Wie das Personal einem bekannt vorkommt, so vertraut: Eine kühle, blonde Frau in hochgeschlossener Bluse, den Hals mit einer Schleife verschnürt, eine Ikone des Kinos. Und ein kurz gestutzter Existenzialistenbart, und der locker über den Schultern geknotete Pullover, der klassische Sohn-aus-gutem-Hause-Look – alles sind Bilder aus dem Fundus einer cineastischen Erinnerung. Und nicht eine Spur einer heutigen Erscheinung, keine modische Aktualisierung ist hier auf der Bühne.
Vielleicht ist Niklaus Helbling bei der Ideenfindung zu seiner Lübecker “Tartuffe”-Inszenierung ja an einen der Meister der Surrealismus gekommen. Ein wenig ist es so, als stünden in der Beckergrube Catherine Deneuve, Jean Sorel und Michel Piccoli auf der Bühne. Der Kinnbart, die breiten Revers, die Schluppenbluse – eine Gesellschaft, ganz wie aus Luis Bunuels spätem Werk “Belle de Jour” herabgestiegen. Es ist ein Bild der bürgerlichen Saturiertheit, die voller Blindheit vor dem Verlust, vor der Demontage und dem Abgrund steht. Das französische Kino der 60er und 70er Jahre bietet solche Archetypen zuhauf; ein “damals”, als das Politische noch in der Luft und in der Kunst lag.
Die Geschwindigkeit, mit der dieses satte Leben sich selbst zerstört, ist ausserordentlich bemerkenswert. Selten hat man an einem deutschen Stadttheater das “clipclap” des Boulevards, die Kunst des genauen Timings und die schnellen paßgenauen Anschlüsse in solch einer Perfektion sehen können. Mit atemberaubender Geschwindigkeit, gleichermassen quälend wie zerstörend in seiner Exaktheit, bewegt sich das Spiel auf die finale bürgerliche Katastrophe, auf den Verlust der Dinge und der Werte hin. Es gibt keine Ermüdung im Spielfluß und in der Bedeutung, alle Vorgänge sind von unausweichlicher Konsequenz.
Wie wunderschön perfekt ist das, wenn etwa in der großen Enthüllungsszene des vierten Akts Dialog und Begleitmusik paßgenau in das Schweigen einer Generalpause trudeln, oder wenn Kleinigkeiten wie eine zufallende Tür akustisch verstärkt werden und auch das Sprechen in einen Hohlraum mit einem Echo versehen wird. Nichts ist da ohne Bedeutung, jede Verspieltheit in diesem Spiel kann eine neue Facette in der Person, in der Handlung, im Stück ergeben.
Auch sind die Klänge wichtig in diesen 100 Minuten Moliere. (Musik: Felix Huber) Schon zu Beginn liegt ein kaum wahrnehmbarer akustischer Teppich unter dem Gemurmel der Lübecker, pulst vor sich hin und markiert in einem raschen Crescendo den Anfang. Nicht viel später tritt der junge Valère (Jörn Kolpe) auf, mit sich im Gepäck die bürgerlich-musikalische Phantasie der großen Liebessehnsucht, einen Hauch des Tristanakkordes schleppt er hinter sich her. Auch hier ist die Dosierung mikroskopisch, aber stützend. (Nota: Helblings eigenes Ensemble nennt sich Mass & Fieber – der Deutungsraum mag da schon abgesteckt sein …)
In jeder Form der Stilisierung – und davon hat die Inszenierung reichlich – steckt neben dem Willen zur Konzentration immer auch die Gefahr, sich in der Formalisierung zu verlieren. Helbling hat einen gesunden Hang zum Slapstick – nie wird vergessen, daß sich um eine Komödie handelt, nicht um einen Deklamationstext – mal hier eine akrobatische Einlage, mal dort eine absurde Choreographie zu wieder das Tempo forcierenden Electro-Beats in den Umbauten.
Ein bisschen geht bei all dem absurd-anregenden theatralischen Tschingdara die psychologische Deutungsbasis flöten. Warum nur um alles in der Welt die halbe Familie Orgons (Götz van Ooyen) dem Blender Tartuffe folgt, das erklärt der Abend nicht. Aber es zeigt die Dekonstruktion der Gesellschaft durch das Dogma, gleich welcher Art. Zum Schluß, wenn sich das Haus Orgon, und das durchaus im doppelten Sinne, selbst zerstört hat – der Bühnenraum besteht aus eingehängten Paneelen, die sich im Laufe des Abends durch vielerlei Umstände ablösen – werden auch die bürgerlichen Großinsignien abgehängt, die Kornleuchter, die den Raum den ganzen Abend nach oben begrenzt haben. Tiefer kann man nicht fallen. Und dann geht wieder der Spieler mit dem Regisseur durch, plötzlich taucht ein Mikrophon auf und ein großes Musicalfinale mit allem, was dazugehört, beginnt. Voilà, großes Theater!
Es spielen, neben den genannten, Sven Simon (Madame Pernelle), Sara Wortmann (Emire), Patrick Heppt (Damis), Lisa Charlotte Friedrich (Mariane), Thomas Schreyer (Cléante), Katrin Aebischer (Dorine) und Matthias Hermann (Tartuffe).
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