Im Schauspielhaus ist die Hölle los. Das Publikum ist heute anders, hektischer, aufgeregter, kommunikativer. Alle tragen Schlüsselbänder um den Hals, an denen Hefte im Postkartenformat baumeln. Auf meinem steht “Turkmenistan”, auf der Rückseite sind gleich drei Plätze im Rang angegeben. Ich sitze dort nicht allein, sondern mit meinen beiden Mit-Delegierten. Heute Abend komme ich aus Turkmenistan und entscheide als Delegierte über die Emissionsziele bis 2020 und 2050. 195 Länder und die Europäische Union sind an diesem fiktiven Klimagipfel beteiligt, und das Publikum des Schauspielhauses dementsprechend in 196 Dreiergruppen eingeteilt. Und los geht’s.
Am 1.12.14 beginnt die diesjährige UN-Klimakonferenz in Lima und wird zwölf Tage dauern. Das Publikum im Schauspielhaus bekommt eine eingedampfte Version, in der zwölf Tage auf ein paar Stunden schrumpfen. Und das bedeutet richtig Arbeit. Spieldauer: “3 Stunden mit kurzen Pausen” steht im Programmheft, und wir werden natürlich überziehen. Wer hier unterwegs ist mit Blick auf eine Nation, die er vertritt, versteht sehr schnell, weshalb. Zu viele Perspektiven auf einen gemeinsamen Weg machen ihn fast unbezwingbar. Nicht umsonst wurde die UN-Klimakonferenz in Durban 2011 um zwei Tage verlängert, weil bis zum Schluss Uneinigkeit über das Abschlussprotokoll und den neuen Zeitplan herrschte. Was heute Abend in diesen drei Stunden passieren wird, ist ein Perspektivwechsel für alle Beteiligten.
Andersherum betrachtet
Eine neue Perspektive auf die Realität – so könnte man den roten Faden der ungewöhnlichen Raum-Inszenierungen des Regie-Autoren-Trios Rimini Protokoll vielleicht nennen. Das erste Mal begegnete ich einer Stadtrauminszenierung von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel 2001 im Rahmen des theatralen Spaziergangs “Kanal Kirchner” während des Spielart-Festivals in München. Mit einem Walkman bewaffnet lief ich, den “Kanal Kirchner” im Ohr, allein durch Münchens Osten und durfte sehen, wie sich meine Heimatstadt in ein Zentrum der Verschwörung verwandelte. In den Tiefgaragengängen des Gasteigs rannte ich um mein Leben, denn die Luft wurde knapp.
Kirchner, ein Verfolgter, der seine Gedanken auf einer Kassette festhält, damit ihm später einer glaubt. Ich, allein, Zeugin der fiktionalen Realität eines anderen. Theater aufgelöst, das Kollektiv Publikum gibt es nicht, nur subjektive Wahrnehmung, eine Welt aus Gedanken und der gehetzten Stimme auf dem Tonband. Als Studentin gab ich damals die Walkmen an Besucher aus, die sich allein auf den Weg machten – und teilweise so aufgewühlt zurückkamen, dass ich sie mit einem Stück Schokolade in die Realität zurückholen musste. Ganz gleich, wie die Reaktionen waren, von “Echt cool” bis “Also in der Tiefgarage hatte ich Atemnot” – der Realität entrückt hatte es alle. Wer einen Eindruck von damals bekommen möchte, kann noch heute online in den “Kanal Kirchner” hineinhören, und zwar hier.
Worum es geht
Hier bei der Welt-Klimakonferenz sieht das Ganze geringfügig anders aus. Der Raum hat sich geweitet, der Aufwand vergrößert, doch das Ergebnis bleibt dasselbe: ein Perspektivwechsel der besonderen Art. Durch die Eröffnung der Konferenz führt Physiker Dr. Florian Hauser, der uns zunächst auf einen Parforceritt durch die Geschichte der UN-Klimakonferenz mitnimmt und Begrifflichkeiten klärt. Wir lernen: COP steht für Conference Of The Parties und wird seit der ersten Konferenz in Berlin 1995 durchnummeriert. In Lima werden die Vertragsstaaten der United Nations Climate Change Conference (UNCCC) dieses Jahr also zur COP 20 zusammenkommen.
