Wahlen sind undemokratisch — so die These von David Van Reybrouck, dessen Buch “Gegen Wahlen” Dagrun Hintze zu “Staging Democracy” am LICHTHOF Theater inspirierte. Sie entschied sich kurzerhand, einen Abend über Demokratie zu konzipieren, der die Gesellschaftsform nicht nur zum Thema hatte, sondern sich ihrer Prinzipien bedient.
Im alten Athen war es selbstverständlich, dass jeder Bürger für eine begrenzte Zeit politische Verantwortung übernahm – und zwar nach dem Zufallsprinzip: Das Los bestimmte. Bei “Staging Democracy” wurde Hamburger Bürgerinnen und Bürgern ein politisches Fachgebiet zugelost, in das sie sich selbständig einarbeiteten. Daraufhin diskutierten sie untereinander in fünf Factories zu Themen wie “Wirtschaft und Finanzen” oder “Verkehr, Stadtentwicklung und Wohnen”.
Die Ergebnisse der Factories wurden in einer “Demokratischen Sprechstunde” einer Runde von Hamburger Politikern und Politikerinnen präsentiert und von ihnen weiterdiskutiert. Jetzt fließen sie in das Stück mit ein, das am 15. Juni im LICHTHOF Theater uraufgeführt wird.
HHF: Zum Einstieg: Wie kam es zu der Idee von “Staging Democracy”?
Dagrun Hintze: Am Morgen der Trump-Wahl war ich in Dresden, wo ich gerade an einem Stück über die Krise des Journalismus arbeitete. Und wieder war es so wie beim Brexit: Man war noch halbwegs entspannt ins Bett gegangen, und dann tickerten morgens um 7.00 Uhr die SMS los, so dass man gar nicht mehr den Fernseher anmachen musste: Die Katastrophe war passiert. Weil ich Angst hatte, in Dresden auf die Straße zu gehen und auf feiernde Menschen zu treffen, dachte ich mir: Ich muss jetzt sofort was machen. Und da ich ja ohnehin dauernd mit partizipativem Theater bzw. Theater zu politischen Themen beschäftigt bin, kam ich auf die Idee, mit den Mitteln dieser Form von Theater die Demokratie selbst in den Blick zu nehmen.
Ich hatte gerade “Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist” von David Van Reybrouck gelesen – ein extrem interessantes Buch, das dann ganz zentral wurde für die Idee von “Staging Democracy”. Darin geht es um das antike Prinzip des Auslosens, von dem ich bislang überhaupt nichts gewusst hatte – im alten Athen wurde die Mehrzahl der politischen Ämter nicht per Wahl vergeben, sondern per Los und jeweils nur für ein Jahr. Davon ausgehend habe ich dann überlegt, wie man das mit Theater zusammenbringen könnte, wie man den Raum Theater öffnet, um gesellschaftliche Debatten hineinzuholen. Ich bin der Überzeugung, dass wir nicht nur im Theater, sondern in allen Künsten im Moment die Aufgabe haben, uns konkreter mit Politik zu befassen. Ich freue mich schon wahnsinnig auf die Zeit, in der wir wieder komplizierte Lyrik vortragen können, die niemand versteht (lacht), aber ich glaube, gerade geht es wirklich um etwas anderes.
All diese Gedanken kamen am Vormittag nach der Trump-Wahl zusammen, und ich schrieb das Grundkonzept für “Staging Democracy” relativ zügig auf. Das schickte ich Elisabeth Burchhardt (Co-Autorin, bei “Staging Democracy” Moderatorin, Anm. d. Red.), um herauszufinden, ob sie es völlig schwachsinnig findet, aber sie fand es gut. Und da ich ohnehin schon mit Matthias Schulze-Kraft an der Idee arbeitete, eine Bürgerbühne am Lichthof Theater zu etablieren, habe ich es ihm kurzerhand vorgeschlagen. Dann ging alles sehr schnell, auch mit der Förderung. Mir war zwar klar gewesen, dass man mit einem solchen Thema in Zeiten wie diesen ziemlich weit kommen könnte, aber das Tempo hat mich durchaus überrascht.
