Schluppenbluse

Wie Boulevard und Politik zusammengehören: Niklaus Helblings prächtiger »Tartuffe« in Lübeck

Dreieckskonstellation (Foto: Thorsten Wulff/Theater Lübeck)
Dreieck­skon­stel­la­tion (Foto: Thorsten Wulff/Theater Lübeck)

Wie das Per­son­al einem bekan­nt vorkommt, so ver­traut: Eine küh­le, blonde Frau in hochgeschlossen­er Bluse, den Hals mit ein­er Schleife ver­schnürt, eine Ikone des Kinos. Und ein kurz ges­tutzter Exis­ten­zial­is­ten­bart, und der lock­er über den Schul­tern geknotete Pullover, der klas­sis­che Sohn-aus-gutem-Hause-Look – alles sind Bilder aus dem Fun­dus ein­er cineast­is­chen Erin­nerung. Und nicht eine Spur ein­er heuti­gen Erschei­n­ung, keine modis­che Aktu­al­isierung ist hier auf der Bühne.

Vielle­icht ist Niklaus Hel­bling bei der Ideen­find­ung zu sein­er Lübeck­er “Tartuffe”-Inszenierung ja an einen der Meis­ter der Sur­re­al­is­mus gekom­men. Ein wenig ist es so, als stün­den in der Beck­er­grube Cather­ine Deneuve, Jean Sorel und Michel Pic­coli auf der Bühne. Der Kinnbart, die bre­it­en Revers, die Schlup­pen­bluse – eine Gesellschaft, ganz wie aus Luis Bunuels spätem Werk “Belle de Jour” her­abgestiegen. Es ist ein Bild der bürg­er­lichen Sat­uri­ertheit, die voller Blind­heit vor dem Ver­lust, vor der Demon­tage und dem Abgrund ste­ht. Das franzö­sis­che Kino der 60er und 70er Jahre bietet solche Arche­typen zuhauf; ein “damals”, als das Poli­tis­che noch in der Luft und in der Kun­st lag.

Die Geschwindigkeit, mit der dieses sat­te Leben sich selb­st zer­stört, ist ausseror­dentlich bemerkenswert. Sel­ten hat man an einem deutschen Stadtthe­ater das “clip­clap” des Boule­vards, die Kun­st des genauen Tim­ings und die schnellen paß­ge­nauen Anschlüsse in solch ein­er Per­fek­tion sehen kön­nen. Mit atem­ber­auben­der Geschwindigkeit, gle­icher­massen quälend wie zer­störend in sein­er Exak­theit, bewegt sich das Spiel auf die finale bürg­er­liche Katas­tro­phe, auf den Ver­lust der Dinge und der Werte hin. Es gibt keine Ermü­dung im Spielfluß und in der Bedeu­tung, alle Vorgänge sind von unauswe­ich­lich­er Kon­se­quenz.

Wie wun­der­schön per­fekt ist das, wenn etwa in der großen Enthül­lungsszene des vierten Akts Dia­log und Begleit­musik paß­ge­nau in das Schweigen ein­er Gen­er­al­pause trudeln, oder wenn Kleinigkeit­en wie eine zufal­l­ende Tür akustisch ver­stärkt wer­den und auch das Sprechen in einen Hohlraum mit einem Echo verse­hen wird. Nichts ist da ohne Bedeu­tung, jede Ver­spieltheit in diesem Spiel kann eine neue Facette in der Per­son, in der Hand­lung, im Stück ergeben.

Auch sind die Klänge wichtig in diesen 100 Minuten Moliere. (Musik: Felix Huber) Schon zu Beginn liegt ein kaum wahrnehm­bar­er akustis­ch­er Tep­pich unter dem Gemurmel der Lübeck­er, pulst vor sich hin und markiert in einem raschen Crescen­do den Anfang. Nicht viel später tritt der junge Valère (Jörn Kolpe) auf, mit sich im Gepäck die bürg­er­lich-musikalis­che Phan­tasie der großen Liebessehn­sucht, einen Hauch des Tris­tanakko­rdes schleppt er hin­ter sich her. Auch hier ist die Dosierung mikroskopisch, aber stützend. (Nota: Hel­blings eigenes Ensem­ble nen­nt sich Mass & Fieber – der Deu­tungsraum mag da schon abgesteckt sein …)

In jed­er Form der Stil­isierung – und davon hat die Insze­nierung reich­lich – steckt neben dem Willen zur Konzen­tra­tion immer auch die Gefahr, sich in der For­mal­isierung zu ver­lieren. Hel­bling hat einen gesun­den Hang zum Slap­stick – nie wird vergessen, daß sich um eine Komödie han­delt, nicht um einen Dekla­ma­tion­s­text – mal hier eine akro­batis­che Ein­lage, mal dort eine absurde Chore­o­gra­phie zu wieder das Tem­po forcieren­den Elec­tro-Beats in den Umbaut­en.

Ein biss­chen geht bei all dem absurd-anre­gen­den the­atralis­chen Tsching­dara die psy­chol­o­gis­che Deu­tungs­ba­sis flöten. Warum nur um alles in der Welt die halbe Fam­i­lie Orgons (Götz van Ooyen) dem Blender Tartuffe fol­gt, das erk­lärt der Abend nicht. Aber es zeigt die Dekon­struk­tion der Gesellschaft durch das Dog­ma, gle­ich welch­er Art. Zum Schluß, wenn sich das Haus Orgon, und das dur­chaus im dop­pel­ten Sinne, selb­st zer­stört hat – der Büh­nen­raum beste­ht aus einge­hängten Panee­len, die sich im Laufe des Abends durch viel­er­lei Umstände ablösen – wer­den auch die bürg­er­lichen Großin­signien abge­hängt, die Korn­leuchter, die den Raum den ganzen Abend nach oben begren­zt haben. Tiefer kann man nicht fall­en. Und dann geht wieder der Spiel­er mit dem Regis­seur durch, plöt­zlich taucht ein Mikrophon auf und ein großes Musi­cal­fi­nale mit allem, was dazuge­hört, begin­nt. Voilà, großes The­ater!

Es spie­len, neben den genan­nten, Sven Simon (Madame Per­nelle), Sara Wort­mann (Emire), Patrick Hep­pt (Damis), Lisa Char­lotte Friedrich (Mar­i­ane), Thomas Schrey­er (Cléante), Katrin Aebis­ch­er (Dorine) und Matthias Her­mann (Tartuffe). 

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