Tempel und Palastgärten – Gärten mit dem Strom, der sich dann in vier Hauptwasser teilt. Sie gliedern den Garten in vier Teile. Nicht umsonst nannten sich also die frühbabylonischen Könige „Herr der vier Quartiere“.
Die Schöpfungsgeschichte redet von Paradies und Garten, nicht vom Park. Dies Wort stammt von dem Französischen parc und meint eine Grünanlage, die im größeren Maßstab die Natur idealisierend darstellt, Natur zum Schauen, nicht zum Betreten. Der Kölner Gartenbaudirektor Encke stellte Anfang des 20. Jahrhunderts folgende Überlegung an.
„Unsere Parks, Volksgärten und Plätze im allgemeinen müssen noch viel mehr für den Gebrauch als für das Beschauen eingerichtet werden. Es ist ein Unding, den Strom der Erholung suchenden Besucher auf schmalen Wegen durch weite grüne Flächen zu führen, so dass sie sehnsüchtig auf den saftigen Rasen und die schattigen Haine schauen, aber den aufgewirbelten Staub schlucken müssen.“
Encke kombinierte in dem von ihm angelegten Kölner Vorgebirgspark eine Volkswiese zum Spielen mit drei Sondergärten für beschauliches Gehen und Verweilen. So konnten die auf der Wiese Spielenden ungestört um Rabatte und Beete ihren Neigungen nachgehen.
Im Spielen zum Mensch werden, so findet man das in Schillers “Ästhetischer Erziehung des Menschen”. Nach diesem Prinzip ist auch der Volkspark, der Park meiner Kindheit Anfang der 50er Jahre, gestaltet. Strukturiert durch ein weitläufiges Wegenetz, eingebettet in einen großflächigen Wald mit Hügeln und Schluchten, liegt in seinem Zentrum die große Spielwiese.
Etwa einen knappen Kilometer von unserem Reihenhaus in der Steenkamp-Gartensiedlung entfernt, befand sich der Eingang zum Volkspark. Ich erinnere mich noch gut an die Aufregung, wenn wir zum Volkspark gingen und sich der Blick auf die große, von Bäumen umstandene Wiese öffnete.
Hier konnten wir nach Herzenslust Fußball oder Völkerball spielen, was uns in der Siedlung wegen der um ihre Vorgärten besorgten Nachbarn zumeist verwehrt war. Hier beobachteten wir später Liebespaare, die sich auf ausgebreiteten Decken räkelten.Und wir schlugen uns in die Büsche, um Trapper und Indianer zu spielen, hier banden wir im Winter die Schlitten aneinander, sausten durch die Kurve, stürzten auch schon mal und holten uns blutige Nasen.
Als Jüngling lernte ich dann den Dahliengarten schätzen, mit 40.000 Pflanzen inzwischen eine touristische Attraktion. Dort las ich nach einer ersten schmerzlichen Liebesenttäuschung Benn und Rilke-Gedichte.
[…]
Noch einmal das Ersehnte
den Rausch, der Rosen Du
Der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu.
Noch einmal ein Vermuten
wo längst Gewissheit wacht
Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht. […]
Damals wusste ich noch nichts von den berühmten Gemälden mit dem Sinnspruch, dass auch in Arkadien, also in der sprichwörtlich schönsten Landschaft Griechenlands, der Tod gegenwärtig ist. „Et in Arcadia ego“ steht auf dem Grabmal, das auf den Gemälden von Guercino und Poussin eine Gruppe von Hirten betroffen betrachtet. “Selbst in Arkadien habe ich, der Tod, Gewalt”.
Dies Memento mori, Gedenken des Todes, war im Altonaer Volkspark unmittelbar nicht zu finden. Aber nebenan. Denn der Altonaer Hauptfriedhof schloss sich direkt an den Park an. Hier war ich 15jähriger an einem kalten Januartag dem Sarg meiner früh verstorbenen Mutter gefolgt. Hier saß ich oft auf dem Bänkchen neben ihrem Grabstein, lange Zeit untröstlich.
Aber allmählich wandelte sich die Trauer in ein elegisches Empfinden, in ein eher kontemplatives Versunkensein in den Gedanken der Sterblichkeit. Die herbstliche Pracht der Dahlien kurz vor dem Verblühen, die toten Eltern, das Vergehen einer Liebe. Und die im Gedicht eingefangene Stimmung dieses Übergangs. Der Park mit seiner Blumenpracht, volksnah und gratis, machte es mir Empfindsamen möglich, auf angenehme Weise traurig zu sein und sich doch des Lebens zu freuen. Vom Fußballspiel des 10jährigen zum melancholischen Sprachspiel des Jünglings.