Wiederbelebung einer antiken Idee
HHF: Daraufhin habt ihr die fünf “Factories” mit Hamburger Bürgern abgehalten. Ich habe versucht, mir einen Überblick zu verschaffen, wie viele Forderungen an die Politik pro Factory entstanden sind, und kam auf drei bis zwanzig – je nach politischem Thema. Aus diesen Forderungen entstand die “Demokratische Sprechstunde”, bei der die Forderungen Vertretern der Hamburger Bürgerschaft – quasi in fünf Akten – vorgestellt wurden. Es kam dort ja tatsächlich zu einem recht dramatischen Verlauf mit unverhohlener Aggression gegen die Politikerinnen und Politiker, einem Abgang mit Tür-Knallen etc., d.h. ihr hattet noch mehr Material. Wie macht man denn aus all dem am Ende ein Stück?
Dagrun Hintze: Das entwickeln Ron Zimmering und ich zusammen, bzw. muss Ron natürlich die Freiheit haben, mit dem Material umzugehen. Ich würde nicht davon ausgehen, dass wir ein Stück aus den Factories und der “Demokratischen Sprechstunde” machen, sondern es wird in dem Stück allgemeiner um die Demokratie und demokratische Prozesse gehen, die wir um die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, ergänzen. Auf der Bühne sind teilweise Leute dabei, die auch an den Factories teilgenommen haben, die also die Erfahrungen aus dem ersten Teil des Projekts mitbringen, aber natürlich kann man auf der Bühne nicht in diesem diskursiven, diskutierenden Teil bleiben. Da sind andere Ideen, Umsetzungen und Bilder gefragt.
Ron Zimmering: Der Untertitel lautet ja “Wiederbelebung einer antiken Idee”, und ich sehe die zwei Teile, also die Factories und die Inszenierung, als zwei Seiten einer Medaille. Das eine ist der praktische Selbstversuch, das andere wie ein künstlerisches Ereignis, ein Stück, in dem wir versuchen, das Thema Demokratie an sich auf die Bühne zu bringen. Und während der erste Teil ganz praktisch so funktioniert hat, dass wir Hamburger Bürger ausgelost haben und sie über lokale Themen debattieren ließen, geht es in dem zweiten Teil viel mehr darum, grundsätzlich über Demokratie nachzudenken, ohne die lokale Einschränkung auf Hamburg. Da machen wir uns Gedanken, wie “Woran hakt’s? Wie könnte Demokratie anders funktionieren? Macht so ein Losverfahren Sinn, wie es im antiken Griechenland praktiziert wurde?”. Es sind also zwei Perspektiven auf ein Thema.
HHF: Und wie geht ihr konkret an die Textgestaltung und Inszenierungsarbeit?
Dagrun Hintze: Textlich haben wir einen Teil, der auf Expertenwissen beruht, sich aus Interviews speist. Wir haben eine Historikerin für Alte Geschichte zu den Ursprüngen der Demokratie interviewt, die auch Expertin für das Losverfahren ist. Außerdem haben wir einen Schöffen dabei, das ist die einzige Funktion, die von der aleatorischen Demokratie bei uns übrig geblieben ist – schließlich wird man dafür ausgelost und darf dieses Amt zunächst mal auch nicht ausschlagen.
Ron Zimmering: Hinzu kommen Originaltexte, z. B. von Herodot. Mit diesen Texten war unsere Materialmappe zu Beginn gefüllt. Anhand dessen haben wir versucht, eine grobe Dramaturgie zu entwerfen. Zentrum bildet für mich die These von Van Reybrouck, weil Demokratie an sich einfach ein unendlich weites Thema umfasst. Ich finde es spannend, das über eine so steile These zu diskutieren, die besagt, dass Wahlen genau dazu führen, dass Demokratie abgeschafft wird. Und dass wir seit 2.500 Jahren mit Demokratie experimentieren, aber erst seit ein paar Jahrhunderten mit Wahlen. Daraus schließt Van Reybrouck, dass wir statt Wahlen das Losverfahren einführen sollten. Der erste Gedanke dazu ist: “Wie bitte? Wie soll das denn funktionieren?” In seinem Buch hat er dazu eine ganz hübsche Dramaturgie entwickelt wie eine Art Krankengeschichte. Er beschreibt zunächst die Symptome der heutigen Demokratiemüdigkeit, gibt eine Art Diagnose und Pathogenese, wie es dazu gekommen ist, bis hin zur Therapie, wie man das lösen könnte.
