Man muss es doch einmal sagen – es gibt wohl keine Stadt in Deutschland, die so herrlich mit einem See mitten in ihrem Zentrum gesegnet ist wie Hamburg. Der Rokokodichter Friedrich von Hagedorn fasste es vor 270 Jahren schon in Worte:
Befördrer vieler Lustbarkeiten
Du angenehmer Alsterfluß
Du mehrest Hamburgs Seltenheiten
Und ihren fröhlichen Genuß.
Leicht war es in diesem Sommer einzustimmen in sein aufforderndes Lob. Wie aber konnte es dazu kommen? Die Erklärung ist einfach:
Der Elbe Schiffahrt macht uns reicher
Die Alster lehrt gesellig sein.
Durch jene füllen sich die Speicher
auf dieser schmeckt der fremde Wein.
Was damals nur von den privilegierten Ständen galt, kann heute von allen genossen werden. Das selten gleichmäßig schöne Sommerwetter im Juli und August steigerte das Alstererlebnis zu einem Vergnügen in Permanenz: Segelboote, Kanus, Paddel- und Ruderboote, Kajaks und als neueste Errungenschaft der maritimen Fortbewegung, die SUP, die Stand Up Paddler auf ihren Surfbrettern.
O siehst du jemals ohn Ergetzen
Hammonia! des Walles Pracht
Wann ihn die blauen Wellen netzen
Und jeder Frühling schöner macht?
Wann jenes Gestade
Das Flora geschmückt
So manche Najade
gefällig erblickt.
Gemeint ist bei Hagedorn wohl der Wall zwischen Binnen-und Außenalster. Najaden, die im See schwimmen, sind selten, denn das Alsterwasser ist zwar sauberer geworden, aber Baden in der Alster ist noch nicht erlaubt. Allerdings traf ich kürzlich morgens eine ältere Najade am Anleger Fährdamm, die ihre Sachen ablegte und dann mit einem Köpfer ins Alsterwasser tauchte.
Dabei schimpfte sie auf die Arbeiter der Stadtreinigung, die die Pflanzen an der Uferböschung, “Floras Schmuck”, seelenlos abgemäht hätten, in ihrem lieblosen Ordnungsdrang.
Hier lärmt in Nächten voll Vergnügen
Der Pauken Schlag, des Waldhorns Schall
Hier wirkt bei Wein und süßen Zügen
Die rege Freiheit überall.
Wie schön die Geselligkeit doch zu Hagedorns Zeiten war, da hat man noch selber Musik gemacht, vielleicht eine Serenade gespielt, so stellt man sich das vor. Heute kann es passieren, dass von der nahen Musikhochschule die Klänge eines Kammerensembles herübertönen – jedoch höre ich vom gegenüberliegenden Ufer hämmernde Beats, es sind die Cruise Days.
Aber immerhin – überall am Ufer haben sich Menschen niedergelassen zu zweit, in kleinen Gruppen, essen, trinken, reden, am Schwanenwik sind es oft Hunderte, die dort grillen: Rauchschwaden steigen auf zu dem Standbild Drei Männer im Boot, nun ja — auch das ist eine Form “reger Freiheit”.
Nichts lebet gebunden
Was Freundschaft hier paart
O glückliche Stunden!
O liebliche Fahrt.
Ja, gelegentlich sieht man das noch in Abendstunden, wenn ein Alsterdampfer vorübergleitet, auf dem eine Musikkapelle spielt …
Mit einem Wort: Man muss gar nicht weit reisen, um diese Freuden zu genießen. Hier ist sie ja noch — die Außenalster, der See mitten in der Stadt, der dies Vergnügen der Sommerfrische, des Urlaubs an einem Gestade gewährt.
Besonders der Alsterpark auf der Harvestehuder Seite, das weite Alstervorland mit seinen alten Bäumen und Büschen, hat es mir in diesem Sommer angetan. Auf der Wiese in einem der begehrten weißen Gartensessel sitzen und lesen, schlafen und träumen, beobachten, und, wenn man nicht allein ist, reden, vielleicht auch einmal singen.
Und um einen herum die grasenden Gänse, die gelegentlich erschrocken auffliegen, wenn ein Hundebesitzer seinem tölpelhaften Liebling freien Lauf lässt. Oder einfach nur den Blick schweifen lassen über den kleinen Teich mit seiner japanischen Miniatur-Pagode und der geschwungenen Brücke bis zum See.
Ab und an ein Segel, ein weißer Alsterdampfer. Indem ich so mit meinem Blick das zufällige Arrangement erfasse, komme ich mir ein wenig vor wie im Park von Wörlitz in der Nähe von Dessau, mit seinen geschickt arrangierten Blickachsen.
Sitzen und Lesen. Am Tag des Viertelfinalspiels Deutschland gegen Frankreich beginne ich mit der Lektüre von Jörn Leonhards Geschichte des Ersten Weltkriegs Die Büchse der Pandora. Ich lese, wie die europäischen Großmächte in diesen Krieg stolpern, nicht gerade wie Schlafwandler, aber doch jeweils überfordert.
