Verdammt. Immer muss man sich entscheiden. Denn an nur einem Samstag im August lockt Hamburg mit so vielen Zeug zur Zerstreuung, dass es einem schwindelig werden kann. Kreuzfahrtschiffschiffe auf der Elbe gucken mit Feuerwerk bei den Cruise Days, die bunte Straßenparade des Christopher-Street Days, Kopfnicken und Tanzen auf dem Spektrum Festival und beim Vogelball auf dem Dockville Gelände in Wilhelmsburg, oder dieser Hamburger Dom. Wir müssen wohl mal wieder raus aus dieser Stadt, das ist ja nicht auszuhalten.
Also dann eben Stade. Die „Müssen alle mit“-Macher wollen hier wohl einen Ausgleich für reizüberflutete, festivalaffine Großstädter schaffen. Und eine Möglichkeit für die Ortsansässigen, direkt vor ihrer Haustür in den Genuss von Musikern wie Die Höchste Eisenbahn oder Thees Uhlmann zu kommen, die in diesem Sommer die größeren, entfernten Festivals der Republik beehren. Mal sehen, wie das dann so ist.
Bereits mit dem von Tapete Records initiierten Hanse Song Festival im Frühjahr konnte sich Stade als Hort für die kleine, feine und entspannte Festivalkultur positiv hervortun. Dieses Jahr ging Tapete Records mit dem „Müssen alle mit“ auch nach draußen in den Bürgerpark, und das zum Glück bei allerfeinstem Sommerwetter.
Das Konzept des Festivals ist simpel gehalten: Es ist nur an einem Tag, es gibt nur eine Bühne mit ein handverlesenen Line-up und ein paar Stände mit dem Üblichen. Im Vergleich zum Vorjahr hat es sich nur minimal vergrößert, statt sechs gab es in diesem Jahr sieben musikalische Programmpunkte.
Aber das Besondere dabei ist die wohltuende Einsicht der Veranstalter, dass Besucher nicht immer mit einer durchgängigen Frontalbeschallung unterhalten werden müssen. Die Picknickdecke war dann auch das wichtigste Accessoire der Besucher, denn auf diese konnte man sich während der ruhigeren Konzerte oder in den Umbaupausen entspannt ablegen.
Eine Gruppe von mutigen Zweiradfahrern ging aber noch einen Schritt weiter und versammelte sich bereits am Vormittag am Fähranleger Finkenwerder, um sich dem Festival auf die langsame Art anzunähern.
Die 30 km lange “Tour de Mamf” durch das Alte Land wurde liebevoll organisiert und begleitet von der Konzertkultur: Fahrradgarderobe. An den Deichen und Obstbäumen entlang zu radeln ist an und für sich schon ein lohnender Ausflug. Mit dem Ziel eines Festivals vor Augen, zusammen mit ca. 30 Gleichgesinnten, tritt es sich dann aber wohl noch leichter in die Pedale.
Zudem wurden alle Mitfahrer bei einem Zwischenstopp im Fährhof Kirschenland mit Kaffee, Käse- und Wurststullen gut versorgt. Und als sich am Zielort schon die erste Band, Brace/Choir, auf der Bühne in Stellung brachte, wurden die Radler bei der Ankunft noch mit Sekt, Kuchen und Luftballons am am Ufer der des kleinen Elbseitenarms Schwinge empfangen.
Das Line-Up beim “Müssen alle mit” bestand an diesem einen Tag im Sommer 2014 aus einem recht ausgewogenen Verhältnis von nationalen und internationalen Künstlern, bei denen musikalisch von ruhig bis etwas flotter wohl für jeden etwas dabei war.
Und neben bekannten Namen gab es auch Neuentdeckungen in diesem Programm, das tatsächlich der Meister alter Hamburger Schule, Bernd Begemann mit launigen Ansagen dieses Publikum auf jede Band einstimmte.
Soda Fabric aus Tel Aviv waren eine der Neuentdeckungen dieses Tages, derzeit werden sie noch als echter Geheimtipp gehandelt.
Mit gerade einmal etwas über 1.000 Fans auf Facebook und bislang noch ohne eigene Plattenveröffentlichung im Gepäck waren die vier Bandmitglieder nach Stade gekommen.
Mit ihrem fluffigen Post-Punk- Sound transportierten sie so etwas wie Strandgefühl in den Stader Park und wenn sie das so weiter machen, dann werden sie auch wohl bald ein paar mehr “likes” haben.