Das ist eigentlich auch ganz grob unser Bogen, den wir auf der Bühne spannen. Aber natürlich nehmen wir die Gedanken unserer Teilnehmenden mit auf. Wir haben einen Chor von etwa 20 Hamburger, die einen schönen Querschnitt durch die Gesellschaft darstellen und ein sehr breites Spektrum abdecken. Der Chor ist für mich der Inbegriff einer Mini-Polis wie im alten Griechenland. Bei der Aufführung bilden wir durch unsere 20 Leute und die Zuschauer den Ausgangspunkt, um zu fragen, was wir mit der Demokratie zu tun haben, was im ersten Schritt unser Problem ist und woran sich das Demokratie-Müdigkeitssyndrom bei jedem einzelnen ganz konkret und im größeren Kontext zeigt.
Danach untersuchen wir, wie es dazu gekommen ist, betrachten die Ursachen, befragen die Geschichte der Antike, sehen uns alternative Gesellschaftsmodelle an. Auf der Bühne wollen wir dieses Losverfahren spielerisch-theatral durchgehen. Das ist aus meiner Sicht der Bogen des Textes, mit dem wir in die Proben gegangen sind. Im Prozess haben wir probiert, das Material zu ordnen und unsere Teilnehmenden gebeten, sich mit ihrer eigenen Biografie und ihren eigenen Erfahrungen dazu ins Verhältnis zu setzen. Daraus haben wir versucht, unterschiedliche Spielanordnungen zu schaffen, worin die Teilnehmenden vorkommen.
HHF: Der Bürgerchor oder das Publikum?
Ron Zimmering: Beide. Das Publikum wird immer wieder über bestimmte Sachen abstimmen bis hin zur Auslosung einiger Zuschauer, die dann letztlich auch bei einem Spiel mitmachen.
“Stinknormale” Menschen auf der Bühne
Dagrun Hintze: Was ich an der Idee ganz interessant finde, ist der Gedanke von “Experten des Alltags”, also von “stinknormalen” Menschen, die sich auf die Suche danach machen, ob Demokratie funktioniert oder nicht. Weil sie eben keine Politikerinnen, Politiker oder Profis sind, sondern versuchen, ihr Leben in diesem System zu meistern, und dabei Erfahrungen machen. Insofern finde ich den Polis-Gedanken tatsächlich klug, da leben eben nicht nur die Menschen, die einen ausgewiesenen Plan von einer Sache haben, sondern einfach Bürgerinnen und Bürger
Ron Zimmering: All das wird durch die Experten wie die Altphilologin oder den Schöffen ergänzt, deren Lebensrealität mit Politik bzw. Demokratie verbunden ist.
HHF: Ich fand es spannend, dass sich bei der Bürgersprechstunde bereits viel eingelöst hat, das Publikum sehr aktiv, ja teilweise aggressiv mitdiskutiert hat. Dazu kam das sehr menschliche Verhalten der Vertreter der Hamburger Bürgerschaft, die ihr ausgewählt hattet. Letztlich wurde quasi Otto Normalbürger zu einem politisch agierenden Subjekt, das ihr aus der Passivität geholt habt, und zum anderen wurden die Politiker auf die Bürgerebene geholt. Ein spannender Moment, der durch die Bühnensituation entstanden ist.
Dagrun Hintze: Mich haben die Politikerinnen und Politiker auch alle sehr beeindruckt. Und ich hätte wirklich nicht mit ihnen tauschen wollen. Wie beispielsweise Stefanie von Berg (Fachsprecherin für die Themen Schule und Berufsbildung, Inklusion und Religion in der grünen Fraktion, Anm. d. Red.) mit der Aggression im Raum umgegangen ist, die ich verhältnismäßig wahnwitzig fand, hat mir sehr imponiert. Insgesamt hat mich die Veranstaltung allerdings eher mitgenommen, weil ich es wirklich schwierig fand, mit den Energien umzugehen, die dort aufkamen. Gemessen daran, dass wir ein Feierabendparlament haben und diese Menschen für eine geringe Aufwandsentschädigung 20 Stunden pro Woche und mehr diesen Job machen, halte ich eine solche Aggression ihnen gegenüber für komplett absurd.
