Es gibt Rituale, an denen gibt es keinen Zweifel. Zumindest nicht in der bürgerlichen und in der medialen Welt. Dazu gehören Unumstößlichkeiten: Die rote Rose ist das Geschenk der wahren und der echten Liebe, selbstverständlich wird bei der bevorstehenden Traum-Hochzeit die Braut ihre Hochsteckfrisur mit ein paar verspielten Schläfenlocken Leichtigkeit verliehen. Nicht anders ist das in den anderen Spielarten der Unterhaltungsindustrie, wir wissen, wenn der Geigenklang im Film sich von Moll nach Dur wandelt, dann ist das Happy Ending nah. Jedes dieser Stereotype verursacht vor allem ein wohliges Gefühl der Festigkeit, ein entspanntes Wahrnehmen von Sicherheiten, von Erwartbarem. Die Unwägbarkeit ist das Geschäft der Unterhaltung selten, es verlangt unbedingt das Wiedererkennbare und das minder Komplexe, um einem breiten Publikum zu genügen. Es ist vor allem ein Ausdruck der Form, der Vorlage und der Wiederholbarkeit seiner Illusionen, im besten Falle auch des Wiedererkennens. Das ist das Prinzip des Pop.
Nun möge sich trotzdem allerdings niemand einbilden, dass dies alles eine Erfindung der modernen und kommerzorientierten Verwertbarkeit von Kulturphänomen sei und ja in der alten Zeit die Kunst allein der Erkenntnis und den platonischen Idealen des Schönen, Guten und Wahren gefolgt sei. Das ist mitnichten so, der Formalismus gehört zum Wesen des Wohlbefindens unter den Rezipienten. Und keine Zeit hat den Formalismus so auf die Spitze getrieben, wie der aus dem Geist der Zerstörung aufgestiegene Barock, der vielgeliebte Stil der bürgerlichen Mittelklassebildung. Seine Formalismen sind nicht minder auffällig als das immer wieder auftretende Intro – Chorus – Refrain-Schema des Popsongs, verschleiert nur durch sein artifizielles Dekor, aber auch dieses folgt der genau artikulierten Form. Wer denn je durch einen der geometrischen Gärten dieser Zeit flaniert ist oder sich an der konstruktiven Eigenheit einer Fuge delektiert, weiß, was gemeint ist.
Man muss diesen Stil nicht, wie Theodor W. Adorno es tat, als bürgerlich-repressiv betrachten, doch sein Wort vom “struktiven Wesen” dieser Epoche wiegt schwer und fordert zur Aufmerksamkeit auf angesichts einlullender Repetition und Wohlgefälligkeit. Das betrifft auch und gerade die “Wiederentdeckung” von Opernstoffen dieser Epoche, sind diese jedoch am wenigsten für Spiel und Entwicklung von Figuren konzipiert, sondern als Nummernfolge stereotyper Handlungsmuster.
So ist denn auch Georg Friedrich Händels “Ariodante”, die am Lübecker Theater jüngst Premiere hatte, ein theatralisch überaus trockener Stoff mit ebenso schlichtem Handlungsgerüst voller Stereotype. Es gehört die Geschichte um den Ritter Ariodante, der in seinem persönlichen Glück – es stehen Thronfolge und die glückhaften Heirat mit der Infantin bevor – durch eine hinterlistige Intrige eines Nebenbuhlers gestört wird, am ehesten in die Kategorie der Laborkonstruktion der Gefühle. Genauso zeigte sie die spätere Aufklärung gerne – dort aber in ihrer Entdeckung psychologischer Zusammenhänge. Daran ist jedoch 1735, im Entstehungsjahr dieser Oper, noch nicht zu denken.
