Brauchtum und Überlieferung heimischer Sitten und Gebräuche vermutet der zeitgenössische Metropolist in der Regel bei niedersächsischen Schützenfesten und beim bayerischen Bauerntheater; der Begriff der “Folklore” ist ihm so fremd wie ein Gamsbart. Auch im Unterhaltungsroman, branchenintern “Commercial Fiction” genannt, glaubt man sich weit entfernt von der Narration des Alltags, einer konservierenden Aufbewahrung von Sitten und Gebräuchen.
Dabei ist die an starre Erzählmuster gewöhnte literarische Gattung, deren Hauptinteresse in der Übertragung nachvollziehbarer Lebenshindernisse in eine fiktionale Umgebung besteht, stets näher am sogenannten Zeitgeist als gemeinhin denken mag. Für gewöhnlich sind die Protagonistinnen – Figuren wie Zielgruppe sind vornehmlich weiblich – patente Spiegelbilder ihrer Adressatinnen.
Sie plagen die Sorgen ihrer frauenmagazingestählten Leserschaft, von der Cellulite bis zur Jojo-Diät, immer getrieben von der Angst, den “Richtigen” finden zu müssen. Auch die Heldin in Ildiko von Kürthys “Sternschanze”, einem Buch, dessen grässliches Artwork – violette Sternchen allüberall, selbst im Satzspiegel gelegentlich eingestreut – seinesgleichen sucht, ist so ein Exemplar aus dem Identifikationsschrank.
Sie heisst Nicola, lässt sich “Nikki” nennen, das gibt dem ganzen einen frecheren Touch, ist so alt wie die Leserinnen, natürlich relativ unsortiert wie wir alle mal, und passt irgendwie nicht in die sie umgebende Gesellschaft.
Das macht es einfach, sie als erzählende Partnerin ernst zu nehmen. Natürlich hat sie, wie alle Frauen in der “Brigitte” oder sonstwo, eine beste Freundin mit dem normalen und und unfrechen Namen Birgit, die schon da angekommen ist, wo man ankommen muss, mit Kindern, Küche und Liebhaber. Dabei ist sie in all ihrer Bürgerlichkeit vollkommen unprätentiös, und, wichtig, trägt das Herz auf dem rechten Fleck.
Ferner gibt es die dicklich-schrille Tucke mit Migrationshintergrund (“Erdal”), die die Heldin aus der vermeintlichen Gosse aufliest und eine Menge amoureuser Capricen aller beteiligten Figuren und dazu noch eine postadoleszente Elternabarbeitung.
Diese Mechanismen sind notwendig für die Ausweitung des Identifikationsrahmens und zur Zielorientierung. Das Personal bewegt sich zielsicher durch all die Fährnisse des Lebens, die einem so widerfahren können, Trennung, Milieuwechsel, Versöhnung. Es verlässt sie bei aller Widrigkeit ihrer “Education Sentimentale” nie die geradezu manische Orientierung nach dem persönlichen Glück. Sie sind Geschwister Candides in allertiefster Überzeugung, die “beste aller möglichen Welten” ist hier am Ende immer Realität. Und wie bei Voltaires Helden endet die Geschichte dann doch am heimischen Herd.
Solcherlei Romane gibt es viele in der Welt, sie werden gelesen und mit schöner Regelmässigkeit von allerlei ernsthaften Geistern mit mokantem Lächeln bedacht. Dazu besteht in Wahrheit kein Grund, denn das Wissen um die realen Zustände im Lande, vulgo “Zeitgeist”, bildet sich eher in solchen populären Traumgeschichten ab als in den Denkstuben der Trendforscher. Es sind wichtige Marker gesellschaftlicher Situation, denn die bedingungslose Marktorientierung eines solchen Werkes und das auf den größtmöglichen Absatz zielende Konzept ist repräsentativer als jede Umfrage.
Ildiko von Kürthy gehört zu den erfolgreichsten Vertreterinnen ihres Genres, sechs Millionen verkaufter Bücher sprechen für sich. Der Plot ist sauber gelegt, die Handwerkskunst ist groß, die Figuren sind nicht ganz so eindimensional wie bei anderen Vertreterinnen ihrer Art, und ein mitunter sehr amüsanter Hang zu opulentem Kitsch macht die Sache mundfein:
“Seine Zigarette liegt noch glimmend auf dem Pflaster. Er hat sich nicht einmal die Zeit genommen, sie auszutreten.
Ich hebe sie auf und nehme einen Zug.
