Wie viele bin ich?

Rachid Ouramdanes grandiose Choreographie eines Schneeballeffekts beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel

Rachid Ouramdane, Tenir le temps
Fällt einer, fallen alle. Bild: Patrick Imbert

Welche Rolle spielt das Indi­vidu­um in der Gesellschaft? Wie kon­trol­liert die Masse den Einzel­nen? Wie unter­wirft sich das Sub­jekt der Gruppe? Diese Fra­gen beschäfti­gen Philosophen, Lit­er­at­en und Kun­stschaf­fende bis heute. Chore­o­graph Rachid Ouram­dane stellt in „Tenir le temps“ genau diese gesellschaftlichen Fra­gen, die heute aktueller scheinen denn je. Ouram­dane insze­niert in seinem dre­it­eili­gen Stück das Kräftev­er­hält­nis zwis­chen Indi­vidu­um und Masse, zwis­chen der Sehn­sucht nach Einzi­gar­tigkeit auf der einen und nach Gebor­gen­heit sowie Akzep­tanz auf der anderen Seite. Dem Tänz­er, Chore­ografen und Leit­er des Cen­tre Choré­graphique Nation­al de Greno­ble gelingt es, die Machver­hält­nisse in unser­er Gesellschaft sowie den Unter­gang des Einzel­nen auf die Bühne zu brin­gen.

Rachid Ouramdane, Tenir le temps
Wir, die Masse. Bild: Patrick Imbert

Wir ken­nen es alle: das Gefühl mitziehen zu wollen oder gar zu müssen, um sicht­bar zu bleiben, um Akzep­tanz zu find­en – seien es Mode­strö­mungen, die neueste Tech­nik, Sport- oder Ernährungstrends. Wir eifern dem nach, was aktuell ange­sagt ist, was alle haben oder machen, um nicht als Außen­seit­er dazuste­hen. Die Gesellschaft, die anderen machen uns zu dem, was wir sind. Das Indi­vidu­um hat in unserem Gesellschaftssys­tem wenig Platz.

Auf ein­er ster­ilen weißen Bühne bewegt sich ein Tänz­er zu einem Stakka­to, zunächst langsam, mech­a­nisch und instink­tiv, bis die Klavierk­länge seinen Kör­p­er durch­drin­gen und ihn seine Bewe­gun­gen immer mehr durchzuck­en. Es gesellen sich 14 weit­ere Tänz­erin­nen und Tänz­er zu ihm auf die Bühne, nehmen ihn mit in einen Sog von ineinan­der­fließen­den har­monis­chen Bewe­gun­gen. Ein­er Ket­ten­reak­tion gle­ich laufen ihre Kör­p­er zusam­men. Wo ein­er fließend zu Boden sinkt, sinken die anderen mit, heben sich gegen­seit­ig auf, ziehen sich an und gleit­en kon­tinuier­lich als Kette weit­er, stetig wieder­holend wie das Osti­na­to des Kom­pon­is­ten Jean-Bap­tiste Julien, dessen Klänge die Kör­p­er der Tänz­er ergreifen. Es ist die pure Har­monie der Masse. Ein Aus­bruch ist schi­er unmöglich.

Dem Solis­ten im ersten Teil fol­gt ein Duett. Doch auch aus diesem Paar­tanz entwick­elt sich durch den Rest der Gruppe eine erneute Kette von ineinan­der schmelzen­den Fig­uren. Mal brechen die Glieder aus, laufen wieder mit dem Rest zusam­men, erzeu­gen immer mehr Energie und neue Bewe­gungsströme. Sie stoßen sich ab, find­en aber immer wieder zusam­men. Mal ist es ein Duett, umschlun­gen, vere­int und in sich gekehrt, har­monis­che Zweisamkeit. Mal ist es wieder ein Solist, der aus­bricht, sich gegen die Masse auflehnt. Und dann ist da noch der Zweikampf. Zwei Kör­p­er messen ihre Kräfte gegeneinan­der. Wer ist der Stärk­ste? Wer der Beste? Doch sie alle sind im Sys­tem gefan­gen. Einzel­gänger wer­den wieder in den Sog der Masse geris­sen, ihre indi­vidu­elle Per­for­mance wird Teil ein­er gemein­samen Dar­bi­etung.

Rachid Ouramdane
Ket­ten­reak­tion. Bild: Patrick Imbert

Es ist beina­he erschreck­end, sich selb­st auf dieser ster­ilen weißen Bühne wiederzufind­en. Dieses Streben nach Har­monie und Akzep­tanz, das uns allen gemein ist, beim einen mehr, beim anderen weniger. Diese Sehn­sucht nach Wärme und Gebor­gen­heit, von der wir glauben, sie nur in einem anderen zu find­en, nie in uns selb­st. Auf der anderen Seite find­en wir uns in ein­er Gesellschaft wieder, die alles andere ist als har­monisch. Eine Ellen­bo­genge­sellschaft, in der sich der Einzelne durch die Masse kämpft. Und dann ist da noch die Sache mit der Indi­vid­u­al­ität. Uns wur­den noch nie so viele Möglichkeit­en geboten, einzi­gar­tig zu erscheinen. Per­sön­liche State­ments schmück­en unsere Klei­dung, wir fär­ben unsere Haare bunt, neigen zu Extremen, um von der Masse abzuheben, um aufz­u­fall­en, um nicht unterzuge­hen.

Die Ket­ten­reak­tio­nen und Schnee­ball­ef­fek­te in Ouram­danes „Tenir le temps“ sind Syn­onyme unser­er Gesellschaft, per­fekt insze­niert in einem inten­siv­en Tanzstück. Es greift eine poli­tis­che und gesellschaftliche Frage auf, die uns alle beschäftigt, die uns tagtäglich durch­dringt. Die Antwort auf die Frage nach der Rolle des Indi­vidu­ums liegt auf der Bühne: das Indi­vidu­um in der Krise, gefan­gen in ein­er gesellschaftlichen Spi­rale.

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