Was macht die neue Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt mit jungen Menschen?
In Spanien, Portugal und Griechenland, wo man im Familienzusammenhang einigermaßen zurechtkommen kann, geht die Mehrheit regelmäßig protestieren. Es gibt wie in Frankreich eine politische Ausdrucksform für die aufgezwungene Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt. In Deutschland, wo die Lage nicht ganz so dramatisch ist – immerhin 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss – ist eher eine Entpolitisierung zu konstatieren.
Auch ist die Neigung zu rechtsgerichteten Gedanken und Handlungen in der Jugend in Mitteldeutschland eine große Gefahr. Es gibt regionale Depravierungen. Ein Sozialstaat, eine soziale Marktwirtschaft, die versagt, gibt solchen Tendenzen Vorschub. Ein dürftiges Leben, ohne Aussichten auf sichere Familiengründung und eine akzeptable Altersversorgung, ist aus evangelischer Sicht nicht hinzunehmen.
Es widerspricht dem Gedanken der gerechten Teilhabe, die unaufgebbarer Bestandteil des christlichen Menschenbildes sei, sagte Bischöfin Fehrs auf dem 4. Nordforum, das vorbereitet vom Sozialethischen Arbeitskreis Kirche und Gewerkschaften und dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt jetzt mit prominenter Besetzung in Hamburg stattfand.
Zunächst also ein paar Fakten, mitgeteilt vom DGB-Vorsitzenden Uwe Polkaehn, die mich bewegen, weil ich sie oft vergesse und dann entrüsten: 7 Millionen Menschen in Minijobs, 1,3 Millionen sogenannte Aufstocker und Leiharbeiter, 20% Beschäftigte im Niedriglohnbereich.
Sodann: 62% der Menschen unter 35 haben Zukunftsängste. 1,5 Millionen sind ohne Berufsabschluss. Der Ausbildungsreport Schleswig-Holstein zeigt, dass die Lage besonders im Hotel- und Gaststättengewerbe desaströs ist – 30 % gehen nicht zur Berufsschule, 38% machen unentgeltlich Überstunden, über 50% der Minderjährigen müssen über 40 Std. arbeiten. 18.000 Jugendliche befinden sich in der Warteschleife. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es nur 8000 Ausbildungsplätze.
Bewegt hat mich der persönliche Bericht zweier Studentinnen, Isabel Artus und Mona Zomm, die im Rahmen des Berufsausbildungsprojekts des DGB Schulen und Betriebe besuchen. Viele der jugendlichen Auszubildenden unternehmen nichts gegen die ihnen aufgezwungenen Überstunden: “Das ist nun mal so.” Sie wissen nichts über ihre Rechte. 62% der Jugendlichen meinen, sie schaffen die Ausbildung nicht und sind einfach nur glücklich, wenn sie die Probezeit überstehen.
Manche haben über 200 Bewerbungen geschrieben; ernüchternd auch ihre Auskünfte zum Thema Übernahme – oft nur mündliche Zusagen, die dann auch noch begrenzt sind – “höchstens für ein Jahr, dann sehen wir mal weiter …”.
Manche wollen nur noch weg, weil ihnen der Beruf nicht gefällt. Die Auszubildenden wissen oft nichts über die sehr unterschiedlichen Entlohnungen; in den Berufsschulen werden die Pausen so unterschiedlich gelegt, dass die Auszubildenden darüber nicht ins Gespräch kommen können.
Der desaströse Zustand im Hotel- und Gaststättengewerbe ist nur die Spitze des Eisbergs: Andere Sparten, wie z. B. Friseure sind komplett mitbestimmungsfrei. Auch hier ist zu sagen: Die im europäischen Vergleich relativ gute Ausbildungssituation ist erkauft mit einer Senkung der Ausbildungsstandards.