Fast zu erwarten war es ja, dass Moderator Bernd Begemann die Füße dann doch nicht stillhalten konnte. Und dann hatte er an diesem Tag noch mit der Befreiung seinen musikalischen Auftritt.
Gewohnt nonchalant philosophierte er mit seinem Bandkollegen Ben Schadow zwischen den Songs z. B. über die Größe der Hemdknöpfe und der sich daraus ergebenden Problematik eines offenen Hemdes.
Etwas tiefgründiger sind dann doch seine Lieder, in denen er weitere kleinere und größere Probleme des Alltags zwischen Hamburg (“Die Slums von Eppendorf”) und Hannover (“Eigentlich wollte ich nicht nach Hannover”) besang.
“Lasst eure Freak-Flagge fliegen!” kündigte er danach die Niederländer von Mozes and The Firstborn an, die im letzten Jahr einen kleinen Hit mit “I got skills” verbuchen konnten.
Ihr schrammeliger Pop klingt noch so roh, als würde er noch frisch aus der Proben-Garage kommen und das lässt die musikalische Spannungskurve wieder etwas ansteigen.
Zur langsam untergehenden Sonne nahm William Fitzsimmons danach noch einmal das Tempo raus. Seine butterweiche Stimme zu ganz schön melancholischen Songs ist zwar wirklich reizende Musik, doch leider auch nicht sehr abwechslungsreich.
So verblieben auch viele Zuhörer während des Konzerts auf ihren Picknickdecken liegen, um die letzten Strahlen der Sonne mit Soundtrack zu genießen.
Mit Die Höchste Eisenbahn und Thees Uhlmann und standen dann aber zum Abschluss noch zwei musikalische Perlen auf der Bühne in Stade, die wohl — vor allem textlich — mit zum Besten gehören, was die deutsche Poplandschaft aktuell zu bieten hat. Und die Picknickdecken waren dann auch plötzlich leer.
Die Höchste Eisenbahn konnten im Vergleich zu ihrem letzten Auftritt in Stade beim Hanse Song Festival 2013 durch ihre Plattenveröffentlichung und emsiges Touren an Bekanntheitsgrad einiges dazu gewinnen. Diese Band kann sich ihre Fans durch ihre wirklich herzerwärmenden Live-Auftritte erspielen, und auch nach dieser Show werden es wohl wieder mehr Anhänger geworden sein.
Zum Ende durfte Hauptact Thees Uhlmann mit seiner Band den Abend in Stade beschließen. Als er erzählte, dass er schon in der Tonne zu den Guano Apes getanzt hat, und sich damals wie ein König fühlte, hatte er natürlich sofort die Herzen der Zuhörer gewonnen.
Für die Orts-Unkundigen: Die Tonne war einst ein ziemlich rocklastiger Club in Stade, der vielen dort noch in anscheinend guter Erinnerung ist. Dass Uhlmann einer von hier ist, bzw. aus dem 30 km entfernten Hemmoor stammt, zeigt er auch gerne, und es erfüllt ihn doch glaubhaft mit Stolz, dass er nun hier auf der Bühne als Hauptact des Tages stehen durfte.
Ganz so, als stünde er mit all den Festival-Besuchern bei einem Bier am Tresen der Tonne, gab er dann auch noch eine Anekdote aus seiner Jugend, die von einem Porno in Himmelpforten handelte, zum Besten und verkumpelte sich damit dann wohl endgültig mit den Tausenden, die vor der Bühne standen. Ganz schön voll.
Und die Zuschauer dankten es ihm, indem sie bei “Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf” oder “Vom Delta bis zur Quelle” einfach alle lauthals mitsangen.
Ob er nun wirklich Buttermilch statt Bier bevorzugt, wie der Meister es in seiner Ansage denn behauptet hat, und ob er nun wirklich auf der Suche nach einer Immobilie in Stade ist, dass soll er dann doch nochmal bei einem der nächsten Treffen am Stader Buttermilchzapfhahn erzählen. Bis dahin glauben wir’s dann eben einfach.
Während also in Hamburg der Sommer oft bis zum Anschlag größer, lauter und bunter zelebriert und eventisiert wird, ist es doch wirklich einmal schön zu sehen, dass es noch Veranstalter gibt, die verstehen, dass weniger manchmal auch mehr sein kann. Mehr Stade wagen, oder?
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