Es ist alles nichts. “Aber man will doch betroffen sein” – so war es im Gemurmel nach der Thalia-Premiere von “Draußen vor der Tür” zu hören. Dazu taugt er überhaupt nicht, dieser Abend. Keine “Gasmaskenbrille”, kein klapperdürrer Kriegsheimkehrer, keine Uniformen und keine Kriegsdarstellungen, schon gar nicht moderne. Und auch kein Bekenntnis. Nichts.
Dieser Text, die Ikone der Nachkriegsliteratur, ist zu hinterfragen. Er ist jämmerlich und mitleidig, selbstverliebt und schmerzverzerrt. Und er stellt außer der Betroffenheit über das eigene schreckliche Schicksal keine relevanten Fragen über die Vergangenheit der “verlorenen” Generation (auch das ein Euphemismus), die zu Kriegsende im Jahr 1945 gerade knapp über 20 wer. Aber es gibt keine Schuldfrage und wenn es in diesem Text um Verantwortung geht, dann nur darum, sie wieder aus seinem persönlichen Raum abzugeben. Das eigene Leiden ist groß, die Verzweiflung, aber auch das Selbstmitleid. Wolfgang Borcherts Sprache ist metaphernschwanger und redselig, es ist die Sprache dieser Generation, die, wie immer wieder gesagt wurde, aus den deutschen Klassenzimmern in die Schlacht geschickt wurde – wohlgemerkt “wurde”. Der Erlebnisse des Krieges werden weggeredet, früher nannte man das, immer noch leicht heroisierend wie in der Wochenschau, “Bewältigung”. Heute nennt man das Traumatisierung, die Verdrängung dieses Traumas hat noch die Generationen danach tief geprägt, erst in jüngster Zeit hat man sich der “Kriegskinder” und “Kriegsenkel” in der Forschung angenommen. Viele der sozialen Deformationen in Deutschland fußen auf diesem Trauma. Borchert konnte nichts anderes als diese Befindlichkeiten ausdrücken, so ist sein Text zu verstehen, als Zeitdokument. Es ist ein historischer Text in einer historischen Aussage. Hamburg hat nun seine besondere Geschichte damit – Borchert aus dieser Stadt, Ida Ehre, Kammerspiele, das kurze Leben, der lange Ruhm, hier ist die Heimat dieses Stückes – kaum einer der Premierenbesucher hat das Drama nicht als “deutsches Antikriegsdrama” in von seinen angerührten Nachkriegspädagogen präsentiert bekommen. Ein antifaschistisches Drama aber ist es nie gewesen.
Will man diesem Fatalismus des zurückgelehnten Betroffen- und Berührtseins entgehen, kann man dieses Stück nicht spielen. Darf man es nicht spielen. Oder man muss es anders machen. Das hat Luk Perceval versucht und es ist ihm in großen Teilen gelungen. Er reduziert, und das sehr gründlich. Er bricht kühn und kalt die dräuenden Anklagetexte auf, verknappt den traurigen Sermon Beckmanns besonders zum Schluss hin und er verzichtet vor allem dankeswerterweise auf jeden Bezug zu aktuellen Ereignissen. Kein Afghanistan-Zitat, keine “Nie-wieder-Krieg”-Parole, kein Pershing und kein “Make love not War”. Er gibt dem Borchertchen Stationendrama eine musikalische Struktur, drei textlich-musikalische Crescendo-Wellen schaffen das Gerüst, das ganz aus der Ferne an eine Sonatensatzform erinnern kann. Immer wieder verdichten sich Text und Spiel im Laufe einer diesen szenischen Substrukturen zu einem derart martialischen Forte fortissimo, das es Zuschauer und Darstellern zur völligen Erschöpfung treibt.
Der Bass dringt bis in die Tiefe der Magengrube, der Sound wird körperlich erfahrbar, die Bühne bebt. Das erinnert in Gestus und Stil an den unseligen Curt Cobain, einen anderen verzweifelt Entgrenzten. Der Entwicklung der Kernszenen wird textnah und relativ behutsam aufgebaut, kippt in seiner musikalische Klimax aber über in die komplette Zerstörung von poetischer Form und Empfindung. Diese musikalische Lesart tut den Schwächen des historischen Textes ausgesprochen gut, der vorgegaukelten Empfindung, der Betroffenheit wird die musikalische Destruktion entgegengesetzt. Da ist es nichts mehr mit dem Zurücklehnen, es schmerzt anders. Beckmanns innerer Schmerz wird spürbar bis in die eigenen Knochen.
All das findet unter einem schräg gehängten Spiegelhimmel statt, der den Raum enorm zwar erweitert – fast schaut man mehr in diesen als in die direkte Bühnenhandlung – sondern auch immer wieder durch den gewaltigen Schalldruck gegen Ende der jeweiligen Szenenphase in Schwingungen gerät. Dadurch verschwimmen die klaren und oft hart verschatteten Bilder, erzittern und werden diffus. Das nicht Greifbare wird sichtbar, Erschütterung wird bildhaft. Ein erstaunlicher Effekt, der allerdings hohe Konzentration erfordert, um ihn mitzubekommen. Sonst ist auf dieser Bühne nichts, ein Mikrofonständer, eine Monitorbox, das war’s. Die Bilder, die entstehen, entstehen aus der Konkretisierung des Nichts. Einer der stärksten Momente ist die Schauspieldirektorenszene, hier wird die Spiegeldecke zur Leinwand. Felix Knopp falsettiert Beckmanns Lied am Boden liegend, im Lichtkegel eines einzelnen Spotlights, zu sehen ist er vor allem im Spiegel. Er kreist im Liegen um den Mittelpunkt des Lichtkreises, als ginge auf der dessen innerer Kante. Die Stimme bricht, der Mann auch. Das ist eindrucksvoll. Man will doch betroffen sein. Hier passiert das.
Es ist müßig, an diesem Abend über die Darstellerleistung von Felix Knopp (Beckmann), Barbara Nüsse und Peter Maertens (alle anderen) allzu viele Worte zu verlieren. Ob Knopps harte Grunge-Pose, ob Nüsses virtuose Rollenwechsel oder Maertens lakonische Konterkarierung seiner Figuren, all das ist stark. Ein wenig schwierig erscheint die Eingliederung der Eisenhans-Gruppe, eines integrativen Theateprojekts mit behinderten Menschen, die immer wieder kommentierend eingesetzt wird, mal als lemurenhafte Kinderschar, mal als matzerathsche Uniformposse. Das verdient das Etikett “beachtlich”, aber ist in seiner Wirkung hart an der Grenze zur Desavouierung. Sei es drum, die Freude, die die Gruppe über den gelungenen Abend beim Schlussapplaus zeigt, ist das Gegenteil davon.
Was bleibt? Kein Antikriegsstück, keine poetische Annäherung an den Text, keine Traditionsbezug. Es ist in Stück über innere Zerstörung, über das, was man mit einem Menschen “macht”. Ein Stück gegen das Heucheln. Und damit erreicht man heute wahrscheinlich mehr als mit bravem Bekenner-Pazifismus.
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