Es ist an der Zeit, die Kategorien zu verrücken. Es ist an der Zeit, sich auseinanderzusetzen. Es ist an der Zeit, mit vielen lieb gewonnenen Traditionen zu brechen. Kent Nagano, noch frischer GMD in Hamburg, hat genau das getan. Er hat ein Programm für das Silvesterkonzert seiner Philharmonie erarbeitet, das sich jeder Kategorisierung widersetzt, dass sich auf die Welt und auf die Gegenwart bezieht, auf das Jetzt, wenn man so will, auf das Leben.
Traditionell wird bei solchen Anlässen gefeiert, so manches Mal der leichten Muse und dem Dreivierteltakt gefrönt und der Götterfunken beschworen, vor allem aber wird eines: verdrängt. Niemand wundert sich hier über die Weltabgewandtheit sogenannter “Klassischer Musik”, in einem Genre, in dem sich die Sehnsucht nach Wohlklang und die häufig absurde Debatte über Tempi und Robenlänge häufig auf das Allerschönste vereinen. Dass sich in diesem “klassischen” Soziotop Musiker mit anderen Bedeutungsebenen auseinandersetzen, das kommt fast nie vor – gerne wird dagegen auf die Regisseure von Opern geschimpft, die es wieder einmal geschafft haben, “das Werk” zu verhunzen. Doch es gibt ausgesprochen solitäre Ausnahmen.
Das Konzept des Silvesterkonzertes und der dafür verantwortlichen Macher steht für so eine Ausnahme. Kent Nagano hat sich Gedanken darübergemacht, in welcher Zeit und an welchem Ort er sich befindet und er hat versucht, dieses Zeitempfinden mit den Werken seines Programmes nachzuerzählen, im Grunde genommen ist das eine Provokation für die Bewahrer des Wohlklangs, wenngleich ein sanfte. Kopfstück dieses Konzertes ist eben nicht ein Pièce aus dem viel geliebten Kanon, sondern des deutschen Komponisten Bernd Alois Zimmermanns hochkomplexes theologisch-musikalisches Werk “Ekklesiastische Aktion für zwei Sprecher, Bass-Solo und Orchester” aus dem Jahr 1970. Ihm vorangestellt, gleichsam als Moment der Konzentration und des Innehaltens zu Beginn, sind die innigen Anfangssätze aus der Bachschen h‑Moll Messe: “Kyrie eleison” – “Herr, erbarme dich”. Nagano, so erklärt er in einer kurzen Ansprache zu Beginn, hatte sich mit seinen Musikern beraten, wie man das Vergangene abbilden und zugleich in ein neues Jahr blicken könne.
Es war kein leichtes Jahr, dieses 2015, mit vielen Verunsicherungen und Veränderungen für beinahe alle Teile der Gesellschaft. Dem trägt der erste Part des Programms Rechnung. Das Thema beider gespielten Werke kulminiert in der Erkenntnis der Unvollkommenheit des menschlichen Daseins, in der Rückbesinnung auf die Fehlbarkeit und Endlichkeit menschlichen Strebens – eine Erinnerung daran kann nur zeitgemäß sein, gleich ob konfessionell oder säkular verortet.
In einer säkularen und esoterisch geprägten Welt werden solche Themensetzungen gern mit Worten wie “eine große Meditation” oder ähnlich überschrieben, das trifft im Kleinen sicher auch zu, das außer-der-Welt-sein in Gedanken ist ein Aspekt dieser Konstellation. Zimmermanns “Aktion” ist genauer, expliziter, sie bezieht sich in ihren Lese- und Gesangsteilen zum einen auf alttestamentarische Texte aus dem Kohelet, dem Buch der “Prediger”, so die lutherische Übersetzung: “Ich wandte mich um und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne”. Gegen diese Verse wiederum montiert sind Auszüge aus Dostojewskis “Parabel vom Großinquisitor”, der Binnenerzählung aus den “Brüdern Karamasow”, letztlich ein Text über Autorität und Macht. Zimmermanns Kompositionstechnik ist vielfach von solchen Montagen bestimmt. So mischen sich zum Ende der “Aktion” Erzählstimmen, Gesangspartie und orchestrale Elemente bis hin zur Sprachlosigkeit, Ausweglosigkeit des Ausdrucks – “Weh dem, der allein ist!” heißt es da im Kohelet, ein Wort, das stehen bleibt – bis alles verstummt ist, in der Musik, in der Sprache.
Der Ausblick auf das neue Jahr in der Naganoschen Diktion ist hoffnungsvoller. Er repräsentiert sich auch im Ankommen am neuen Ort Hamburg – eine kleine Hommage an hanseatisches Blaublazertum und die dazugehörigen runde Hornbrillen sind sicherlich die Brahmsschen Fest- und Gedenksprüchen zu Beginn des zweiten Teils – und in einer trotz allem hoffnungsvollen Aussicht auf die Zukunft, denn, so Nagano: “Es muss auch ein C‑Dur geben” – und nichts erscheint da folgerichtiger als Wolfgang Amadeus Mozarts “Linzer” Symphonie KV 425 mit seinem sich emporschraubenden Streichermotiven im abschließenden Presto.
Solch ein ganzheitlicher und vor allem intelligenter Ansatz, ein Konzert zu konzipieren, ist einzigartig und spottet, wie man sagen möchte, jeder Besprechung. Natürlich hat man Mozart oder Bach schon anders gehört, schärfer, kleiner besetzt, natürlich könnte man über “Leistungen” von Orchester, Chor, Sprechern und Solisten ganz und gar umfänglich sich äußern – aber all solche Art der “Kritik” zieht sich vollkommen zurück angesichts dieser Anreize schaffenden Rezeptionsleistung von Zeit und Geschehen, von Musik und Gestus. Sie würde in jeder Form zur gleichsam irrelevanten wie kleinteiligen Mäkelei. Es zählt hier allein die so bescheiden auftretende und vor allem persönliche Narration Kent Naganos, die persönlicher Interpretation von Augenblick und Kommendem.
Die Hansestadt Hamburg, die in ihrer vergangenen Kulturpolitik oftmals haarscharf neben der Hochklassigkeit lebte, hat einen seltenen Glücksgriff getan. Es braucht gewiss auch ein C‑Dur, eine positive Perspektive. Aber vor allem aber braucht es eigenständige Denker und Künstler wie diesen Generalmusikdirektor. Es gibt also allen Grund zur Hoffnung für 2016, zumindest musikalisch. Und es ist an der Zeit, nach neuen Traditionen Ausschau zu halten, auch für Silvesterkonzerte.
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