Ich bin selten in der City, obwohl ich nahebei auf der Uhlenhorst wohne. Sitze lieber zu Hause am Schreibtisch, oder ich gehe an die Alster, setze mich auf eine Bank und lese (gerade Amos Oz‘ Roman Judas). Gelegentlich fahre ich in die St. Petrikirche, weil ich dort manchmal nachmittags um viertel nach fünf eine sogenannte Hörzeit durchführe, eine Kurzandacht, von Orgelmusik umrahmt.
In die Petrikirche an der Mönckebergstraße kommen am Tag bis an die 1.000 Menschen, die hier Ruhe und Geborgenheit suchen, durch die vierschiffige Kirche gehen, eine Kerze entzünden, sich die Bilder anschauen – z. B. das von der Vertreibung der armen Hamburger durch die napoleonischen Soldaten kurz vor Weihnachten 1813 oder vor der wunderschönen gotischen Sandsteinstatue der Maria mit Jesuskind verweilen. Sie setzen sich in die Bänke, um sich auszuruhen von anstrengenden Einkäufen oder Besichtigungstouren. Wohnungslose halten hier ein Schläfchen, Einsame und Traurige lassen sich ein wenig aufrichten.
So auch in der Hörzeit, 30- 40 Leute hören der Orgel und mir zu. Letzten Montag sprach ich über das »Tanzlegendchen« von Gottfried Keller, das von der frommen Tänzerin Musa erzählt, die von König David dazu gebracht wird, so lange zu fasten, bis sie stirbt und in den Himmel kommt, wo der Tanz angeblich viel schöner sei. Sie kommt eben an dem Tag im Himmel an, an dem auch die neun heidnischen Musen bei einem Fest dabei sein dürfen. Als diese aber, um sich erkenntlich zu zeigen, ein Lied anstimmen, das alle Himmelsbewohner sehnsüchtig nach der Erde macht, sodass ein großes Jammern im Himmel ist, da wird ihnen von der allerhöchsten Trinität der Zugang zum Himmel für immer verboten.
Aber, so meine ich, es ist ja ein Trost, dass wir in manchen Kunstwerken schon den Himmel auf Erden spüren, auch hier in der Kirche. Hinterher schwärmte mir eine Besucherin von der Ballettschule John Neumeiers vor, die neben ihrer Wohnung in Hamm liegt. Wie die jungen Leute tanzten, das wäre doch – himmlisch.
Nach der Andacht gehe ich dann durch die Stadt. Esse eine Bratwurst, den sogenannten Mö-Griller, günstig und gut. Am Mönckeberg-Brunnen stehen ein paar Leute mit Transparent und Mikrofon – es ist die Montagsdemo gegen Hartz IV, die schon seit Jahren hier und anderswo stattfindet. Immer wieder wird zu Recht der Skandal des Millionen-Marktes von ungesicherten Arbeitsverhältnissen angeklagt, die Kürzung des Arbeitslosengeldes II, die Arbeitsgelegenheiten und Zwangsauflagen für Arbeitslose. Eine kleine Band macht Mut mit dem Lied »Nur wer nach oben blickt, sieht die Sterne«, aber nur ganz wenige Leute bleiben stehen und hören sich das an. Ebenso ergeht es dem frommen Prediger 100 Meter weiter, der seit Jahren die Menschen in der City zu Christus ruft.
Mein Spaziergang führt mich weiter zum Haus der Patriotischen Gesellschaft, die im April 250 Jahre alt geworden ist und durch einen Festakt in Anwesenheit des Ersten Bürgermeisters im Festsaal des Rathauses geehrt wurde. Dabei erfuhr man einiges Wissenswerte von ihren Aktivitäten und zivilgesellschaftlichen Innovationen, so geht beispielsweise die Einrichtung von Bücherhallen in Hamburg auf ihre Initiative zurück. Der stellvertretende Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, ein Grüner, hielt eine Festrede über Patriotismus und zitierte eine schöne Formulierung des Orientalisten und katholischen Theologen Ernest Renan, Patriotismus in der Demokratie sei das tägliche Plebiszit der sie Tragenden.