Viele Jugendliche, die lieber einen Ausbildungsplatz hätten, hängen in Warteschleifen. Schlechte Zeugnisse dürfen nicht länger das Hauptkriterium für die Ablehnung von ausbildungswilligen Jugendlichen sein. Es muss sozusagen ein Äquivalent für die frühere klassenbedingte Arbeitsplatzgarantie geben, die trotz der Bildungsferne, die sich aus der sozialen Herkunft herleitete, dennoch zu einem Arbeitsplatz führte.
Eine Lösung wäre, theologisch gesprochen, gnädige Unterstützung, nichtreziproke Anerkennung – auch die Schlechten, die Sünder, werden von der bedingungslosen “Gnade” des Marktes, seiner “unsichtbaren Hand” (Adam Smith) integriert.
Der Wirtschaftssoziologe Ulrich Brinkmann von der Universität Trier lieferte einen guten Gesamtüberblick über Gesellschafts- und Arbeitsmarktentwicklung, setzte aber einen zu geringen Fokus auf Jugend.
Ältere und jüngere Arbeitskräfte müssen gemeinsam für nichtprekäre Normalität kämpfen. Es gibt eine Krise der Demokratie durch die jüngste Wirtschaftsentwicklung – 73% der Befragten sagen, die Banker haben größeren Einfluss als die Politiker.
Brinkmann stellte fest, dass die Arbeitskraft wieder zur Ware wird, früher war das Ziel Integration, jetzt kommt es zur Entkoppelung. Wichtig der Abschnitt über Dimensionen der Prekarität – materielle, sozialkommunikative, sozial-moralische und sinnhaft-subjektive Dimension. Insgesamt ist bei dieser Entwicklung zur Prekarität ein Sinnverlust zu verzeichnen. Den Skandal der Leiharbeit machte Brinkmann am Beispiel eines Flugblatts einer Leiharbeitsfirma aus Olpe/Sauerland deutlich: “Alle müssen raus.”
Menschen werden wie Dinge behandelt. Genau das geschieht aber in der Abstiegsreihe Normalarbeit – Leiharbeit – Werkverträge – Kleinstverträge (Outsourcing). Mir fällt dazu der Skandal des Schröder-Satzes vom Gipfel in Davos 2005 wieder ein: “Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.”
Interessant der Einblick in die Einstellungen der Occupy-Bewegung, den eine empirische Befragung lieferte: Die meist jungen Menschen sind zu 96% demokratischen Werten verpflichtet, aber nur 13% trauen den gegenwärtigen Demokratien einen radikalen Politikwechsel zu, der die Finanzmärkte reguliert und Jugend wieder in Arbeit bringt. Was ist zu tun?
In Hamburg ist die Jugendberufsagentur in den Bezirken ein zu unterstützender Versuch, möglichst alle Jugendlichen in Ausbildung zu bringen, Mindeststandards einzuhalten, den Ausbildungsmarkt – noch ohne Sanktionsmittel – wieder zu regulieren.
Hier handelt man nach dem Motto, das der 1. Bürgermeister Olav Scholz ausgegeben hat: “Keiner darf verlorengehen” (wie der evangelische Theologe und Begründer des Rauhen Hauses Johann Hinrich Wichern übrigens auch). Oder auch anders herum: “Wir kriegen jeden.”
Ein weiterer Schritt ist die aufsuchende Beratung von Jugendlichen. Wie können Kirchengemeinden vor Ort das unterstützen? Durch Street Work, aufsuchende Sozialarbeit, durch Schulpatenschaften, durch Beratung von Abschlussklassen (schlug der anwesende Bürgerschaftsabgeordnete Wolfgang Rose vor)? Die Lübecker Bischöfin Kirsten Fehrs betonte den hohen Rang von Bildung in der evangelischen Sozialarbeit. Projekte wie “Comeback” für den Schulabschluss von Schulverweigerern, z. B. an der Wichernschule, wären auch für Ausbildungssuchende exemplarisch zu entwickeln, über Jugendkirchen, Jugendpfarramt, Fachhochschule oder Pädagogisch-Theologische Institute, so der Autor dieses Artikels auf dem 4. Nordforum, das insgesamt “neue Regeln für den Arbeitsmarkt” forderte.
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