Trotzdem erinnern einzelne Elemente durchaus an ein weitaus späteres Werk, das mit Täuschung und Experimenten in Liebesdingen ungleich virtuoser umgeht als das in seiner Zeit gefangene Händel-Stück: Lorenzo da Pontes »Così fan tutte«. Auch hier gibt es das Moment der Täuschung, den vorgegebenen Betrug und, eine im Kern synthetische Kostümierung, die zur Verwirrung der Befindlichkeiten führt. Sieht man »Ariodante« als einen dramaturgischen Vorläufer und älteres Geschwisterkind des Mozartschen und da Ponteschen Experimentierkastens und setzt das entsprechend um, lassen sich hinter all den Formalismen tatsächlich lebendige Charaktere erahnen, deren Entwicklung auch einen heutigen Zuschauer interessieren kann.
Und genau das macht Regisseur Wolf Widder in seiner Lübecker Inszenierung – von Anbeginn wird jede Note bespielt. Mit dem ersten Ouvertürenton reißt der Vorhang auf, das unter dem überaus feingesponnenen Dirigat von Andreas Wolf stehende Lübecker Orchester kitzelt von Anfang die allerschönsten Farben aus der Partitur und auf der Bühne ist Bewegung, Spiel und Tanz. Widder gibt den Protagonisten Ariodante und Ginevra ein Spiegelpaar zweier Tänzer (Martin Ruppel und Alexander Wilbert) mit, womit zugleich das ewige Problem der Barockoper, was denn mit den heute überflüssig erscheinenden Ballettmusiken zu tun sei, gelöst ist. Und so nimmt denn die schon erwähnte Handlung Nummer um Nummer, Da-capo-Arie für Da-capo-Arie ihren Lauf. Dabei hilft ihm das über die Jahre so gewachsene Ensemble mit seinen Aktivposten Evmorfia Metaxaki (Ginevra), Wioletta Hebrowska (Ariodante), dem, nunmehr und bedauernswerterweise scheidenden, Daniel Jenz (Lurcanio) und Andrea Stadel (Dalinda) sehr.
Alle sind sie nicht wirkliche Spezialisten für die endlosen Koloraturen dieses Genres, doch gelingt ihnen angesichts der Vorgabe das Größtmögliche, nämlich all den Klischeefiguren von betrogenen Edelfräuleins, verzweifelten Rittern und rachsüchtigen Edlen kurzfristig und für die Dauer einer Arie Leben einzuhauchen. Evmorfia Metaxaki hat in ihrer Rolle einen der ganzen starken Auftritte in ihrer an Höhepunkten gewiss nicht armen Lübecker Karriere, Wioletta Hebrowska, die ewig Spielverliebte, setzt das Bravourstück dieses Werkes, “Scherza infida” in einer sängerisch nahezu unmöglichen Position um, am Boden liegend, den Kopf in der Armbeuge – trotzdem und gerade deswegen ein Augenblick anrührender und geradezu atemberaubender Expressivität. In ihrer schneidenden Stimmführung brillant und der alle Chargenknöpfe drückenden Überzeichnung der Schurkenpartie Polinesso ist auch die Gastaltistin Romina Boscolo ein echter Gewinn für diesen Abend.
So ist man denn schnell beim Happy Ending, der Schurke vernichtet am Boden und das Paar glücklich vereint – so will es die zu erwartende Vorgabe. Doch der Regisseur greift vor und nimm das Artifizielle, den zukünftigen aufklärerischen Moment beim Wort. Ganz wie die Paare ein halbes Jahrhundert später – im Labor der Liebenden der Così – will dann doch nicht die Freude des glücklichen Endes auftauchen. Die ge- und enttäuschte Ginevra ist gefangen in der Erwartung des kommenden “Glücks”, der glitzernde Kronleuchter des Palastes (Ausstattung: Pierre Albert), in dem sie die künftige Herrscherin sein wird, hat sie fast erdrückt und ihre Blicke sind ob all des formalisierten Jubels mehr als zweifelnd. Wir wissen nun, es gibt keine rote Rosen für sie und in der Oper ist alles Schein. In der Moderne tritt die Form hinter das Individuum zurück, nicht übel für ein 282 Jahre altes Stück.
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