Ja, es gibt viel zivilgesellschaftliches Engagement in der Stadt, das neueste Projekt der Patriotischen Gesellschaft ist ein Bildungsstipendium für Migrantenkinder. Auch Sozialarbeit hält die Gesellschaft täglich zusammen. Wenn sie mal versagt, etwa in der Familienhilfe, dann kann es schrecklich werden, wie im Fall der kleinen Yagmur, die nach den Misshandlungen durch ihre Mutter (sie wurde inzwischen zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt) im Herbst 2013 starb. Ein Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft stellte 2014 fest, dass die beteiligten Jugendämter trotz der Verletzungen die Gefahr nicht erkannten, in der das Kind schwebte.
Trotzdem – das tägliche Zusammenhalten unserer Gesellschaft durch soziale Arbeit wird nicht so deutlich, es sei denn die Kindergärtnerinnen streiken, was gerade jetzt geschieht. Wie ich finde, berechtigt, denn sie werden zu schlecht bezahlt für ihre wichtige Tätigkeit. Und dann ist man als Großvater etwas mehr gefordert mit dem Einspringen. Aber ich habe Glück (oder auch nicht), denn meine Enkelkinder gehen in Berlin in einen Kindergarten, in dem bislang nicht gestreikt wurde.
Gelegentlich bekommt man auch bei solchen Spaziergängen auch etwas mit von den anomischen Erscheinungen in unserer Stadt – ein Raubüberfall mitten in der City, zwei Täter rein ins Uhrengeschäft, Vitrine zerschlagen, Uhren im Wert € 40.000 mitgenommen und ab mit dem Roller durch die belebte City. Auch in anderen Stadtteilen gab es in dieser Woche Raubüberfälle. Und es gibt zwischenmenschliche Gewalt, Streitereien, die gewaltsam ausgetragen werden. In Eppendorf stach eine offensichtlich verwirrte Frau einer anderen, ihr unbekannten Frau, mit dem Messer in Rücken und verletzte sie lebensgefährlich. In einem anderen Stadtteil musste die Polizei mit einem Gross-Einsatz einen Streit zwischen rivalisierenden Gruppen schlichten. Ein Hausbesitzer, Sportschütze, erschießt einen maskierten Einbrecher.
Ja, Hamburg hat eine Schokoladenseite, Mönckebergstraße, Rathausmarkt, Neuer Wall und Jungfernstieg, wie schön und abwechslungsreich ist es dort (übrigens auch im Schanzenviertel). Und es hat seine Problemzonen, die Reeperbahn, die Veddel, Billstedt, und es hat jene Viertel, die man durchschnittlich nennen muss, Wandsbek, Wilhelmsburg, Harburg, Altona, wo aber Hunderttausende wohnen und arbeiten.
Den Stadtstolz, das Gefühl in einer attraktiven Stadt zu leben, aber bezieht man aus den schönen Quartieren. Dazu gehört inzwischen auch die Hafencity, die gerade 10 Jahre alt geworden ist und in der ich an einem Juni- Sonntag nach dem Besuch der Katharinenkirche (dort musste ich über die Installation In der Schwebe predigen, einen riesigen Felsen, der mitten in der Kirche hängt) ein wenig flaniere.
Die Fertigstellung der Elbphilharmonie macht Fortschritte. Und dann mit der Fähre zu den Landungsbrücken und zum Bismarck-Denkmal, das mit einem Steinbock on the top verfremdet wurde. Und weiter zum Michel, wo eine Woche später ein riesiger Motorrad-Gottesdienst stattfindet – versucht euren Schutzengel nicht durch gefährliches Fahren, sagt der Motorrad-Pastor, bevor er seine Maschine zum Start nach Kaltenkirchen anlässt.
Summer in the City, obwohl das Wetter nicht sommerlich ist. Und zum Abschluß noch ein Besuch im Komponistenquartier, wo gerade ein hübsches Museum zu Ehren von Telemann, Johann Adolf Hasse und Carl Philip Emanuel Bach eröffnet wurde.
Ja, es geht uns ganz gut in Hamburg. Und am Abend ist es dann wider Erwarten noch so warm, dass man die Wasserlichtorgel in Planten und Blumen, die ich schon seit meiner Kindheit in den 50er Jahren kenne und schätze, ohne zu frösteln genießen kann.
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