Hel, Twelve Points

Expressionismus und Populärmusik. Über die Fortsetzung einer deutschen Tradition beim diesjährigen Eurovision Song Contest

Birth of a Nation?

Es war eigentlich nicht viel Hoff­nung. Wenn man die großen Fernse­hgalas und Preisver­lei­hun­gen der let­zten Jahre auch nur spo­radisch ver­fol­gt hat, dann, ja dann kon­nte man außer Still­stand nicht viel sehen. Gala im deutschen Fernse­hen hieß nach Mei­n­ung der Pro­gram­m­mach­er offen­bar, eine Ansamm­lung mehr oder min­der promi­nen­ter Branchen­fig­uren auf Sitzhussen­stüh­le zu set­zen, einige davon als Lauda­toren für ominöse Kat­e­gorien eben­so ominös­er Preise zu beset­zen und dazwis­chen soge­nan­nte “Show-Acts” einzu­flecht­en, deren Prove­nienz nach dem Aschen­put­tel­muster deutsch­er Talk­shows nachzu­ver­fol­gen war: Ein Ossi, ein Wes­si, ein “Come­di­an” und ein “inter­na­tionaler Star”, der dann aber entwed­er den Zenith sein­er Kar­riere um Jahrzehnte über­schrit­ten haben musste oder aber als unbekan­nter New­com­er eine große Kar­riere voraus­ge­sagt bekam, die dann in Folge niemals ein­trat. Wichtig­stes Merk­mal dieser Sendun­gen war in der Regel die völ­lige Inhalt­slosigkeit und vor allem der fehlende Bezug zum The­ma, mit Schaud­ern mag man sich an den schon beina­he greisen Phil Collins erin­nern, der den Deutschen Radio­preis gar­nieren durfte, dessen Beset­zung aber wahrschein­lich in ein­er Kon­senssitzung beschlossen wurde – tut keinem weh, ken­nt eh jed­er, The­ma irrel­e­vant. Präsen­tiert wurde entwed­er von einem mehr oder min­der deko­ra­tiv­en Kärtchen­hal­ter oder nach dem Sender­pro­porz einge­set­zter “Gesichter”. Oder man denke an die furcht­bare Fehlbe­set­zung der bemitlei­denswerten Ina Müller beim Echo, die als Allzweck­waffe der Aben­dun­ter­hal­tung ver­heizt wurde – dabei hat nun aus­gerechtet diese großar­tige Unter­hal­ter­tal­ente, nur nicht für den Großevent.

Nun aber stand ein inter­na­tionales Fernse­hereig­nis ins Haus, der Euro­vi­sion Song Con­test, inhaltlich sicher­lich ohne große Bedeu­tung, aber eines der Fernsehre­lik­te von großer Iden­titätss­tiftung für Land und Leute. Eine Vis­itenkarte sozusagen. Man kon­nte also ob dieser Vorgeschichte ban­gen, als schon im Vor­feld der Name Judith Rak­ers als Beset­zung für einen der Mod­er­a­toren­posten fiel, wieder eines der tal­ent­freien, massenkom­pat­i­blen TV-Gesichter, das für den aus­rich­t­en­den NDR ste­hen sollte. Und dann kam der Abend des 14. Mai 2011. Und es war tat­säch­lich anders. Ganz anders

