A Human Tragedy

Benjamin Brittens Kammeroper »The Rape of Lucretia« – Über einen bemerkenswerten Opernabend in der kleinen Stadt Bad Oldesloe

The Rape of Lucretia
Men´s faults do seldom to themselves appear (Bild: KuB/Niemeier)

Der Markt­platz ist leer an die­sem Frei­tag­abend, ein paar Halb­wüch­si­ge rat­tern mit ihren Fahr­rä­dern über das Kopf­stein­pflas­ter, beglei­tet von plär­ren­den Hip-Hop-Beats aus win­zi­gen Laut­spre­chern. In einer klei­nen Stadt wie dem Schles­wig-Hol­stei­ni­schen Bad Oldes­loe ist nicht viel los, auch wenn es Som­mer ist im Nor­den. Hier posiert die Jugend nicht ein­mal auf dem Mofa, son­dern auf klapp­ri­gen Moun­tain­bikes. Zwi­schen der Spar­kas­sen­fi­lia­le und frisch ange­stri­che­nem klas­si­zis­ti­schen Rat­haus lie­gen noch ein paar Blü­ten­blät­ter, offen­bar gestreut bei der letz­ten Hoch­zeit im dort ansäs­si­gen Stan­des­amt. Hin­ter dem Rat­haus ist ein moder­ner Glas­bau ange­dockt, das Gebäu­de ist erst zwei Jah­re alt. Das Haus trägt das stad­tou­ris­ti­sche Kür­zel »KuB«, das steht für »Kul­tur- und Bil­dungs­zen­trum« und kein unter­hal­tungs­sat­ter Groß­städ­ter wür­de hier Kunst von über­re­gio­na­lem Rang erah­nen wollen.

An die­sem lau­en Som­mer­abend jedoch ist die klei­ne Stadt Bad Oldes­loe ziem­lich groß gera­ten, jeden­falls in der Opern­welt. Das »KuB« und die nicht so weit ent­fern­te Lübe­cker Musik­hoch­schu­le haben zu einer Pre­miè­re von Ben­ja­min Brit­tens frü­her Kam­mer­oper »The Rape of Lucre­tia« mit »Stu­die­ren­den« geladen.

Sol­che Ver­an­stal­tun­gen sind oft ers­te Schrit­te auf der Büh­ne für jun­ge Sän­ger, man spielt mit viel Enthu­si­as­mus vor wenig Publi­kum und hat eini­ges Glück, wenn sich in den hin­te­ren Sitz­rei­hen ein paar Thea­ter­scouts fin­den, die nach Nach­wuchs­kräf­ten für ihr Stadt­thea­ter suchen. Die­ses Sys­tem sichert den klei­nen Häu­sern, die so wich­tig sind für die kul­tu­rel­le Infra­struk­tur ihrer Regio­nen, die Basis für ihr Ensem­ble. Soli­des Hand­werk bekommt man grund­sätz­lich gebo­ten, gele­gent­lich ste­chen schon in die­sem frü­hen Sta­di­um ein­zel­ne Talen­te her­aus, alles recht erfreu­lich. Aber – gele­gent­lich haben die hoff­nungs­fro­hen jun­gen Musi­ker Glück.

Das Glück an die­sem Abend im moder­nis­ti­schen Saal des Kul­tur­zen­trums ist viel­ge­stal­tig. Das liegt sicher an einem enga­gier­ten musi­ka­li­schen Lei­ter: Der Ame­ri­ka­ner Robert Roche, der an der Lübe­cker Musik­hoch­schu­le lehrt, hat sei­nem Ensem­ble eine gute Basis geschaf­fen, der etwas ver­win­kel­te Saal klingt unter sei­ner Lei­tung glück­haft trans­pa­rent, das von Brit­ten schmal gehal­te­ne Kam­mer­or­ches­ter ist klug und hübsch ver­teilt, lin­ker Hand sitzt alles, was laut ist, die Blä­ser, rech­ter Hand Strei­cher, Har­fe und der Flü­gel des Orches­ter­lei­ters und auf der Büh­ne das Schlag­werk. Mit einem Wort: Die Pre­mie­ren­gäs­te sit­zen mit­ten in der Musik, da stört kein über­hän­gen­der Bal­kon, die Har­fe singt und der Luft­rausch der Bass­kla­ri­net­te erreicht jeden Platz des klei­nen Saals. All das klingt schön und hervorragend.

