Alle Eltern kennen das: dieses heftige Glücksgefühl, wenn die Kinder auf der Rückbank schlafen. Plötzlich entsteht auf den Vordersitzen diese Blase von Intimität, in der sich frisch Verliebte ständig bewegen. Aus Mami und Papi werden zwei Helden eines Road Movies, eine Hand am Steuer, eine Hand auf einem Oberschenkel, auf einer unendlichen Reise ins Blaue. Sogar, wenn’s eigentlich nur die Rückfahrt vom Flughafen auf dem griechischen Peloponnes ins Haus von Freunden ist. Auch die Film-Eltern Celine (Julie Delpy) und Jesse (Ethan Hawke) haben Angst, dass die Blase platzt. So fahren sie eiskalt an einer Ausgrabungsstätte vorbei, die ihre Zwillingstöchter gerne gesehen hätten. Und tischen ihnen später eine Notlüge auf: “Oh, die Ruinen, die hatten geschlossen!”
Schon während dieser Autofahrt in den ersten Filmminuten wird klar: Die frommen Notlügen und die Diplomatie heben sich die beiden für die Kinder auf. Zwischen Frau und Mann wird bisweilen scharf geschossen. Längst ist die Liebe vom mythischen Sehnsuchtsort zur Ruinenlandschaft geworden, der Bankrott scheint ähnlich unausweichlich wie die griechische Finanzkrise.
Zur Erinnerung: 1995 wurden Julie Delpy und Ethan Hawke in “Before Sunrise” zum verhinderten Traumpaar der Slacker-Generation, nach einer durchquatschten und durchliebten Nacht während einer Zugfahrt nach Wien. 2004 drehte Regisseur Richard Linklater die Fortsetzung “Before Sunset”. Eine Chance für die Liebe, eine zweite Chance für seine Figuren.
Dass auch dieses Happy End ein fragiles war, war abzusehen: Schon damals erzählte die Geschichte nicht nur von der Größe unerfüllter Träume, sondern auch von den Beschädigungen des Erwachsenenlebens und der Unmöglichkeit des Glücks für alle. Da fanden zwei Menschen zueinander, die ihre Geschichte mit sich trugen – geplatzte Träume, gescheiterte Beziehungen, ein kleiner Sohn. Eine weitere Fortsetzung des bittersüßen Liebesdramas war beinahe unausweichlich, und man erwartete sie mit der selben Mischung aus Angst und Vorfreude wie ein 20jähriges Abiturtreffen.
Es kommt, wie’s kommen muss. Neun Jahre später wird weder im Park geknutscht noch werden selbstkomponierte Chansons angestimmt. Jetzt geht es um den ganz gewöhnlichen, verbissenen Kampf eines Paares um Platz zur Selbstentfaltung. Mein Job bei einem Windkraft-Unternehmen gegen deinen Erfolg als Schriftsteller, meine Einsamkeit als Mutter gegen deine Schuldgefühle dem älteren Sohn Henry gegenüber. Patchwork ist hier kein Komödienstoff, sondern eine schier unmenschliche Zerreißprobe. Um so schwerer erträglich, je idyllischer die Folie ist, vor der dieses leise Drama seinen Lauf nimmt. Natursteinhäuser, Felsbuchten, blaues Meer, saftige Tomaten in Großaufnahme.
Dabei hätten Celine und Jesse eigentlich die besten Voraussetzungen für ein Liebes-Revival: Die griechischen Freunde haben dem Paar eine Nacht in einem Designer-Hotel spendiert und übernehmen das Babysitting. Aber auch wenn der Wille zu Romantik noch vorhanden ist, zu viele kleine Irritationen sabotieren die glückliche Wieder-Vereinigung.
Vordergründig mögen es die Klassiker sein: allen voran das klingelnde Smartphone, gerade als Mama und Papa sich mal wieder so richtig lieb haben wollen. Aber dahinter steckt mehr: der Horror Vacui der Lebensmitte, der Sog, in den Menschen angesichts des beginnenden Älterwerdens geraten. Wenn ein Vater plötzlich realisiert, dass der 14jährige Sohn seine erste Sommerliebe erlebt hat – was macht das mit seiner eigenen Männlichkeit? Wenn Lebenszeit auf einmal absehbar wird, welchen Wert hat dann die Größe einer Liebe?
Es ist offensichtlich, dass keine der bewährten Strategien mehr taugt – weder für sie, noch für ihn. Jungenhafter Charme kippt um in anstrengende Berufsjugendlichkeit, T‑Shirts mit Plattenlabel-Aufdruck werden langsam peinlich; und was bei einer 25jährigen als aufregend und kapriziös durchgeht, kommt bei einer über 40jährigen schmallippig und zickig rüber. Auch Celines verzweifelte Versuche, sich der eigenen Attraktivität zu versichern, laufen ins Leere. “Wenn du mich heute im Zug sitzen sehen würdest”, fragt sie, “würdest du mich dann attraktiv finden?” Zu theoretisch, findet er: “Das käme doch auf meine Lebensumstände an! Dann würde ich ja dich mit dir betrügen!”
Julie Delpy beweist in ihrer Rolle viel Mut, denn sie zeigt vollen Körpereinsatz. Und auch wenn dieser Körper immer noch schön ist, es ist eben doch sichtlich nicht mehr der einer 20jährigen. Ein nackter Busen, der den Gesetzen der Schwerkraft gehorcht, Mund und Stirn, die in Großaufnahme deutlich sichtbare Lebensspuren zeigen: Dazu gehört einiges in Zeiten, in denen operatives Allround-Tuning für Schauspielerinnen zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Julie Delpy dagegen bewegt sich minutenlang mit halb heruntergezogenem Kleid vor der Kamera und zieht sich irgendwann beinahe nachlässig das Oberteil wieder hoch, weil’s doch nicht wird mit dem Sex. Solche Bilder erzählen auf eindrückliche Weise vom Drama der Schönheit, mit deren Schwinden auch das eigene Selbstbild bröckelt. Fünf vor zwölf auf dem Sunset Boulevard.
Bei aller Schwere, die sich unter der zeitweise leichten Oberfläche verbirgt, ist es eigentlich nur verwunderlich, dass der Film dann doch noch zu einem halbwegs versöhnlichen Ende führt. Schließlich haben die Dialoge des Paares, die Seitenhiebe auf erotische Unzulänglichkeiten wie die offen ausgesprochenen Trennungswünsche, bis kurz vor dem Ende eine beinahe Beckett’sche Bosheit. Mindestens ein Fall für den Paartherapeuten, wenn denn überhaupt noch jemand helfen kann.
Aber vielleicht wäre es für die langjährigen Kino-Freunde von Celine und Jesse einfach zu traumatisch, wenn nach Griechenland nur noch ein Trümmerhaufen bliebe. Und möglicherweise hat das Trio Linklater/Delpy/Hawke auch einfach nur Lust auf einen weiteren Baustein im gemeinsamen Lebensprojekt: Celine und Jesse als “Empty Nesters” im Jahr 2022. Der nächste Sonnenaufgang kommt bestimmt.
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