Schon die erste Vier­tel­stunde ein Gewit­ter – die blonde Staffage­fig­ur Rak­ers posierte im Glitzerkleid und über­ließ dankenswert­er­weise das Ter­rain zwei echt­en Kön­nern ihres Metiers. Was Anke Engelke und Ste­fan Raab da instal­liert hat­ten, das erin­nerte an die große Zeit der Enter­tain­er, die dieses Land ein­mal hat­te. Sie kön­nen sprechen, sin­gen, sich insze­nieren und tat­säch­lich orig­inell sein. Wer dabei an Namen wie Cate­ri­na Valente, Har­ald Juhnke oder Peter Franken­feld denkt, liegt dabei nicht verkehrt. Keine Mod­er­a­tionskartenbestar­rer, echte Men­schen mit Spaß an der Sache – das im deutschen, öffentlich-rechtlichen Fernse­hen war eigentlich kaum zu glauben. Raabs Hom­mage an die Vor­jahres­gewin­ner­in, vielfach geschmäht sie und ihr Men­tor, war der­ar­tig ver­spielt, wie es kein­er deutschen Seele je ein­fall­en würde, und als der Vorhang zer­riss und ein Big-Band-Gebläse in echter Jump’n Jive Manier die Mauern der Euro­vi­sion­feste zusam­men­fall­en ließ, war es klar: Wir sind wieder wer. Wir sind ESC.

Denn, da war einst etwas in diesem Land. Nicht die bürg­er­lich-braven Nachkriegsen­ter­tain­er, die so viele Tal­ente im ger­ade entste­hen­den neuen Medi­um zeigen kon­nten, son­dern vorher. Etwas das ver­loren schien, ver­nichtet durch kul­turelle Bar­barei und den Exo­dus ein­er ganzen kul­turellen Kaste, die Witz, Con­férence, Musikalität und das vere­inte, was wir heute unter StandUp-Tal­ent erken­nen, geboren aus Expres­sion­is­mus und dem Rest der Stahlge­wit­ter. Zum Klis­chee geron­nen schon ist Joel Greys exaltierte Con­férence in “Cabaret”, aber das ist eine mat­te Erin­nerung. Diese Unter­hal­tungskün­stler gin­gen und haben eine kalte Einöde hin­ter­lassen. Es kamen die Sys­temkon­for­men, es kamen Heinz Rüh­mann, Ilse Wern­er, die immer­hin Musik machen kon­nte und andere Spießer. Das war die deutsche Unter­hal­tung. In New York und Los Ange­les macht­en die Ver­triebe­nen und Geflo­henen weit­er, sie macht­en Enter­tain­ment. How would Lubitsch do?

Nicht etwa, dass eine Ver­ar­beitung dieser Geschichte gegeben hätte, höch­stens in Sem­i­narar­beit­en klein­er Forschungsstellen für Exil­lit­er­atur. Kein­er fragte mehr nach Dol­ly Haas, die schon 1936 ging, im Angesicht dessen, was kom­men würde. Gewiss fragte sich auch nie­mand bei der ARD ob ein­er deutschen Unter­hal­tungstra­di­tion. Doch – es ist anscheinend ein klein­er Keim geblieben, in den Ideen und in Per­so­n­en, und das der nun aus­gerech­net beim Euro­vi­sion Song Con­test die Ober­fläche durch­brach, ist, wenn nicht Wun­der, doch ein Zeichen. Denn, als hätte sich jemand des Still­stands beson­nen, als wäre es den Plan­ern des ESC endlich bewusst gewor­den, dass Tra­di­tion sich nicht in der ret­ro­graden Besin­nung auf einen Neo-Swing­bu­bi erschöpft, haben die Pro­duk­tions­fir­ma Brain­pool, ARD-Unter­hal­tun­sgko­or­di­na­tor Thomas Schreiber oder sonst­wer aus dem Vollen geschöpft. Von der ger­adezu per­fide-genialen Idee, die Ein­spiel­er, die die einzel­nen Teil­nehmer­län­der vorstellen, mit “Gas­tar­beit­ern” aus eben jenen Län­dern zu beset­zen, im Übri­gen wer­berisch glänzend im zur Zeit en vogue befind­lichen Tilt-Shift-Effekt umge­set­zt, der Miniatur­land­schaften sug­geriert (was auch als Kon­terkarierung “Großdeutsch­lands” zu lesen wäre) bis hin zur großzügi­gen Büh­nenkon­struk­tion Flo­ri­an Wieders, die den Gedanken an spießige Klein­teiligkeit gar nicht erst aufkom­men ließ, alles eine große Revue, Ziegfeld Fol­lies, Bus­by Berke­ley, großer Aufritt.

