Es war das Jahr, in dem der Jungmädchenschwarm wirklich erwachsen wurde. Sein samtweiches Timbre, die jugendliche Stimme hatte Heerscharen von Teenagern in den Bann gezogen, war Begleiter für erste Tänze und erste Liebe, Illusionszaubereien in der grauen Zeit der 40er Jahre. Doch nun war der große Krieg und die Depression vorbei, und auch Francis Albert Sinatra aus Hoboken, New Jersey, musste sich Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts neu erfinden. Die Plattenverkäufe sanken und die Affäre des verheirateten Sängers mit dem Hollywood-Star Ava Gardner war beim jugendlichen Publikum und dessen Eltern nicht gern gesehen. So wechselte er die Plattenfirma und bekam einen neuen Arrangeur an seine Seite gestellt, und damit begann die Legendenbildung von “The Voice”, “Frankie Boy” und allen anderen, beinahe zärtlichen Titeln Sinatras.
Der neue Arrangeur hieß Nelson Riddle und hatte maßgeblichen Anteil an der fortschreitenden Adoleszenz des Sängers, der die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts so maßgeblich geprägt hat. 1954 erschienen bei Capitol Records unter der Nummer H‑528 das Album “Swing Easy!”, und damit begann die Zusammenarbeit zwischen einem der elegantesten Arrangeure dieser Jahre und dem dann doch schon beinahe vierzigjährigen Sinatra. Riddle machte einiges anders als die Bandleader vor ihm, die Musik opulenter, und, das war der eigentliche Coup, er verschob die Stimmlage des Sängers leicht nach unten, mehr zum volleren, virileren Bariton. Und dann gab es da, neben den ausgefeilten Arrangements noch Joe Koch.
Joe Koch war einer der vielen exzellenten Musiker, die die Big Band Ära der späten 40er hervorgebracht hatte und die nie groß im Rampenlicht auftauchten. Er spielte bei Gene Krupa und in unzähligen Studioaufnahmen der Zeit. Sein Instrument war das Bariton-Saxophon, die Füllstimme im Saxophonsatz einer Bigband. Ende der Vierziger war das Tenor das Vorzeigeinstrument des Jazz, bei Woody Herman spielten gleich vier der sonor-röhrenden Holzbläser im leicht vibrierenden Gleichklang. “Four Brothers”, so hieß dieses Arrangement nach den vier Tenoristen bei Herman Stan Getz, Zoot Sims, Herbie Steward und Serge Chaloff, war der Sound der Zeit des Übergangs zwischen dem Swing und dem wilden BeBop der 50er.
“Swing Easy” war anders, es war Pop-Musik mit Jazz-Anklängen, da war keine Rede vom BeBop. Und Joe Koch spielte das Bariton. Besonders schön zu hören ist das in der Einstiegsnummer des Albums, Cole Porters keckes “One of those things”. Da schaffte der unbekannt gebliebene Holzbläser genau jenen Klang, der die kommenden Jahre des Superstars prägen sollte, eine fundamentale Basisstimmung, jenes tiefe, erdige Vibrieren, die so typisch für dieses Instrument ist und die die ganze Familie der tief gestimmten Rohrblattinstrumente charakterisiert. Der Saxophonsatz bekommt in dieser frühen Studioband Nelson Riddles ein kratzendes, widerspenstiges Störelement, das mit verantwortlich ist für einen Imagewechsel.
Die ganze Kunst des Arrangeurs Riddle kam hier zum Tragen, keine Vordergründigkeit ist darin, sondern eine subtile Verlagerung in einen Klangbereich, der dem Erdkern näher ist als dem Himmel. Das tat dem Sänger gut, das Image eines Teenager-Traums schwand zugunsten der erwachseneren Verführer-Rolle, des smarten, urbanen Crooners, dem Ava Gardner im realen Leben ebenso wenig widerstehen konnte wie Rita Hayworth ein paar Jahre später im berühmten Film-Musical “Pal Joey”, in dem Filmrolle und das ikonische Bild Sinatras als lässig-viriler Nachtfalke zum ersten Mal verschmelzen. Sinatra verstand und war begeistert. “Your’e a gas!” rief er nach einem der Takes seinem Bandleader zu – im Deutschen heute sagt man dann wohl so etwas wie “Du bist nen Hammertyp!”
Der Trick des Nelson Riddle ist allerdings keine echte Zauberei, sondern zeigt die Macht, die in einem kleinen und eigentlich sehr empfindlichen Rohrblatt steckt. Hin und wieder kommt diese Macht auch im modernen Jazz zum Vorschein, dessen Paradeinstrument ja vor allem die Trompete ist, mit ihrem strahlenden Sound, den druckvollen Höhen und seinen exaltieren Stars von Miles Davis bis Christian Scott. Einer der wenigen deutschen Rohrblattzauberer von internationalem Rang ist der Nürnberger Rudi Mahall. Sein Instrument ist nicht das geschmeidige und jazzaffine Saxophon, sondern seine holzwärmere Schwester, die Klarinette, vor allem in ihrer tiefen Tonlage, der Bassklarinette.
