Ich ärgere mich oft, wenn ich zu Weihnachten in der City bin, über das wenig weihnachtliche Treiben in den Einkaufszentren und auf den Weihnachtsmärkten. Lärmiges Essen und Trinken wie auf dem Oktoberfest, Freundschaftsgruppen, die sich hier treffen und lautstark unterhalten. Heruntergedudelte Weihnachtslieder von überall, ein Weihnachtsmann mit Rentierschlitten und dem Ruf “Hoho”.
Welch eine Veräußerlichung der Botschaft von der Geburt des Erlösers! Und in meinem christlichen Strafbedürfnis bin ich mit dem Johannes-Evangelium versucht zu sagen: “das Licht scheint in die Finsternis und die Finsternis hat’s nicht begriffen.” Vielleicht denke ich sogar noch, ihr werdet schon bald die Konsequenzen eures Verhaltens erleben, wie der nicht richtig gekleidete Gast im Gleichnis von der königlichen Hochzeit. Aber gemach!
Die berühmteste Weihnachtsgeschichte nach der des Evangelisten Lukas ist die von Charles Dickens: Ein Weihnachtslied in Prosa (A christmas carol in prose), 1843 erschienen. Darin schildert Dickens, wie der herzlose alte Geschäftsmann und Geizhals Ebenezer Scrooge in einer Weihnachtsnacht zu einem gütigen und hilfsbereiten Menschen wird.
Völlig unbeeindruckt von der allgemeinen Weihnachtsstimmung und den Festvorbereitungen befindet sich der Junggeselle Scrooge am Heiligabend in seinem Büro. Wie immer benimmt er sich gegenüber seinem Schreiber Bob Cratchit herzlos und kleinlich, denn Cratchit darf keine Kohlen nachlegen. Scrooge bedauert sogar, dass er ihm zum Fest einen Tag unbezahlten Urlaub geben muss. Seinen Neffen, der ihn freundlich zum Weihnachtsessen einlädt, fertigt er mit schnöden Worten ab. Ein paar Bittsteller, die ihn um eine Spende für Wohltätigkeitszwecke bitten, jagt er mit barschen Worten davon.
Als er nach Hause in seine große einsame Wohnung kommt, erscheint ihm der Geist seines verstorbenen Geschäftspartners Marley. Umschlungen von einer Kette, an der Geldkassetten, Schüssel Geschäftsbücher und aus Stahldraht gefertigte Börsen hingen. Er erklärt Scrooge auf Nachfrage, dass er verdammt sei auf der Welt umherzuwandern und mit anzusehen, was er im Leben hätte zum Guten verändern können. Er warnt ihn vor einem ähnlichen Schicksal und kündigt ihm weiter Geistererscheinungen an. Tatsächlich wird Scrooge von den Geistern der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht heimgesucht. Vor Scrooges Augen erscheinen nun Szenen aus seiner Kindheit Schul und Lehrlingszeit, als er selbst noch gerne Weihnachten feierte, erscheint das Bild seiner Verlobten, die, weil er zu einem nur am Profit orientierten Geschäftsmann sich entwickelt, die Verlobung löst.
Er sieht, was er durch seine Selbstsucht und Habgier versäumt hat. Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht zeigt ihm das Weihnachtsgeschehen bei seinem Neffen, der in fröhlicher Runde feiert und seines armen Angestellten Cratchit mit dem behinderten Kind Tiny Tim, die ihn ihr Weihnachtsgebet um Gesundheit und Segen einschließen. Schließlich zeigt ihm der Geist der zukünftigen Weihnacht das Sterben, das Begräbnis und den Grabstein eines alten Mannes, auf dem er zu seinem Schrecken seinen eigenen Namen erkennt.
Er ist zutiefst betroffen von diesem Gewissenstraum und er ändert sich von Grund auf. Aus dem herzlosen Egoisten wird ein Mensch, der voll Nächstenliebe Gutes tut. Auch Tiny Tim wird gerettet. Eine Weihnachtsgeschichte als eine Bekehrungsgeschichte.