Auf dem Podium stellen sich die Berater des Abends vor: Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen des Klimaschutzes. Von der Ozeanografin über den Experten zu Gletscher und Arktis bis hin zu Spezialisten zu den Themen Dürre, Climate Engineering, Wolken und Klima – die Besetzung ist hochkarätig. Diese Menschen auf dem Podium – Praktiker und Wissenschaftler – werden uns, die Delegierten aus dem Publikum, über den Abend hinweg beraten.
“Dieses Drama der Mammutdiplomatie zum Schutz der Erdatmosphäre ist in einzelne Akte, Szenen, Haupt- und Nebenschauplätze angelegt” steht in dem Heft, das ich um den Hals trage. “Während das Plenum im Saal um verbindliche Vereinbarungen ringt, sind Hintergrundgespräche und Arbeitsgruppen in separaten Räumen angesetzt, bei denen Sie erwartet werden.” Wir haben verstanden und verteilen uns nach der 20-minütigen Einführung zu den “Expertenbriefings”. Turkmenistan trifft im Marmorsaal mit den anderen Delegierten der Regionalgruppe Asien zusammen. Denn auch wenn in unserem Heft nützliche Informationen zu den teilnehmenden Ländern stehen (z. B. Fläche, Klima, Arbeitslosenquote, Strommix und CO2-Emissionen) erfahren wir hier, was die geopolitische Lage “unseres” Landes ausmacht.
Ohne Aussicht auf Besserung
Schnell wird uns klar: Als Non-Annex-1‑, also Entwicklungs- und Schwellenland, mit einer Arbeitslosenquote von 60 % hat der Klimawandel für uns einen vergleichsweise geringen Stellenwert. Um es anders auszudrücken: Er ist uns schlicht Wurst. Dürreperioden, ungeklärte Besitzansprüche, eine hohe Kriminalitätsrate und religiöser Fundamentalismus beuteln das Land. Unser Strommix besteht zu 100 % aus fossilen Quellen, und wir stehen mit 20,72 t Treibhausgasemissionen pro Kopf und Jahr auf Rang 14 der Welt. Wir haben keinen direkten Zugang zum Meer, dafür aber Erdöl- und Erdgasquellen, und wir versuchen, Russland und die USA damit mehr oder minder geschickt gegeneinander auszuspielen.
Knapp umreißt Dr. Satya Bhowink aus Bangladesch die Situation der einzelnen Länder in der Regionalgruppe Asien. Wenn man ihm so zuhört, wird einem bang. Im wahren Leben ist Bhowmik übrigens 2. Vorsitzender des „Entwicklungsforums Bangladesch“ und organisiert Seminare zu Entwicklungspolitik und Auswirkungen des Klimawandels auf sein Heimatland. Leider haben wir nicht viel Zeit für Fragen. Wir müssen weiter.
Im Saal diskutieren Rosemarie Benndorf und Klimaexperte Prof. Dr. Mojib Latif über mögliche Auswirkungen von einer Erderwärmung über 2 Grad Celsius. Rosemarie Benndorfs Ausführungen zur Formulierung eines einzigen Paragraphen des Klimaabkommens sind plastisch und zeigen die Komplexität eines solchen Abkommens. Etwa 50 Prozent des Satzes sind kursiv und mit Alternativformulierungen versehen. Benndorf war von 2000 bis 2011 als Mitglied des deutschen Verhandlungsteams auf den Vertragsstaatensitzungen des Klimarahmenabkommens. Diese Frau weiß, was es bedeutet, wenn einzelne Worte auf der Goldwaage liegen.