Doch die Gat­tung Oper ist eigent­lich belang­los, wenn sie nichts von sich zeigt, vom Wider­spiel von Wort und Musik, und von der Gemein­schaft­lich­keit von Stoff und Klang. Dazu braucht es eine klu­ge insze­na­to­ri­sche Hand, damit sich die Gat­tung nicht in der musea­len Repro­duk­ti­on ver­liert oder im Effekt. Das gibt es auch an grö­ße­ren Häu­sern, da wird oft­mals mit Reper­toire und Erwar­tungs­hal­tun­gen gerun­gen. Hier gibt es das nicht, die­sen Abend insze­niert der Regis­seur Antho­ny Pila­va­chi, den Besu­chern des nahen Lübe­cker Thea­ters lan­ge ver­traut als Schöp­fer von bild­star­ken und über­re­gio­nal Auf­se­hen erre­gen­den Insze­nie­run­gen. Inzwi­schen arbei­tet er in Reykja­vik und Graz, jüngst wur­de sei­ne Inns­bru­cker »Capriccio«-Inszenierung für den öster­rei­chi­schen Musik­thea­ter­preis nominiert.

Was Pila­va­chi mit den jun­gen Sän­gern in sechs­wö­chi­ger Pro­duk­ti­ons­zeit erar­bei­tet hat, ist bemer­kens­wert. Natür­lich sind die Mit­tel in solch einer bud­get­ar­men Arbeit beschränkt, das »Besteck« zwangs­läu­fig klei­ner, um so mehr muss die füh­ren­de Hand des Spiel­lei­ters in den Vor­der­grund tre­ten. Über­aus fein ist hier die Per­so­nen­füh­rung, das Hand­werk ist zwei­fels­oh­ne bril­lant. Kei­ne Leer­läu­fe in der Inter­ak­ti­on, kein Raum ist weit und unge­nutzt, was um so schwe­rer wiegt bei uner­fah­re­ne­ren Sän­gern, wie sie hier auf­tre­ten. Blick folgt auf Blick, die Grup­pen ste­hen und alle­samt erzäh­len sie die Geschich­te, die hier eine Rol­le spielt.

Die Vor­la­ge, die Brit­ten sich als Basis für sein frü­hes Werk gesucht hat, ist kul­tur­his­to­risch schwer­las­tig und gehört zu den Grün­dungs­my­then des anti­ken römi­schen Groß­rei­ches, in dem Begrif­fe wie »Tugend« und »Ehre« zumin­dest in den ers­ten Jahr­hun­der­ten sei­nes Bestehens einen hohen Stel­len­wert hat­ten. Der römi­sche Ade­li­ge Col­la­ti­nus rühmt sich der Tugend­haf­tig­keit sei­ner Frau Lucre­tia, sein Kampf­ge­nos­se, Prinz Tar­qui­ni­us will die­se Tugend auf die Pro­be stel­len. Als sich Lucre­tia ihm ver­wei­gert, ver­ge­wal­tigt er sie, die ent­ehr­te Ehe­frau stürzt sich ins Mes­ser. In der Anti­ke war die­se Tat Sinn­bild für die Ehr­haf­tig­keit römi­scher Patri­zi­er, die Inter­pre­ta­tio­nen des The­mas rei­chen von der Behaup­tung der Mit­schuld der Geschän­de­ten durch den Kir­chen­va­ter Augus­ti­nus, über auf­klä­re­ri­sche Umset­zung in Les­sings »Emi­lia Galot­ti« bis hin zu bedeu­ten­den bild­li­chen Dar­stel­lun­gen von Dürer bis Gui­do Reni.

Brit­tens Werk, urauf­ge­führt 1946, geht über die­se Tra­di­ti­on musi­ka­lisch hin­aus, trotz tona­ler Kom­po­si­ti­on und den für Brit­ten typi­schen Zita­tio­nen ist das Stück vol­ler Bin­nen­klän­ge, bild­haf­ter und psy­cho­lo­gi­sie­ren­de Momen­te. Durch die Hand­lung des Zwei­ak­ters füh­ren zwei solis­ti­sche Chor­par­tien, Tenor und Sopran­stim­me. Das wei­te­re Per­so­nal ist beschränkt auf die Haupt­fi­gu­ren und weni­ge Staf­fa­ge­par­tien, das Orches­ter ist mit 13 Musi­kern klein.