Und jetzt wird noch einmal deutlich, dass wir doch aus dem Paradies vertrieben sind, denn wir sind sterblich. Das Erschrecken darüber verlässt uns, wenn wir unserer Vergänglichkeit bewusst sind, auch in schönster Landschaft nicht. Aber der Mensch weiß sich zu helfen. Er träumt vom himmlischen Paradies, wo kein es kein Leid und keine Tränen mehr gibt.
Und er errichtet Parks zu seinem Vergnügen, die ihn an das urzeitliche Paradies erinnern: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.
Ein schöner Samstagnachmittag im Sommer auf der großen Wiese im Stadtpark. Hunderte von Menschen lagern und liegen, spielen und ergehen sich auf der riesigen Grünfläche, die fast zwei Kilometer lang und 300 Meter breit ist. Da spielt eine Gruppe von 10 Männern Fußball. Zwei Tore haben sie mit Stöcken abgesteckt.Gelegentlich wird es laut wenn sie sich anfeuern oder kritisieren, spiel doch ab, du Heini. Ein verschossener Ball rollt dahin, wo sich eine Kindergeburtstagsgesellschaft ausgebreitet hat. Ein Tisch mit Kerzen und Geburtstagskuchen.
Es wird geredet, gelacht. Manch ein Fremder wird zum Grillen eingeladen. Setz dich hin, greif zu. Alte Gastfreundschaft lebt wieder auf. Ein babylonisches Stimmengewirr liegt über der großen Wiese.
Von der Freilichtbühne her hört man die Geräusche des Soundchecks. Bob Dylan, der berühmte Musiker, soll heute abend dort auftreten.
In Abwandlung der biblischen Speisungswunder könnte man sagen, dass im Stadtpark ein wundersames Vergnügen der Zehntausend sich ereignet. Eine wundersame Vermehrung von Spielfreude und Abwechslung, Unterhaltung und Zeitvertreib, sonntäglichem Vergnügen und Geselligkeit ohne großen Aufwand. Was die Menschen so glücklich macht, ist der gute Geist des Parks, das schöne Wetter, der freie Samstag.
„Und Gott der Herr, pflanzte einen Garten in Eden gen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte, dass er ihn bebaute und bewahre.“ Der Mensch wird Gärtner.
Es wird Abend im Stadtpark. Die Sonne geht unter. Ein schönes Abendrot überzieht den westlichen Himmel. Langsam wird es dunkler. Die Familien mit den kleinen Kindern brechen auf, die Älteren bleiben noch ein bisschen, schauen versunken dem Sonnenuntergang zu. Immer noch steigen von den Grillfeuern Rauchschwaden auf.
In einem geselligen Kreis wird gesungen. „Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsere weit und breit, wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit.“ Und das schwermütige „Abendstille überall“. Ein paar Jugendliche stehend feixend dabei. Volkslieder, wie ätzend. „Abendstille überall, nur am Bach die Nachtigall, singt ihre Weise klagend und leise durch das Tal“
In der Gastwirtschaft am Schwimmbad haben sich hunderte junger Leute zum,wie es heißt, „schönsten Sonnenuntergang in Hamburg“ versammelt. Das Bier fließt in Strömen. Gruppen in angeregten Gesprächen. Erste Dylan-Klänge, die von der Freilichtbühne herüberwehen, lassen aufhorchen. The times they are a changing. Wann haben wir das zum ersten Mal gehört? Und wo, mit wem?
Es ist Nacht geworden. Richtig dunkel. Ein Wind ist aufgekommen und lässt die Bäume rauschen. Das Konzert ist schon seit einer halben Stunde zu Ende. Die letzten Besucher eilen zur U‑Bahn-Station oder zum Parkplatz. Nur vereinzelt sieht man noch engumschlungene Paare. Unter der Brücke am See hat ein Obdachloser sich ein Lager bereitet. Eine Nachtigall beginnt zu schlagen.
Ein nächtlicher Park ist auch unheimlich, erinnert an das Ausgesetztsein des Menschen in unwirtlicher Natur. Man hört entfernt kreischende Stimmen. Was spielt sich dort ab? Überfälle gibt es natürlich auch in Stadtparks, Gewalt und Vergewaltigungen. Hinter der friedlichen Szene ist immer auch das Grauen gegenwärtig.
Doch fort mit diesen Gedanken. Diese Nacht ist zauberhaft und friedlich. Wären wir jetzt mit Shakespeare im Park bei Athen, vielleicht würde die Elfenkönigin Titania mit ihren Geistern und Elfen auftreten. Und wirklich – tanzen da nicht einige von ihnen auf der von Nebel bedeckten Wiese? Hören wir nicht ihre fein gesponnene Musik? Und steigen nicht Gebete zu Gott und seinen Engeln auf, dass sie uns beschützen mögen in dieser Nacht?
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