Ein Abend, zwei Collagen. Eine über das Leben. Und eine über das Sterben. Jens Bluhm vom Wiener Max Reinhardt Seminar setzt sich in “In Euren Augen“ mit dem fremden Blick auseinander. Als „Schaulust-Projekt“ bezeichnet er seine – zunächst scheinbar – lose Szenenfolge, die sich letztlich auf ganz wundersame Weise zu einem verschränkten Ganzen fügt.
Der rote Samtvorhang, lose an einer Wäscheleine befestigt, hebt sich zu Beginn nicht etwa, nein, eine junge Schauspielerin, die aus den Publikumsreihen kommt, stolpert in ihn hinein, reißt ihn zu Boden und stürzt. Sie gibt den Blick frei auf ein Sammelsurium aus Fenstern, Spitzengardinen, Wäscheleinen, Spiegeln, kurz: auf ein Archiv der Dinge, durch die wir hindurch- und in die wir hineinblicken. Und da sehen wir Geschichten, wie der Alltag sie schreibt. Von der alten Dame, die beim Blick aus dem Fenster die Bäckerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite vermisst. Von der Tänzerin, die sich die Maske vom Gesicht nimmt, kopfschüttelnd ins Publikum sieht und sagt: “Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll mit Ihnen und mir.” Von Partygirls, die sich auf der Toilette treffen; und während die eine munter in den Mülleimer kotzt, spielt die andere mit ihrem Kaugummi und sagt “Ich hatte grad’ Sex auf dem Klo mit dem Produzenten.” Die andere hört auf zu würgen, sieht gotterbärmlich klein aus dabei und fragt ernsthaft “Hast du schon mal auf dem Dach?” Und die erste sagt “Ne, ich bin eher der Klotyp.”
Zu Voyeuren werden wir von Szenen, die wir nicht sehen wollen. Der Tierstimmen-Experte, der vor dem Dokumentationsfilm über das Paarungsverhalten der Antilopen in den Pelz seiner Gattin onaniert. Um sich gleich danach in neuer Rolle ans Klavier zu setzen und herzzerreißend “Forever Young” von Alphaville zu interpretieren, während die beiden Damen des Dreier-Ensembles sich gekonnt in Bordsteinschwalben verwandeln. Der Passant, den sie hineinlocken möchten, ist wiederum der Tierforscher, der eigentlich ins Theater möchte. Und so gibt eine Szene die nächste, geben sich die Figuren die Klinke in die Hand, ziehen sich die Schauspieler hinter den Spitzenvorhängen um – und plötzlich verschränkt sich auf seltsame Weise die schöne Kunst mit dem hässlichen Leben. Und die Voyeure sitzen im Publikum bei der Beobachtung dieses munteren, ein wenig wienerisch-morbiden Reigens. Wenn dann die alte Dame vom Beginn durchs Fenster hindurch abgeht und den roten Samt hinter sich herzieht, ihren ganz persönlichen letzten Vorhang, entringt sich dem einen oder anderen Voyeur ein Seufzer. Zum Glück bricht Bluhm die Melancholie, indem er die anderen Schauspieler währenddessen energisch die Bühne leer räumen lässt. Der Vorhang kommt wieder an die Wäscheleine. Und der letzte macht das Licht aus.
Eine halbe Stunde später: “Dreileben”, Beitrag der Theaterakademie Hamburg. Das Konzept: Drei Studierende erzählen drei Lebensgeschichten, die nicht ihre sind. Es sind die Geschichten dreier Menschen, die sterben werden. Sie sind im Hospiz, in einem Altersheim, in einer Privatwohnung. Regisseur Gernot Grünewald hat seine Schauspieler zu ihnen geschickt. Er selbst hat sie nicht getroffen, sondern sich die Geschichten erzählen lassen und sie zu einem Ganzen montiert, das – wenn wir ehrlich sind – kein Ganzes ist. Dazu sind die Lebensentwürfe und Sterbensgeschichten der drei Menschen auch viel zu unterschiedlich.
Auf der Bühne steht nicht viel, das sich zu einem Leben zusammenschustern ließe.