Ganz alltägliche Dramen
Was uns danach erwartet: Emissionshandels-Spezialist Michael Sahm, der die Grundzüge seines Fachgebietes eloquent und stark verknappt erläutert. Politikwissenschaftlerin Ana Soliz Landivar de Stange kann er davon nicht überzeugen. Als Bolivianerin darf sie einen beleidigten Abgang vom Podium hinlegen, denn kapitalistische Prinzipien lehne sie selbstverständlich ab. De Stange hat sichtlich Spaß bei der kleinen theatralischen Einlage, und trotzdem wird hier klar, dass bei einem Klima-Gipfel einvernehmlichen Einigungen nicht nur rationale Hindernisse im Weg stehen.
Performance-Charakter hat das “Szenario Dürre” auf der Hinterbühne. Auf Pritschen liegend und von einer Scheibe voller Scheinwerfer bestrahlt reisen wir auf der Drehbühne durch unterschiedlichste Hitzeszenarien der Vergangenheit und Zukunft bis 2075. Vom Jemen bis Usbekistan erleben wir katastrophale Vorstellungen von dem, was kommen kann. Dabei kann man schon ins Schwitzen kommen. Und auch wenn hier die globale Katastrophe im wahrsten Sinne spürbar wird, bringen uns die anschließenden bilateralen Gespräche mit dem Inselstaat Kiribati schier gar nichts. Die Delegation aus Kiribati hat gerade das Szenario “Meeresspiegelanstieg” erlebt und berichtet.
Es hat etwas durchaus Komisches, wenn sich zwei Parteien, die von dem Land, das sie gerade “vertreten”, keine Ahnung haben, im ersten Rang des Schauspielhauses vor der Garderobe gegenüber stehen. Ähnlich überfordert könnten sich womöglich Delegierte zweier Entwicklungsländer auf einer UN-Konferenz fühlen.
Strategie und Abgesang
Im Anschluss steht “Strategieberatung” auf unserer Agenda. In einem Reisebus fährt man uns zum Hamburger Kongresszentrum und auf kleinen Umwegen wieder zum Schauspielhaus zurück. Michael Sahm berät uns als Non-Annex-1-Länder dazu, wie man sich auf einer Klimakonferenz erfolgreich positionieren könnte. Schnell wird klar: So machtlos sind Entwicklungs- und Schwellenländer in diesem Kontext gar nicht. Beispiel: Ein Land, das Ölvorräte hat, die unter dem Regenwald liegen, erklärt sich dazu bereit, nicht abzuholzen, damit die Vorräte erschlossen werden können. Es leistet somit einen Beitrag zum Klimaschutz, schränkt sich aber in seiner wirtschaftlichen Entwicklung ein und könnte Kompensationszahlungen verlangen. Im echten Leben berät Sahm mit der “Forest Carbon Group” Unternehmen darin, wie sie ihre CO2-Emissionen reduzieren und sich durch Investitionen in Aufforstungs- und Waldschutzprojekte strategisch positionieren.
Im Saal des Schauspielhauses sollen jetzt eigentlich Beschlüsse bekanntgegeben werden. Die Länder haben abgestimmt, inwieweit sie Emissionen reduzieren werden. Leider macht die Technik auf dem Podium einen Strich durch die Rechnung. Doch bleibt der Abend nicht ergebnislos. Klar wird, dass die Demokratie in einem so vielschichtigen Prozess an Grenzen stößt. Ohne Sanktionsmöglichkeiten von UN-Seite wird auch gern mal ein Beschluss “vergessen”. Die nicht eingehaltenen Versprechen des Kyoto-Protokolls haben diese Schwächen längst aufgezeigt. Ist so eine Klimakonferenz am Ende also einfach nur Theater? Oder ist hier das Theater eine Klimakonferenz? Ganz gleich: Klimapolitik wird hier erlebbar, Scheitern inbegriffen. Die Performer und Experten des Abends füllen beim Applaus die gesamte Bühnenbreite, und das Schauspielhaus summt wie ein Bienenstock. Großes Theater, diese Konferenz.
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