Das Gegenteil von common sense
HHF: Die Politikverdrossenheit scheint mittlerweile vielerorts in Aggression gekippt zu sein.
Dagrun Hintze: Ich finde die Undifferenziertheit des Feindbildes “Politiker” schockierend. Und ich hatte gehofft, dass man sich in so einem offenen Bühnenformat besser verständigen kann. Wer sollte das denn sonst hinkriegen, wenn nicht diese engagierten Menschen, die sich hier freiwillig zusammengefunden haben? Glücklicherweise gab es dann aber auch sehr viele positive Rückmeldungen aus dem Publikum.
Ron Zimmering: Ich hatte von der Veranstaltung eigentlich mehr common sense erwartet, da die Zuschauer doch alle aus einer ähnlichen Richtung kommen. Dass sich dann trotzdem solche Fronten gebildet haben, hat mich geschockt.
HHF: Das hat mich auch wirklich verblüfft. Ehrlich gesagt dachte ich am Anfang der Veranstaltung, dass das ein sehr langer Abend werden würde, als ich die Menge der Forderungen aus den Factories sah. Wie soll man zu all dem vernünftig Stellung nehmen? Im Endeffekt war ich überrascht, wie ich letztlich “dran” geblieben bin – nicht nur aufgrund der Aggression im Raum, sondern weil die Inhalte von den Teilnehmern wirklich toll aufbereitet waren.
Dagrun Hintze: Wenn ich so was noch mal machen würde, würde ich mich bei den Inhalten sicher etwas beschränken. Fünf Gruppen haben immerhin einen ganzen Tag an ihren Forderungen gearbeitet – wie kriegt man das alles an einem Abend unter? Ich denke, wir hätten da reduzieren müssen. Andererseits ging es ja gerade darum, die Bandbreite zu zeigen.
Ron Zimmering: Uns war es ein Anliegen, dem Gehör zu verschaffen, woran die Teilnehmer acht Stunden gearbeitet hatten.
HHF: Durch eine Beschränkung hätten einzelne Aspekte natürlich inhaltlich tiefer gehend diskutiert werden können. Nichtsdestotrotz: Je mehr Abstand ich zu der Veranstaltung gewonnen habe, desto mehr habe ich eure Entscheidung für die Bandbreite verstanden.
Dagrun Hintze: Die Frage ist natürlich immer, ob man von der Dramaturgie einer Veranstaltung her denkt – dann würde man es sicher anders machen –, oder ob man den Schwerpunkt darauf legt, dass einmal alles gehört wird.
Spektakuläre Ideen der Antike
HHF: Welche Form habt ihr für die Inszenierung des Abends selbst gewählt?
Ron Zimmering: Hier greifen mehrere Formen ineinander: Es gibt chorische Elemente, in denen die Texte von Dagrun vorkommen und die mit unserem Chorleiter Marc Aisenbrey von der Hochschule für Musik und Theater Hamburg geprobt werden. Dazu kommen partizipatorische Elemente, an denen das Publikum beteiligt ist, und biografische Passagen vom Bürgerchor. Ergänzt werden diese Teilaspekte durch die “Alltagsexperten”, also Menschen, die etwas aus ihrer Expertise heraus erzählen, wie beispielsweise dem Schöffen.
Insgesamt möchten wir die inhaltlichen Aspekte zu starken Thesen verdichten und unseren Bürgerchor dazu mit seinen biografischen, individuellen Erfahrungen ins Verhältnis setzen. Es geht uns nicht darum, Erkenntnisse zur Demokratie zu referieren oder den Zuschauern Wissen zu präsentieren. Ebenso wenig sollen ausschließlich persönliche Befindlichkeiten im Fokus stehen. Wir möchten den Bogen zwischen fundierter Information und persönlicher Erfahrung spannen.
Dagrun Hintze: Da kommt natürlich immer die Frage auf, worin sich was spiegelt. Demokratie besteht ja aus dem Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft und umgekehrt. Deswegen finde ich die Entscheidung für den Chor wichtig. Die Frage ist tatsächlich immer: Wie setzt man sich ins Verhältnis.
