Klarer Härtefall mit unklarem Ausgang

»Terror« von Ferdinand von Schirach am Deutschen Schauspielhaus

"Terror", Ferdinand v. Schirach, DSH
Klare Aufstellung. V.l.: Gala Othero Winter, Andreas Grötzinger, Karoline Bär, Anja Laïs, Jonas Hien, Markus John © Matthias Baus, 2016

Vor­ab eine War­nung: Dieser Abend kön­nte dazu führen, dass Sie sich plöt­zlich mit Men­schen, die Sie zu ken­nen glauben, in hefti­gen Diskus­sio­nen wiederfind­en. Es kön­nte passieren, dass Sie nach dem The­ater bei mehreren Gläsern Wein über ange­blich unver­rück­bare Grund­prinzip­i­en unser­er Ver­fas­sung stre­it­en, über Moral und Eigen­ver­ant­wortlichkeit. Aber vor allem kön­nte es geschehen, dass Sie die Men­schen, mit denen Sie im Deutschen Schaus­piel­haus waren, in neuen Facetten erleben. Kurzum: Fer­di­nand von Schirachs »Ter­ror«, derzeit deutsch­landweit auf vie­len Spielplä­nen, packt ein heißes Eisen an.

Lars Koch (Jonas Hien), ein junger Pilot eines Bun­deswehr-Kampf­jets, ist wegen Mordes an 164 Men­schen angeklagt. Er hat gegen den Befehl seines Vorge­set­zten gehan­delt, indem er ein ent­führtes Flugzeug mit 164 Insassen abschoss. Die Mas­chine in der Gewalt eines Ter­ror­is­ten hat­te Kurs auf ein vollbe­set­ztes Fußball­sta­dion genom­men, Lars Koch wollte mit dem Abschuss des Pas­sagier­flugzeugs ein noch größeres Unglück ver­hin­dern. Jurist und Autor Fer­di­nand von Schirach lässt in seinem mod­er­nen Gerichts­dra­ma die Grau­zo­nen moralis­chen Denkens zu Tage treten. Er spielt eine Sit­u­a­tion durch, die die Grund­feste unseres Rechtssys­tems auf eine harte Probe stellt. Was zählt mehr: die Anzahl der Opfer, die durch einen Abschuss ver­mieden wer­den kann, oder der Schutz des einzel­nen Indi­vidu­ums?

Von Schirachs Szenario ist so ein­fach wie wirkungsvoll. Der Angeklagte mit seinem Vertei­di­ger (am Pre­mier­en­abend Markus John) ste­ht der Staat­san­waltschaft (Karo­line Bär) und ein­er Neben­klägerin gegenüber. Jene Neben­klägerin (Gala Oth­ero Win­ter) ist die Frau eines der ver­stor­be­nen Flugzeu­g­in­sassen, der ihr kurz zuvor per SMS geschrieben hat­te, dass er und einige Mit­pas­sagiere ver­suchen wür­den, das Cock­pit zu entern, um den Ent­führer zu über­wälti­gen. Ein kluger dra­matur­gis­ch­er Kniff von Schirachs, denn die Neben­fig­ur ver­schärft den Kon­flikt, macht die Insassen der Mas­chine men­schlich, indem sie der nüchter­nen Zahl ein Gesicht gibt.

Umso wichtiger, diese abstrak­te Sit­u­a­tion greif­bar zu machen, als das Pub­likum als Schöf­fen geladen ist. Als Vor­sitzende der Ver­hand­lung tritt Anja Laïs zu Beginn des Abends an die Rampe und blickt ruhig in den vollbe­set­zten, hell erleuchteten Zuschauer­raum. Die Schöf­fen mögen ihre Ver­ant­wor­tung ernst nehmen, ruhig und gelassen urteilen, bit­tet sie. “Bleiben Sie bei Ihrem Urteil selb­st Men­schen”, sagt sie und eröffnet das Ver­fahren.

In den Zeu­gen­stand tritt Chris­t­ian Lauter­bach (Andreas Grötzinger), am Tag des Unglücks “DC” oder, wie er auf Nach­frage erläutert, “Duty Con­troller”, der als Vertreter des Bun­desvertei­di­gungsmin­is­teri­ums den Luftraum beobachtet hat. An besagtem Tag meldete er “Rene­gade” ins Vertei­di­gungsmin­is­teri­um, also einen Fall von Ter­ror­is­mus. Der Zeuge erläutert, dass die Alarm­rotte, deren Pilot der Angeklagte war, Sichtkon­takt mit dem Flugzeug aufnehmen und einen Warn­schuss abgeben sollte. Den Abschuss der Mas­chine hinge­gen habe die Vertei­di­gungsmin­is­terin auch auf mehrfache Nach­frage abgelehnt.