Aus die­ser Kon­zen­tra­ti­on schöpft denn auch die­ser Abend, berü­ckend ist es, zu sehen, wie sich Bezie­hun­gen zwi­schen den Figu­ren auf­bau­en, wie kleins­te Ges­ten gan­ze Hand­lungs­strän­ge fort­füh­ren und wie Sän­ger spie­len kön­nen. Zum größ­ten Kunst­griff aber wird es, die bei­den im Text durch­er­zäh­len­den Chor­par­tien zu leben­di­gen Kom­men­ta­to­ren wer­den zu las­sen, zu par­tei­neh­men­den Moti­va­to­ren der Hand­lung. Die männ­li­che Par­tie wird an die­ser Stel­le zu einem Bru­der des ver­nei­nen­den Geis­tes, ein Antrei­ber des Schick­sals­ra­des, der unauf­halt­sam zum Ende der Geschich­te drängt. Eung­dae Han gibt die­sen Freund der Tes­to­ste­ron­frak­ti­on stets leicht mokant lächelnd, scharf und akzen­tu­iert im Ton – ein sou­ve­rä­ner Steu­er­mann männ­li­cher Ein­fluss­nah­me. Sein Gegen­part, die zart-sehe­risch agie­ren­de Doro­thee Bie­nert, ist ob des nicht zu erah­nen­den, son­dern gar zu gewis­sen Schick­sals stets leicht ver­zagt. Das wird gezeigt, im Rin­gen um den Weg der Lucre­tia (Anne­ma­rie Wolf), im Krei­se (das Schick­sals­rad!) gewir­belt durch ihren Schän­der Tar­qui­ni­us (mit star­kem Bari­ton: Huss­ain Atfah), treibt der »Male Cho­rus« die Tur­bu­lenz an, sein weib­li­ches Gegen­über ver­sucht die Dre­hung aufzuhalten.

Der­lei gibt es viel zu sehen, von dem nach voll­brach­ter Tat nur einen Hemd­knopf schlie­ßen­den Tar­qui­ni­us über die Opfer­prä­sen­ta­ti­on der Lucre­tia in einer Grup­pen­kon­stel­la­ti­on der Dar­stel­ler, vom Tre­mor der lei­den­den Hel­din bis hin zur ergrei­fen­den Bana­li­tät ihres Sui­zids – da braucht es kein Kunst­blut, kei­ne gro­ße Ges­te, alles wird klar durch die Prä­sen­ta­ti­on des Dol­ches und Andeu­tung des Stoßes.

Gezeigt wird auch die Unab­ding­bar­keit der Kon­stel­la­ti­on, man sieht die Zur­schau­stel­lung trieb­haf­ten Ver­lan­gens eben­so wie die dadurch her­vor­ge­ru­fe­nen Reak­tio­nen, das Netz ist dicht geknüpft und zeit­los ist der Vor­gang auch. Ein wenig zu viel ist am Ende die Prä­sen­ta­ti­on von #mee­too-Täfel­chen durch die über­le­ben­den Frau­en, die Sache ist zu die­sem Zeit­punkt auch so voll­kom­men klar geworden.

Was die­se jun­gen Talen­te und ihre Pre­mie­ren-Gäs­te mit­neh­men kön­nen, ist vor allem die­ses: Dass es für einen bedeu­ten­den Opern­abend weder ein berühm­tes Haus noch die gro­ße Maschi­ne­rie braucht, ein Kul­tur­zen­trum in einer klei­nen Stadt reicht voll­kom­men aus, wenn alles ande­re die hier gezeig­te Qua­li­tät hat. Und, dass Oper vor allem gespielt wer­den muss; schön zu sin­gen reicht nicht.

Die Insze­nie­rung ist noch zwei­mal zu sehen, am 17. Juni 2018 im KuB in Bad Oldes­loe und am 24. Juni in der Musik­hoch­schu­le Lübeck

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