HHF: Wenn man sich mit der Herkunft der Demokratie beschäftigt und im antiken Griechenland landet, ist man ja auch schnell beim klassischen Dramenbegriff. Und dort war doch genau das die Form: das Individuum, das sich zum Chor ins Verhältnis setzt. Dazu macht euer Bogen ja auch noch mal einen Bezug auf – und das Spannende ist doch: offenbar aus der Notwendigkeit der von euch gewählten Form heraus und nicht, weil ihr das griechische Drama als Vorbild genommen habt.
Dagrun Hintze: Das hängt ganz konsequent mit der Herkunft zusammen. Was ich im Zuge der Recherche an Details erfahren habe, wie die Demokratie im alten Griechenland organisiert war, ist wirklich spektakulär. Beim Lesen dachte ich mir oft, Mist, die hatten doch schon alles begriffen, die haben wirklich viel gewusst. Viele sagen, dass sich der damalige Demokratiebegriff nicht auf ein großes Gemeinwesen wie Deutschland oder gar Europa übertragen ließe. Aber ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass man sich all das noch mal genauer ansehen sollte.
HHF: Ron, warst du von Anfang an dabei, oder wurdest du erst später dazugeholt?
Ron Zimmering: Die Initiatorin und künstlerische Leiterin des Projekts ist ganz klar Dagrun. Sie hat auch die Anträge zur Förderung gestellt und mich dann als Regisseur angesprochen dazuzukommen. Bei der Konzeptionierung der Factories etc. war ich dann schon Teil des Teams. Im ersten Part war ich beobachtend dabei und jetzt bei der Inszenierung sehe ich meine Verantwortung als Regisseur darin, alles zu einem Ganzen zusammenzufügen.
HHF: Woher kennt ihr euch?
Ron Zimmering: Obwohl meine Mutter niemals mit dem Gedanken gespielt hatte, Theater zu machen, fand sie sich bei einem partizipatorischen Theaterprojekt in Dresden wieder, wo Menschen jüdischer Herkunft gesucht wurden. Dagrun schrieb für das Projekt die Texte.
Dagrun Hintze: Rons Mutter erzählte mir natürlich von ihrem Sohn, und deshalb habe ich mir dann sein Projekt “heimaten” am Jungen Schauspielhaus angesehen. Als wir für “Staging Democracy” einen Regisseur suchten, der schon mal mit partizipativem Theater und mit Stückentwicklungen zu tun gehabt hatte, fiel Ron mir sofort ein. Matthias Schulze-Kraft kannte ihn auch schon von einigen Arbeiten. Budgettechnisch war natürlich außerdem von Vorteil, dass Ron in Hamburg lebt.
Der Laienfalle entkommen
HHF: Zum Thema “partizipatives Theater”: Mit Laien zu arbeiten, ist ja etwas ganz Spezielles. Wie führt man sie vor allem an künstlerische Texte wie die von Dagrun heran?
Ron Zimmering: Zunächst mal sind sie für mich keine Laien, sondern Alltagsexperten. Ich gucke mir sehr genau an, wo das Potenzial liegt. Und das liegt hier natürlich nicht darin, diese Menschen im Spiel zu Figuren zu bringen, denn versuchen sie etwas, was andere viel besser können, und am Ende bleibt es immer Laientheater. Der Versuch ist, dem Ganzen eine inszenatorische Form zu geben, wo sie mit ihrer Biografie zu Hause sein können. Die starken Möglichkeiten liegen meines Erachtens gerade im Laienhaften, darin, dass da jemand nicht bewusst spielt, sondern von sich erzählt. Die Persönlichkeit und Biografie dieser Menschen ist das Potential für diese Inszenierung.
Trotzdem haben wir natürlich auch Texte, für die es etwas Artifizielles braucht, um aus der Laienfalle rauszukommen. Dafür gehen wir auf chorisches Sprechen, was eine enorme Archaik und Kraft hat. Da haben wir dann wieder die Reminiszenz an die Antike – und geben dem Ganzen eine strenge Form, die sich gut proben lässt.
Dagrun Hintze: Form ist das Stichwort. Bei nicht-professionellen Darstellern ist die Form entscheidend, um alles zusammenzuhalten.
HHF: Ketzerische Frage: Ihr macht einen demokratischen Abend. Welches Mitspracherecht haben eure Darsteller?
