Der große jüdisch-russische Maler Marc Chagall hat bekanntlich viele Bilder zum Alten Testament gemalt. Er setzte sich damit souverän über das in den 5 Büchern Mose ausgesprochene Bilderverbot hinweg, als hätte es keine Gültigkeit mehr. In der Zeit der Pogrome der nationalsozialistischen und bolschewistischen Judenverfolgung verdichten sich in seinen Bildern die tragischen Visionen. So in dem Gemälde “Der Märtyrer” von 1940, so in der “Weißen Kreuzigung”, so auch in dem Chorfenster der Mainzer Stephanskirche, in der ich kürzlich zu Besuch war. Dazu ein beschämendes Erlebnis immer noch antisemitischer Einstellung von Christen: Einer Frauengruppe aus dem Saarland wurde das Fenster mit dem gekreuzigten Juden erklärt, worauf eine Frau neben mir sagte: “Ich versteh nicht, wieso wir einen Juden zu unserem Heiland gemacht haben.”
In diesen Bildern von dem gekreuzigten Juden Jesus überlagern sich jüdische Leidenserfahrung und christliches Heilsgeschehen. Das in christlicher Kunst manchmal bis zum Überdruss ästhetisch ritualisierte Leiden eines zum Welt-Erlöser gewordenen jüdischen Menschen um die Zeitenwende wird zur aktuellen Vergegenwärtigung ungeheuren jüdischen Leids. Christus wird zum Symbol jüdischen Martyriums.
Anders geht Chagall in dem Gemälde “Christus vor dem blauen Himmel” vor. Was sehen wir auf diesem Bild? Vor einem blauen Himmel ragt der Gekreuzigte auf, die Arme weit ausgestreckt. Er hat einen leuchtenden gelben Nimbus. Sein Gesicht ist das des sogenannten semitischen Typs mit kurzgeschorenem Bart. Sein Körper weist grüne Flächen auf. Vor dem Gekreuzigten aber ist eine schwebende üppige Frau zu sehen. Sie verdeckt, überdeckt den Körper Jesu mit ihrem schönen, leicht gebogenen Leib, die Brüste mit den rosa Warzen sind unter dem durchsichtigen Kleid zu erkennen. Es ist, als ob die Frau den Gekreuzigten umarmt.
Denn mit dem rechten Arm versucht sie Jesu Arm, Schulter und Kopf von vorn zu umfassen, mit dem linken geht sie, mehr angedeutet, hinter den rechten Arm Jesu und Kreuzesbalken. Ihr Kopf ist weit zurückgeneigt, ihre Haare fließen nach unten. Beide, Jesus und die Frau halten die Augen geschlossen und ihre Münder leicht geöffnet. Soll man sagen wie im Kuss? Denn die Frau hat sich so nahe an Jesus herangedrängt, dass der leicht geöffnete Mund Christi als Kuss gedeutet werden kann. Rechts ist eine tiefrote Abend-Sonne zu erkennen, davor der Kopf eines Widders (der Kuh) Symbol des Opfers, darunter ist ein Hahn zu sehen, Symbol der Fruchtbarkeit, rechts davon ein Gewusel, das ich nicht recht deuten kann. In dem dunklen Blau, das sich im unteren Bildteil einschwärzt, sind die Häuser wohl eines Dorfes zu erkennen. Weiße Flecken auf dem tiefen Blau des Himmels leuchten wie Sterne.
Ein farbstarkes Gemälde mit fließenden Formen, ein Bild intensiver Hingabe, ja Verschmelzung, ein Bild erotischer Hingabe und Erlösung. Wäre es ikonographisch nicht so festgelegt, könnte man es auch “Der Kuss” nennen. Der extreme Schmerz des Leidens und die drängende Sehnsucht des Kusses werden in diesem Bild zusammengebracht. Ein Kuss spielte schon bei der Auslieferung, dem Verrat Jesu, eine Rolle. Der Wunsch Jesus zu küssen, spielt in der Kreuzesmystik und Minne des Mittelalters ebenfalls eine Rolle. Die Versenkung in Jesu Wunden hat durchaus etwas verquer Erotisches, die “lieben Wunden des Heilands” werden geradezu angeschmachtet.