Lese, wie im Juli nach dem Attentat von Sarajewo eine Vertrauenskrise sich breitmacht, durch ein diffuses Zusammenwirken von Ereignissen und Unterstellungen entsteht eine eigene Realität, die von der Diplomatie nicht mehr zu meistern ist.
Und dann besonders schockierend zu lesen: wie innerhalb eines Kriegsmonats das maschinelle Töten durch die Artillerie und die MGs in einer bis dato unvorstellbaren Weise eskalierte, 27.000 Tote an einem Tag bei den Franzosen im Elsaß, ähnlich in der Marne-Schlacht auf deutscher Seite.
Nachdem ich 150 Seiten gelesen habe, brauche ich eine Pause, packe ich meine Sachen zusammen und gehe das nahe Restaurant am Alsteranleger, um mir das Viertelfinal-Spiel Deutschland gegen Frankreich anzuschauen. Den Wettkampf der Urenkel der 1. Weltkriegsteilnehmer, falls sie denn Söhne und Enkel hatten.
Die Stimmung ist gut, aber nicht überschwänglich, diesmal gewinnt Deutschland, 1:0. Wie schön in einem befriedeten Europa zu leben, in dem der Fußball den Krieg abgelöst hat, auch wenn es an den Rändern zündelt.
Ich setze mich in einen Liegestuhl und denke an die Klassenfahrt nach Nordfrankreich 1959, als wir Kriegsgräber auf einem verwilderten deutschen Soldatenfriedhof pflegten und mit einer französischen Jugendgruppe aus Lille in Kontakt kamen, eine Vorform jener deutsch-französischen Freundschaft, die dann zwischen Adenauer und de Gaulle in Reims feierlich besiegelt wurde. Alles lange her, und doch präsent an diesem friedlichen Abend des sportlichen Siegs über den ehemaligen Erzfeind.
Das schöne Wetter hielt an, ich saß weiter an der Alster und las Donna Tarts 1.000-seitigen Roman Der Distelfink – 8 Tage lang, jeden Tag 100 bis 150 Seiten. Die Geschichte von Theo Decker, der als Dreizehnjähriger seine ihn alleinerziehende Mutter in einem New Yorker Museum durch einen Terroranschlag verliert, auf sich allein gestellt zurückbleibt, der sich ständig Vorwürfe macht, Schuld am Tod der Mutter zu sein. Auch das berühmte Gemälde von Carel Fabritius “Der Distelfink”, das seit jenem Tag verbotenerweise in seinem Besitz ist, kann ihn nicht trösten.
Theo findet wird vorläufig von der begüterten Familie seines Schulfreundes Andy aufgenommen, wird von seinem Vater, der auf einmal auftaucht, nach Las Vegas geholt, wo sich dieser als Glücksspieler betätigt, lernt dort Boris kennen, eine Freundschaft – ein bisschen wie in Herrndorfs Tschick – entwickelt sich, mit Schul- und Drogenabenteuern.
Dann der nächste Schlag – der gerade zurückgewonnene Vater stirbt bei einem Autounfall. Zurück nach New York verstrickt Theo sich nach Abschluss des College-Besuchs in kriminelle Praktiken der Möbelrestaurierung. Das kostbare Bild, von seinem Freund Boris entwendet, wird zum Tauschobjekt in Gangsterdeals, geht verloren, taucht in Amsterdam wieder auf. Es kommt zu einer Schießerei – und schließlich doch zu einem Happy Ending.
Wow! 1.020 Seiten an der Alster gelesen. Ein spannend geschriebener kluger Roman, der kunstgeschichtlich auf der Höhe ist und die New Yorker Lebenswelten differenziert schildert. Ein Entwicklungsroman über einen jungen Mann, der einen erzählerischen Sog entwickelt, dem man sich schwer entziehen kann.
Als ich die Absperrung des Alsterwegs passiere, sehe ich einen daran befestigten DIN A4-Zettel, auf dem eine Frau um die 40 einen ca. 1,90 großen Mann mit “alsterblauen Augen”, dem sie gestern zulächelte – und er zurück –bittet, doch Kontakt mit ihr aufzunehmen – sie gibt ihre Mail-Adresse an. “Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur” von Ulrich Greiner ist wohl das nächste Buch, das ich an der Alster lesen werde.
Die Alster, Fluss und See, Augentrost zu jeder Tageszeit. Wie schön der Blick am Morgen von der Fernsichtbrücke auf die Stadtsilhouette mit den geliebten Kirchtürmen, die sich jetzt durch den Bau der Elbphilharmonie leider nicht zum Vorteil verändert. Wie blank geputzt frisch leuchtet das Wasser. Wie fast mediterran färbt sich die Wasserfläche ins Tiefblaue, in der “blauen Stunde” der Dämmerung.An der Stelle sitze ich auf der Bank, da, wo früher das Uhlenhorster Fährhaus stand, diesen Blick von dort malten Bonnard, Vuillard und Liebermann …
Und wenn dann noch der Mond groß aufgeht wie dieser Tage, ist das Glück fast vollkommen. Fehlen nur noch die Klänge des vom Hamburger Tanzkapellmeister Oscar Fetrás geschriebenen Walzers “Mondnacht auf der Alster”, der in meiner Jugend oft im Wunschkonzert des NWDR gespielt wurde.
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