Ron Zimmering: Das ist insofern eine spannende Frage, weil ich finde, Kunst ist ja auch Diktatur. Für mich muss nicht in jedem Prozess demokratisch entschieden werden. Es gab vorab den Selbstversuch, der komplett von den Teilnehmern gestaltet wurde und die Bürgersprechstunde zum Ziel hatte. Und jetzt gibt es eine Inszenierung mit einem Regisseur. Ich sehe es als meine Aufgabe, dem Ganzen eine Form zu geben, und dabei wird nicht demokratisch entschieden. Trotzdem möchte ich niemandem einfach Texte in den Mund legen. Hier kommen die Versuchsanordnungen ins Spiel. Ich versuche, Improvisationsraster zu schaffen, die sie mit ihren eigenen Worten füllen können.
Insgesamt setze ich also – absolut diktatorisch – Rahmen, die Inhalte aber werden von den Teilnehmenden generiert – und von uns im Nachhinein geordnet und geformt. So habe ich das Gefühl, dass sie an der Entstehung wesentlich mitbeteiligt sind. Und man merkt, das sind Menschen, die eine Frage an die Demokratie haben, sich ein Vierteljahr mit dem Thema auseinandersetzen und ihre Meinung dann auf der Bühne vertreten, keine Marionetten, die lediglich Inhalte auf der Bühne transportieren.
Dagrun Hintze: Diese Theaterform heißt ja nicht umsonst „professionelles Theater mit nicht-professionellen Darstellern“. Ich finde den Anspruch essenziell, dass das eine Kunstform ist und dass Profis diese Arbeit machen müssen, weil es sonst nur Gewurstel wird. Wir haben das letzte Wort, weil wir diese Profis sind. Natürlich wird niemand auf der Bühne etwas machen, was er oder sie nicht will. Und natürlich muss man teilweise andere Überzeugungsarbeit leisten als mit Schauspielern, aber es ist uns wichtig, dem Ganzen einen künstlerischen Rahmen zu geben, der die Teilnehmer und trägt
Ron Zimmering: Ich glaube, dass genau das letzten Endes geschätzt wird. Unsere Darsteller wissen, dass sie ein Feld haben, an dem sie mitwirken, aber dass der professionelle Rahmen dazu führt, dass sie nicht die Last des Stückes schultern müssen. Wir proben einmal pro Woche, und in dieser kurzen Zeit ist ein komplett demokratischer Prozess gar nicht zu leisten.
Dagrun Hintze: Sie verlassen sich auf uns und vertrauen auf das, was wir tun. Die Grundlage dafür muss man bei solchen Produktionen erst mal schaffen. Der Rahmen ist ja auch Schutz.
HHF:Wäre eine solche Produktion in einem der Hamburger Stadttheater möglich?
Dagrun Hintze: Aber klar, ich habe solche Produktionen schon in Düsseldorf, Dresden und Aalen am Stadt- und Staatstheater gemacht. In Karlsruhe, Rostock, Stendhal etc. gibt es auch extra eingerichtete Bürgerbühnensparten. Oft hat die Qualität derselben viel mit Budget zu tun. Dresden ist da beispielsweise vorbildlich, dort wurde richtig Geld in die Hand genommen. Von Kampnagel bis an die Münchener Kammerspiele wurde und wird auch immer wieder mit partizipatorischen Formen gearbeitet. Partizipatorisches Theater hat sich also nicht nur in der Freien Szene durchgesetzt, es ist immer weiter in die Institutionen gegangen, als eine Form, die das Theater von innen heraus erweitern kann. Es geht ja nicht um Konkurrenz zur Schauspielsparte, was viele Kritiker immer wieder befürchten, sondern um eine Erweiterung des Stadt- und Staatstheaters.
Und natürlich muss man sagen, dass weder das Thalia Theater noch das Schauspielhaus diesbezüglich Vorreiter sind, was aber möglicherweise einfach an der Großstadt liegt. In mittelgroßen und kleinen Städten funktioniert das deutlich besser, weil die Identifikation mit den Häusern größer ist. Insgesamt kann man sagen: Klar wäre es möglich, aber eben nicht nebenbei. Wenn man so ein Projekt macht, kostet das enorm viel Zeit, Organisation und Verbindlichkeit. Das wird oft unterschätzt.
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