Fünf mit Gaze bespannte rollbare Rahmen gibt es, die immer wieder unterschiedlich verwendet werden. Für Projektionen. Als Wand. Als Schauspieler-Guckkasten. Was gerade so einfällt. Es wird viel gerannt auf der Bühne. In Mikrophone gehustet, geschnalzt, gesprochen, geloopt. Das volle Programm der technischen Möglichkeiten ausgetestet, aus Stühlen Türme gebaut. Manchmal wirkt das beliebig. Manchmal entstehen ganz wundersame Assoziationsketten und Bebilderungen für das Erzählte.
Die drei Studierenden erforschen den Tod. Sie sind jung. Sie sind gesund. Und eine von ihnen ist sogar schwanger. Wie soll man da über den Tod erzählen? Aber sie tun es einfach. Sie horchen in ihre Interview-Aufnahmen hinein, den Kopfhörer im Ohr und erzählen parallel dazu, was sie hören: “Und dann hab ich sie gefragt, ob ihre Krankheit sie sehr einschränkt. Und sie hat gesagt, ich leb’ nicht für oder gegen meine Krankheit, sondern mit ihr.” Das ist erzählte Geschichte auf der Bühne. Und auf eine Weise ist man froh darüber, dass diese Menschen einen Raum bekommen, dass ihr Leben erzählt wird, ihre Wünsche, Träume, Sehnsüchte, Enttäuschungen. Und auf der anderen Seite ist man gereizt von diesem Experiment, dieser kühlen Versuchsanordnung, die pseudo-nüchtern auf unseren Blick auf das Tabuthema Tod abzielt. Auch hier die Verschränkung von Kunst und Leben – oder besser: Sterben – aber ganz bewusst entzaubert. Gefilmt. Digitalisiert. Kommentiert. Und durch die Beatbox gejagt.
Zwei mal drei Schauspieler, zwei Inszenierungen, ein Publikum, ein Blick. Zwei ganz unterschiedliche Sichtweisen, was Theater ausmacht, was die Bühne kann und darf. Eine ganz nüchterne Rechnung. Gewonnen hat beim Körber Studio Junge Regie der kühle Blick, hat die Technik, hat das Gerenne und die Projektion. Die Begründung der Jury: “Die Inszenierung behandelt das Thema ‘Tod’ sehr sensibel, spannend und interessant. Es entsteht kein ‘Betroffenheitstheater’, was in erster Linie der Textentstehung zu verdanken ist. Bemerkenswert sind das Rechercheverfahren und die unterschiedlichen auktorialen Erzählebenen sowie der gekonnte Umgang mit medialen Mitteln. Ein Abend, der mutig entschieden in den Dienst eines Themas gestellt wird: Einen Ort und eine Sprache für diejenigen zu finden, die keine Stimme mehr haben.”
Beides hat seine Berechtigung. Beides darf sein. Die Rezensentin betrachtet das nüchtern. Und möchte trotzdem immer noch gern verzaubert werden im Theater. Wenn nun bei einem Wettbewerb der Regiehochschulen – also der Regiehandschriften von morgen – die Sprache ohne Zauber gewinnt – sagt das etwas aus über das Theater, das wir wollen? Muss Theater künftig nüchtern in den “Dienst eines Themas“ gestellt werden? Der Vorhang bleibt offen und alle Fragen auch.
es würde mich schon interessieren, was eine “auktoriale erzählebene” (Begründung der Jury) ist. (wer denkt sich denn sowas aus? soll das für den mangel an sinnlichkeit herhalten? wird theater gedacht oder erlebt?)
thomas
Da steht tatsächlich Konzepttheater (Hamburg) gegen ein Stück, das sich aus dem Szenenstudium eines Regiestudenten mit drei Schauspielschülern entwickelt hat (Wien). Unterschiedlicher könnten die Ansätze kaum sein. Die Entscheidung der Jury zeigt ja eigentlich nur, dass das Sichtbarmachen eines Konzeptes auf der Bühne ihren Respekt verdient. Und wenn das Konzept so gut ist, dass man ihm das “Gedachte” nicht mehr ansieht, kann es sicher auch “erlebbares” Theater werden. Ich habe das bei dem Beitrag der Akademie allerdings keine Sekunde so empfunden.