Und schließlich, der eigene, der nationale Auftritt. Natür­lich nach dem Erfolg des let­zten Jahres ein aus­sicht­slos­er Akt, klar von Anfang an, dass es hier nicht um einen Sieg gehen sollte, son­dern um ein State­ment. Nicht etwa das harm­lose Elekro-Lied­chen “Tak­en by a Stranger” ist da der Nucle­us der Präsen­ta­tion, vielmehr ist es optis­che Präsenz. Die vorher belächel­ten Tänz­erin­nen in Sil­ber­lamée, die strahlende Lichtregie und die Mul­ti­plkation der Sil­hou­et­ten auf der riesi­gen Pro­jek­tions­fläche – das war der Blick in die Zeit vor dem Exo­dus, der Augen­blick Fritz Langs und des deutschen kine­matographis­chen Expres­sion­is­mus. Hel, 12 Points.

Birth of a Nation?

3 Kommentare

  1. hal­lo,
    das ist ja der ham­mer, unter diesem aspekt hat­te ich lena’s auftritt noch gar­nicht bew­ertet. aber er kön­nte nach der bild­sprache tat­säch­lich aus metrop­o­lis stam­men. und hätte fritz lang flash gor­don ver­filmt hätte er bes­timmt auch die sil­ber­nen anzüge ver­wen­det.
    viele grüsse ein fan (fritz lang und lena)

  2. Wirk­lich ein wun­der­schön­er klein­er Essay, der den let­zten ESC auch ein­mal in einen größeren Zusam­men­hang stellt und nicht nur hechel­nd unter news abhan­delt. Der let­zte Abschnitt, die finale Aus­sage, spiegelt genau meine Wahrnehmung die sich schon seit den Proben verdichtete. Der Haupt­teil brachte mir wichtige Anre­gun­gen die gesamte Gestal­tung des grand final noch ein­mal zu reflek­tieren.

  3. Danke für diesen Beitrag.
    Eigentlich hätte es nach dem ESC so, oder ähn­lich in jed­er Presse ste­hen können/müssen. Dann wären die Jour­nal­is­ten dem Pub­likum­sempfind­en sehr nahe gekom­men. Es ist schade, dass sich nur wenige trauen, weil sie mehr oder weniger erst ein­mal ihren Zeitungkonz­er­nen und dessen Inter­essen verpflichtet sind. Da ist es ein Und­ing von der RTL-Bild-Frak­tion zuzugeben, dass eine ARD-Pro7-Unter­hal­tun­sshow mehr als gelun­gen ist. An Stelle dessen wer­den ganz schnell Ein­schaltquoten zu Hil­fe genom­men und mit DSDS ver­glichen. Wenn DSDS bei den Sendern weit­er­hin der Maßstab der Unter­hal­tung wäre (bed­ingt durch die Ein­schaltquoten), würde nichts neues entste­hen. Ste­fan Raab hat es geschafft den alten ESC-Zopf ein neues Gesicht zu geben unter Mith­il­fe von Anke Engelke und Judith Rak­ers.
    Ja, und da war auch noch Lena, die bere­its 2010 viele europäis­che Län­der begeis­tert hat. Die deutsche Presse sah das dann aber schon wenige Wochen später anders bed­ingt dadurch, dass sie sich nicht so ver­mark­ten lies, wie einige Zeitun­gen das gerne gese­hen hät­ten.

    Dieses Quar­tett Raab/Lena/Engelke/Rakers hat uns eine neue Unter­hal­tungsebene gezeigt und die Presse täte gut daran so etwas för­dend zu begleit­en. Dann stim­men nicht nur bei DSDS die Ein­schaltquoten.

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