Wie ein letzer Kuss, denke ich. …”
Eine Szene wie diese zu schreiben, muss man sich erst einmal trauen. Ildiko von Kürthy kann das, und sie beherrscht ihr Genre perfekt. Viel interessanter als das ist allerdings das Milieu, in das sie ihre Heldin führt. Denn der Schauplatz des Zigarettendramas ist die Hamburger Sternschanze, direkt am Schulterblatt, bekannt aus Film, Funk und Fernsehen. Nikki, Ehefrau eines Anwaltes, der plötzlich Karriere in der Hamburger Gesellschaft macht – das schon erwähnte wesensfremde Milieu –, hat durch eine Ungeschicklichkeit ihre halbherzige Affäre mit einem Jugendfreund aufgedeckt und wird “verstoßen” von Mann und Elbchausseesociety.
Durch allerlei Zufälle gewinnt sie neue Freunde, die alle das besagte Herz auf dem ebenso besagten rechten Fleck tragen und ein wenig gesellschaftlich randständig und schrill sind. Normale Leute eben. Sie darf in einer Wohnung in der “Schanze” wohnen, und in der authentischen Szenekneipe “Saal II” ist sie so schnell zur Eingeborenen mutiert, dass sie, leicht zweifelnd zwar ob ihres Vorlebens, irgendwie dazugehört. Der Wodka kommt von allein über den Tresen wenn es einem schlecht geht und mit der Bedienung ist man sowieso per “du”. Hier ist man Mensch, und es ist viel wärmer und netter als in den coolen Villen, in denen sich all die operierten Nasen tummeln.
So ganz anders ist “die Schanze” dann doch nicht, schließlich gibt es hier inzwischen die gleichen Helikopter-Eltern mit den gleichen Kinderwagen und den gleichen SUVs wie im Stadtteil der saturierten Bürger, in Hamburg-Eppendorf. An der Schanzenpiazza tummelt sich dann das junge Volk mit Bärten, Brillen, Beanies und macht irgendwas mit PR oder Werbung oder so.
Das ist in der Tat die soziale Realität in der ach so verruchten Gegend und auch die krawallgeladende 1. Mai-Demo, die Nikki vom Fenster beoachten darf, ist auch nicht näher als die im Fernsehen, und mindestens genauso gruselig wie eine Fischvergiftung mit verdorbenem Hummer, die auch im Buch vorkommen darf. Daran ändert auch die Präsenz der “Roten Flora” auf der anderen Seite nichts, gerne als “linksautonomes Kulturzentrum” apostrophiert, obwohl keiner mehr so genau weiß, wo dort die eigentliche Kulturleistung ist, die tatsächlich einmal dort angedacht war und auch in kleinen Schritten praktiziert wurde.
Deren Bewohner sehen sich auch heute noch gerne als letzte Bastion gegen den “Scheiß Staat”, ungeachtet der schon längst erfolgten Verbürgerlichung der sie umgebenden Straßen. Und mit Sicherheit bekommen sie nicht mit, dass Ildiko von Kürthy mit ihrem Buch der Legende von der antibürgerlichen Autonomie dieser Gegend den letzten Todesstoß versetzt hat – ist doch ihr auf eine maximal breite Zielgruppe ausgerichtetes Werk genau an der Stelle angekommen, wo sie nicht sein sollte: An einem kathartischen Ort für den wohlgeordneten Nervenkitzel einer grundbürgerlichen Existenz.
Anders gesagt: Wenn die “Commercial Fiction” ihre Schauplätze dort ansiedeln kann, ist der Wertewandel bereits vollzogen. Erstaunlicherweise ist “Sternschanze” so zu einer Art Bestandsaufnahme politischer und gesellschaftlicher Realität geworden und erklärt das Milieu so komplett zur Folklore, zur Darstellung befremdlicher Sitten und Gebräuche, mit denen man sich gerne umgibt, weil sie die eigene Normalität so sehr schmückt.
Es kommt so, wie es kommen muss – die patente Heldin gewinnt ihren Helden zurück, der dem Elbchausseekapitalismus ebenfalls abschwört, kommt mit sich und der Welt ins Reine und lebt fortan in der besten aller Welten. Die Zeit der Zweifel ist vorbei, denn wie sagt der Optimist Candide: “… mais il faut cultiver notre jardin” – aber unser Garten muss bestellt werden.
Ildiko von Kürthy:
Sternschanze
Rowohlt Verlag
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