Es war viel Aufbruch zu spüren, als damals in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts junge Musiker weg wollten von der Aufführungspraxis der grossen romantischen Orchester. Bach mit 100-köpfiger Besetzung schien nicht mehr zeitgemäß zu sein, der Weg ging zur Verschlankung, zu Besetzungen, die dem “Originalklang” Tribut zollen sollten und neue Hörerfahrungen von Verknappung und Reduktion bieten sollten. Die Spielweise hat sich etabliert, eine rege Szene der sogenannten “Alten Musik” hat sich seitdem entwickelt. Es scheint dies ein protestantischer Ansatz zu sein, in die Essenz und “Wahrhaftigkeit” der Werke vorzudringen, eine Werkexegese zu betreiben, die auf die Entstehungszeit zurückführt. Eine solche Debatte der interpretatorischen Kargheit wird anderen Kunstformen seit vielen Jahren geführt – die Frage nach der Authentizität historischer Texte bestimmt Literatur und Theater schon lange. Warum muss das “Alte Werk” – ehedem ein Reihentitel der ehrenwerten, aber längst verblichenen Teldec – überhaupt in einem wie auch immer gearteten Originalzustand bewahrt werden? Gehört zu nichtmusealen Texten, also vor allem jene, die ohne kuratorische Hilfe überdauert haben, nicht auch ihre Wirkungsgeschichte und die stete Neuerfindung?
Der belgische Cembalist und Organist Léon Berben ist so ein Vertreter des “alten Werks”, sein Album mit Bachschen Fantasien und Fugen schaffte es jüngst auf die renommierte Vierteljahresbestenliste der deutschen Schallplattenkritik. Das Programm dieser Platte ist von kleinerer Statur, nicht die kanonischen Werke wie die Suiten oder Partiten sind auf ihr zu finden, sondern die “kleinen” Werke, mit Ausnahme der “grossen” Fantasie und Fuge d‑moll BWV 903. Berben ist nicht nur Interpret, er ist ein grosser Rekonstrukteur an Instrumenten und Werken und gilt als einer der führenden Köpfe der Bewegung “Alte Musik”. Das merkt man auch dem Begleitheft der präzise und schön klingenden CD an, dessen Kern ein Text zu historischen Einordnung der eingespielten Werke bildet, von des Meisters Hand natürlich. Und er spielt seinen Bach auf dem … nun ja … Tasteninstrument, auf einem Nachbau eines historischen Cembalos.
In das Bewußtsein ihrer modernen Hörerschaft gekommen sind Bachs Tastenwerke vor allem durch die Interpretationen der Meister zeitgenössischer Instrumente – wohlgemerkt in unserer Zeit. Die Namen Gould, Brendel und Gulda müssen da fallen, vielleicht auch Lipati oder in neuerer Zeit Koroliov. Die technischen Möglichkeiten des modernen Flügels haben die Interpretationsmöglichkeiten erweitert, dynamisch und tief gemacht. Viele der Bachschen Phrasierungen und Tempi, die heute so vertraut erscheinen, sind durch die Spieltechnik und die Klangfülle des modernen Flügels erst entstanden.
Und damit bietet diese Platte natürlich einen trefflichen Spielplatz für die bereits angesprochene, sehr spezielle Querelle des Anciens et des Modernes. Zweifelsohne ist Lèon Berben ein ausgezeichneter Virtuose, die schon genannte d‑moll Fantasie ist sicherlich eine der herausragenden Interpretationen dieses Werks – auf dem Cembalo. Und an dieser Stelle wird es heikel. Das Cembalo ist qua Konstruktion kein “klingendes” Instrument, seine Harmonien entstehen durch die Clusterung von Einzeltönen. Wenn Alfred Brendel einmal vom “singenden Klavier” gesprochen hat, also der Utopie der Nähe zur menschlischen Stimme, so vergißt man hier niemals die mechanistische Herkunft des Tones. Die ungeheure Präzision des Instrumentes ist gleichsam sein binäres Prinzip, es gibt den Ton und die Stille. Nun denn: So frei gespielt und gestaltet hat man dieses Bachsche A‑Werk in so einem Kontext nie gehört, es ist zu verstehen, warum das freie Fantasieren des Stückes so einzigartig ist. Zuweilen gelingt sogar ein gestaltendes Rubato, eine bislang nicht gehörte Volte im Originalklang. Eine wirklich gute Platte, solitär in ihrer Szene, damit aber traurigerweise sehr einsam. Denn was uns immer bleibt, ist die Erinnerung an den Brendelschen Ton, die cantable Präzision eines Evgenij Koroliov, die irr-sinnigen Tempi eines Glenn Gould. Es gibt nur einen Ausweg: Nicht mehr vergleichen.
Johann Sebastian Bach: Fantasia & Fuge, Léon Berben – Cembalo, myrios classics
[xrr rating=4/5]
Dieser Kommentar ist aber echt schwere Kost!