In der bildlichen Darstellung sind die weinenden und trauernden Frauen mit ihren expressiven Gesten unterm Kreuz immer noch schöne Frauen voll erotischer Hingabe, die um ihren Heiland klagen. Besonders Maria Magdalena mit ihren langen Haaren, mit denen sie einst Jesu Füße trocknete, wird als sinnlich schöne Frau am Kreuz dargestellt.
Sie ist es dann ja auch, die Jesus nach der Auferstehung sofort berühren will, man denke an das wunderbare Bild von Tizian in der Londoner National Gallery: Noli me tangere
Man könnte fast sagen, der jüdische Maler transformiert die Sehnsucht der Maria Magdalena am Fuße des Kreuzes zu einer Umarmung, zu einem angedeuteten Kuss. Diese Nähe von Jesus und der Frau kann in der Trauer Trost und Hoffnung geben: Auch angesichts des Todes hört die Liebe nicht auf.
Und das wollte Chagall wohl auch, wenn er seine ganz persönliche Sicht des gekreuzigten Juden Jesus auf diese Weise malerisch umsetzte. Es war vielleicht auch eine Befreiung von den übermächtigen Leidensszenen des jüdischen Volkes, die Chagall immer wiederbedrängten. Im amerikanischen Exil hat Chagall, so lese ich in dem Katalog der Ausstellung, auch eine persönliche Beziehung zu der Jesus-Gestalt entwickelt.
So hat er in einer Darstellung der Kreuzabnahme 1941/42 die Inschrift INRI durch seinen eigenen Namen ersetzt. So steht Jesus/Chagall für das Schicksal der verfolgten jüdischen Künstler. In diesem Zusammenhang ist auch Chagalls Sicht Jesu als gekreuzigter Liebender und als Geliebter zu sehen. Man könnte sagen: Der den blauen Himmel umspannende Jesus ist ein kosmischer Christus, der sich von der Menschheit in Gestalt einer Frau umarmen lässt. Chagall nimmt die Liebe Jesu zu uns Menschen ganz wörtlich, sie gilt bis zum Tode am Kreuz.
Und die Gläubige als Liebende bleibt bei Jesus bis zum Schluss. Die Frauen waren es ja nach Angabe der Evangelisten, die mit zum Kreuz gingen, nicht die Jünger-Männer. So macht diese schöne Bild Chagalls etwas sinnlich-erotisch-malerisch deutlich, was wir sonst vielleicht verdrängen oder spiritualisieren.
Übrigens: Der Zusammenhang von Kreuzigung und Erotik wird in Katzanzakis Roman Die letzte Versuchung Christi in Form eines Traums behandelt — Jesus am Kreuz fällt in Ohnmacht und kehrt ins Leben zurück, verliebt sich, heiratet, hat sogar zwei Frauen, viele Kinder, vergisst seinen Traum vom Reich Gottes, lebt ein normales Familienleben als Vater Ehemann und Handwerker, bis die Jünger kommen und ihn des Verrats bezichtigen. Er besinnt sich und erwacht — am Kreuz.
Martin Scorsese hat darüber einen Film gedreht, der von der katholischen Kirche heftig angefeindet wurde, aber bis heute einer der eindrücklichsten Jesusfilme ist. Christus vor dem blauen Himmel in Umarmung mit einer Frau. Schockierend schön ist das. Chagalls Bild erinnert uns angesichts der zuweilen depressiv-masochistischen Kreuzesverehrung daran, auch im Leiden die Liebe und das Leben nicht zu vergessen, das Leben und die Liebe, für dessen Rettung und Bewahrung Christus sich letztlich hingegeben hat.
Anmerkung: Aus rechtlichen Gründen können wir das Bild an dieser Stelle nur für 4 Wochen auf dieser Seite präsentieren. Wir danken an dieser Stelle dem Picasso-Museum in Münster und dem Bucerius-Kunstforum in Hamburg für ihre Hilfe bei der Beschaffung der Reproduktion.
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