Es ist ein beindruckendes Instrument, fast 1,50 m lang, mit einem Tonumfang über 4 Oktaven bis hinab zum wahrhaft markerschütternden Kontra‑B. Und wie das in der freien Jazzszene so üblich ist, sucht man sich gelegentlich wechselnde Gefährten, gemeinsam mit dem Kontrabassisten Jan Roder und dem Gitarristen Olaf Rupp hat sich das Trio JR3 gefunden und auch gleich einen Tonträger mit dem launig-verstiegenen Namen “Happy Jazz” produziert. Die Nummern auf diesem Album sind nicht weniger verschroben und irreführend getitelt, das kalauernde “Bildnis der Doris Day” folgt da zum Beispiel auf das nicht minder ulkig erscheinende “Happy Dogs” – das aber kaschiert nur notdürftig die radikale improvisatorische Urgewalt dieses Trios, geboren aus dem Halm eines zitternden Schilfrohres, aus der Resonanz eines Kastens aus Ahorn und Fichte und aus der verstärkten Schwingung verchromten Stahls.
Wer diese Urgewalt einmal live erlebt hat, lernt, dass Musik nicht nur, wie gemeinhin behauptet, das Herz bewegen kann, sondern auch den ganzen Körper, allerdings nicht durch oberflächlichen Beat wie in anderen zeitgenössischen Formen; von der Qual des elektronischen Gleichschritts von HipHop und Techno ist dieser Sound weiter entfernt als das Mundstück der Bassklarinette von ihrem silberglänzendem Schalltrichter. Die Erfahrung ist nicht nur ganzkörperlich, sondern innerlich, bis in die letzten Enden des Rückenmarks und des inneren Bauchraumes schieben sich die vibrierenden Klangflächen dieser Musiker, erschütternd direkt, bis hin zur vollkommenen Auslieferung an den Klang. Eine Urerfahrung, voller natürlicher Gewalt, bis hin zur Überwältigung archaisch. Dabei ist dieser Sound keine stumpfe Melange aus simplen Bassmotiven, sondern komplex tiefenbewegtes und auch kontrolliertes Miteinander der Instrumentalisten.
Da schieben sich klatschenden Saiten von Roders Kontrabass in die vollen Klangflächen der Mahallschen Basslinienexperimente, gehen die schneidenden Höhen seines Instruments in den Dialog mit den präzisen Impulsen von Olaf Rupps froschgrüner und breithalsiger E‑Gitarre. Kontrolle sei wichtig, so sagt Mahall im Pausengespräch, darum bläst er auf schwereren Rohrblättern und spielt diese auf einem breiteren Mundstückfundament, der Holzbläser nennt das “die Bahn”. Das widerspricht sicher dem Laieneindruck von der Willkürlichkeit freier Musik, die in Wahrheit dialog‑, ja, gar diskussionsorientierter ist, als es sich beim ersten Hören vermuten lässt. Der Austausch, einander Impulse und Ideen weiterzugeben, das ist ein wesentliches Momentum solch einer musikalischen Zusammenarbeit, die Blickkontakte sind vielsagend, die Übergaben variationsreich und virtuos.
Mitunter macht sich bei so einem Konzert ein Lächeln auf den Mienen der Musiker breit, wenn ihnen eine besonders gelungene Kombination gelungen ist. All das sieht man natürlich nicht beim Hören so einer Aufnahme, dennoch ist dieser freie Geist immer zu spüren, wenngleich der so gewaltige Höreindruck der Live-Session aus im heimischen Küchenradio zu erfahren ist, dazu braucht es in der Tat ordentliche Wattzahlen bei der Wohnraumbeschallung. Was aber auch auf so einem Tonträger zu erkennen ist, das ist die Kraft des schwingenden Rohres in seinen tiefen Lagen, die urtümliche Stärke der vom Blatt in Bewegung gebrachten Luftsäule, die sich zum Sturm entwickeln kann. War in den 50er Jahren mit dem versteckt im Saxophonsatz marodierende Bariton des Joe Koch noch die domestizierte Form dieser Kraft nötig, um zur produktiven Irritation der Hörer zu führen, kann sie sich heute in solchen Produktion in voller archaischer Schönheit und Entfaltung zeigen.
Mit der breitbeinigen Kraftmeierei aktueller Popströmungen, denen im Marketing ein besonders authentischer und “credibler” Ruf angedichtet wird, hat diese in aller Freiheit weit entwickelte Musik allerdings wenig bis gar nichts zu tun: Zu subtil sind die Klangerfahrungen, zu differenziert ist die Expedition in die Welt schillernder, korrelierender musikalischer Linien und Flächen, das Prinzip des Miteinander und der kreativen Dialoge. Was Goldketten- und Jogginghosenträgern gänzlich zu fehlen fehlen scheint, hier ist es in Hülle und Fülle vorhanden – die Sache hat Humor. Und noch etwas, diese Form des Jazz fordert eine absolute Verbindlichkeit ein, sie ist entschieden und verliert sich niemals im Ungefähren. Sie ist ein Statement, ein Bekenntnis zu einer absoluten Musik im modernsten Sinne. Mit anderen Worten: “Guys, it’s a Gas!”
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