"Terror", Ferdinand v. Schirach, DSH
Im Zeu­gen­stand: Chris­t­ian Lauter­bach (Andreas Grötzinger), Anja Laïs als Vor­sitzende. © Matthias Baus

So klar, so sim­pel wäre das Urteil. Der Angeklagte hat den Nichtab­schuss-Befehl mis­sachtet und ist somit vor dem Gesetz schuldig. Die Recht­slage hinge­gen ist kom­plex. Das Luft­sicher­heits­ge­setz, das 2005 gegen Flugzeu­gent­führun­gen, ter­ror­is­tis­che Anschläge und Sab­o­tageak­te im Luftverkehr in Kraft getreten war, wurde bere­its ein Jahr später für ver­fas­sungswidrig erk­lärt. Es hat­te als äußer­ste Maß­nahme eine Abschuss­befug­nis im Fall von Rene­gades vorge­se­hen. 2006 entsch­ied das Bun­desver­fas­sungs­gericht, dass das Gesetz dem Grun­drecht auf Leben wider­spräche, gegen die Men­schen­würde ver­stoße und somit ver­fas­sungswidrig und nichtig sei.

Als der Angeklagte in den Zeu­gen­stand tritt, wird schnell klar, dass Kampf­pi­loten diese schlimm­st­mögliche Sit­u­a­tion in Frieden­szeit­en mit küh­lem Kopf prüfen, die Recht­slage mit Fre­un­den, Kol­le­gen und Fam­i­lie disku­tieren. Koch hat­te, so wird in der Befra­gung deut­lich, bere­its ein Refer­at zum Luft­sicher­heits­ge­setz vor jun­gen Kampf­pi­loten gehal­ten, in dem er den Stand­punkt ver­trat, die Entschei­dung des Bun­desver­fas­sungs­gerichts sei falsch. Trotz­dem oder – so fragt man sich, ger­ade deswe­gen? – hat­te man ihn in der Kampfrotte fliegen lassen.

Der Abend wirft viele dieser Fra­gen auf, an deren Beant­wor­tung wir von Mal zu Mal erneut scheit­ern. Er beg­ibt sich tief in die Gedanken­ex­per­i­mente der Recht­sphiloso­phie. Die Dra­maturgie der wech­sel­nden Sym­pa­thien beherrscht von Schirach per­fekt. “Wir müssen akzep­tieren, dass es keine Sicher­heit in geset­zlichen Fra­gen gibt”, argu­men­tiert die Vertei­di­gung. “Wir brauchen etwas Ver­lässlich­es, wir brauchen Prinzip­i­en”, kon­tert die Anklage: “Diese haben wir uns selb­st gegeben. Es ist unsere Ver­fas­sung.” Der Vertei­di­ger wiederum set­zt dem ent­ge­gen, kein Prinzip könne wichtiger sein, als 70.000 Men­schen zu ret­ten.

"Terror", Ferdinand von Schirach, DSH
Angeklagt: Lars Koch (Jonas Hien) © Matthias Baus

Ist ein einziges Leben eben­so viel wert wie das von 100.000 Men­schen? Ist ein kleineres Übel einem größeren vorzuziehen? “Ihre Beratung wird sich mit der Entschei­dung befassen, ob der Angeklagte das Recht hat­te, das Recht zu brechen.” Damit entlässt die Vor­sitzende das Pub­likum in die Abstim­mung. Der Abend hat zwei mögliche Aus­gänge. Das Pub­likum entschei­det, welchen es sehen wird.

Am Deutschen Schaus­piel­haus hat man sich entsch­ieden, das Stück als szenis­che Lesung zu zeigen. Jörg Bochow und Rita Thiele haben von Schirachs Text mit den Schaus­piel­ern zusam­men ein­gerichtet. Das Ensem­ble darf mit Tex­tk­ladde auf die Bühne und beispiel­sweise bei den Plä­doy­ers einen Blick hinein­wer­fen. Ein mod­er­ates Mit­tel, das den Gedankengän­gen des Textes nicht abträglich ist. Hier braucht es keine voll aus­gear­beit­ete Insze­nierung, lediglich die Konzen­tra­tion auf die Sach­lage und aus­geze­ich­nete Schaus­piel­er, die sich in den Konzepten ihrer Fig­uren sich­er bewe­gen – auch wenn der Text nicht zu 100 Prozent im Kopf ist.

Das ein oder andere the­atrale Mit­tel nimmt dem Abend das pur Pro­tokol­lar­ische, unter­stre­icht aber trotz­dem den Doku­mentar­charak­ter. Wenn die Zeu­gen befragt wer­den, ste­hen sie mit dem Rück­en zum Pub­likum, den Blick auf die Vor­sitzende – und in eine Kam­era – gerichtet. Die Pro­jek­tion einzig des Gesichts des jew­eils Befragten ober­halb des Büh­nengeschehens, ist stark und lässt Raum für sub­til gespielte Emo­tion. Es gibt Texte, die brauchen keine entsch­iedene Regiehand­schrift, son­dern einzig eine kluge und bedächtige Schaus­piel­er­führung. Zwei Wochen Proben­zeit hat­te das “Terror”-Ensemble und meis­tert diese Her­aus­forderung mit Bravour. Ein aktueller Text lässt sich so in Spielplä­nen unge­plant ein­schieben. Funk­tion­iert ein­wand­frei.

 

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