Was auffällt – die eigentliche Weihnachtsgeschichte wird in dem 100 Seiten-Text mit keinem Wort erwähnt. Weihnachten ist für Dickens das Fest aller Feste. Es ist vor allem ein fröhliches Fest, ein Fest der Freigiebigkeit, ein familiäres Fest. Ein Fest, das auch die Armen und die Menschen am Rande einschließt.
Wenn alle Tage Weihnachten wäre, sagte er einmal, dann würde das Paradies auf Erden sein. Uneigennützigkeit, eine andere glücklich machende Fröhlichkeit und Freigiebigkeit ist das Kennzeichen dieses Festes. Es soll Spaß machen und deswegen gehören zu ihm auch gesellige lustige Betätigungen, die er in der Erzählung am Beispiel des Festes von Scrooges Lehrherrn schildert. Dickens selbst ist zu Weihnachten im Familien- und Freundeskreis als Zauberer auf getreten.
Der christliche Charakter ist bei Dickens hinter diesem bürgerlich-freigiebigen zurückgetreten. Die Geschichte von Jesu Geburt, Kirchgang und christliche Weihnachtsgesänge werden nicht erwähnt, was ihm fromme Kritiker auch vorwarfen. Aber Dickens erzählt im Titel und im Inhalt die frohe Botschaft von Weihnachten in ihrer weltlichen Auswirkung, und zwar im Kolorit des frühindustriellen Englands des 19.Jahrhunderts. Kapitalisten wie Scrooge bestimmten die Wirtschaft.
Als er das Weihnachtslied schrieb, hatte Dickens gerade einen Kommissionsbericht über die ausbeuterischen Zustände in englischen Fabriken, über Kinderarbeit und Armut gelesen (vergleichbar denen heute in Bangaladesh). Ohne es theologisch zu benennen zeigt Dickens, wie Gottes Selbstentäußerung, seine Menschwerdung in einem Kind zu einer freigiebigen Selbsthingabe unter den Menschen führt , die sich mit ihrer fröhlichen Freigiebigkeit selbst beschenken, die sich über den ersten Schnee ebenso freuen wie über das gute Essen an diesem Fest. Die Weihnachtsfestfreude wirkt ansteckend. Das Weihnachtsfest kann Menschen verwandeln. Dazu bedarf es im Fall des hartherzigen Scrooge, eines der widerwärtigsten Charaktere im englischen Schrifttum, allerdings der Anstrengung mehrerer Geistererscheinungen.
Was sind das eigentlich für Geister? Gespenster-Kinder des Heiligen Geistes? Führt das nicht von Weihnachten weg? Denn in der Regel liegt in den Weihnachtserzählungen die stärkste verwandelnde Kraft doch im Anblick des neugeborenen Kindes in der Krippe: “Ein Kind ist uns geboren!” Jeder Mensch ist ein von Gott gewollter Anfang. Das ist die entscheidende Botschaft des Festes. Auch der alte Geizhals Scrooge kann neu anfangen. Aber nicht bekehrt vom Anblick des Kindes im Stall, nicht geläutert von dem Engelsgesang über den Feldern von Bethlehem sondern von — Geistererscheinungen. Vielleicht waren ja diese Angst machenden Geister verkleidete Engel.
So seltsam sind Gottes Wege in dieser Weihnachtsgeschichte, in der Gott und das Kind in der Krippe nicht vorkommen. Vielleicht geschehen solche Verwandlungen auch auf den lauten Weihnachtsmärkten in der City, kommt es zu Begegnungen, die verändern. Also: Vorsicht mit der Vorverurteilung der lauten Weihnachtsmarktbesucher. Auch sie können sich noch ändern, spätestens am Heiligabend, wenn auch sie stille werden und vor dem Kind in der Krippe zumindest innerlich in die Knie gehen.
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