Bene-Diktum: Weihnachtsgeister 2012

Charles Dickens und die immerwährende Möglichkeit zur Veränderung

Ich ärg­ere mich oft, wenn ich zu Wei­h­nacht­en in der City bin, über das wenig wei­h­nachtliche Treiben in den Einkauf­szen­tren und auf den Wei­h­nachtsmärk­ten. Lär­miges Essen und Trinken wie auf dem Okto­ber­fest, Fre­und­schafts­grup­pen, die sich hier tre­f­fen und laut­stark unter­hal­ten. Herun­terge­dudelte Wei­h­nacht­slieder von über­all, ein Wei­h­nachts­mann mit Ren­tier­schlit­ten und dem Ruf “Hoho”.

Welch eine Veräußer­lichung der Botschaft von der Geburt des Erlösers! Und in meinem christlichen Straf­bedürf­nis bin ich mit dem Johannes-Evan­geli­um ver­sucht zu sagen: “das Licht scheint in die Fin­ster­n­is und die Fin­ster­n­is hat’s nicht begrif­f­en.”  Vielle­icht denke ich sog­ar noch, ihr werdet schon bald die Kon­se­quen­zen eures Ver­hal­tens erleben, wie der nicht richtig gek­lei­dete Gast im Gle­ich­nis von der königlichen Hochzeit. Aber gemach!

Die berühmteste Wei­h­nachts­geschichte nach der des Evan­ge­lis­ten Lukas ist die von Charles Dick­ens: Ein Wei­h­nacht­slied in Prosa (A christ­mas car­ol in prose), 1843 erschienen. Darin schildert Dick­ens, wie der her­zlose alte Geschäfts­mann und Geizhals Ebenez­er Scrooge in ein­er Wei­h­nacht­snacht zu einem güti­gen und hil­fs­bere­it­en Men­schen wird.

Völ­lig unbeein­druckt von der all­ge­meinen Wei­h­nachtsstim­mung und den Festvor­bere­itun­gen befind­et sich der Jungge­selle Scrooge am Heili­ga­bend in seinem Büro. Wie immer ben­immt er sich gegenüber seinem Schreiber Bob Cratchit her­z­los und klein­lich, denn Cratchit darf keine Kohlen nach­le­gen. Scrooge bedauert sog­ar, dass er ihm zum Fest einen Tag unbezahlten Urlaub geben muss. Seinen Nef­fen, der ihn fre­undlich zum Wei­h­nacht­sessen ein­lädt, fer­tigt er mit schnö­den Worten ab. Ein paar Bittsteller, die ihn um eine Spende für Wohltätigkeit­szwecke bit­ten, jagt er mit barschen Worten davon.

Als er nach Hause in seine große ein­same Woh­nung kommt, erscheint ihm der Geist seines ver­stor­be­nen Geschäftspart­ners Mar­ley. Umschlun­gen von ein­er Kette, an der Geld­kas­set­ten, Schüs­sel Geschäfts­büch­er und aus Stahldraht gefer­tigte Börsen hin­gen. Er erk­lärt Scrooge auf Nach­frage, dass er ver­dammt sei auf der Welt umherzuwan­dern und mit anzuse­hen, was er im Leben hätte zum Guten verän­dern kön­nen. Er warnt ihn vor einem ähn­lichen Schick­sal und kündigt ihm weit­er Geis­ter­erschei­n­un­gen an. Tat­säch­lich wird Scrooge von den Geis­tern der ver­gan­genen, gegen­wär­ti­gen und zukün­fti­gen Wei­h­nacht heimge­sucht. Vor Scrooges Augen erscheinen nun Szenen aus sein­er Kind­heit Schul und Lehrlingszeit, als er selb­st noch gerne Wei­h­nacht­en feierte, erscheint das Bild sein­er Ver­lobten, die, weil er zu einem nur am Prof­it ori­en­tierten Geschäfts­mann sich entwick­elt, die Ver­lobung löst.

Er sieht, was er durch seine Selb­st­sucht und Habgi­er ver­säumt hat. Der Geist der gegen­wär­ti­gen Wei­h­nacht zeigt ihm das Wei­h­nachts­geschehen bei seinem Nef­fen, der in fröh­lich­er Runde feiert und seines armen Angestell­ten Cratchit mit dem behin­derten Kind Tiny Tim, die ihn ihr Wei­h­nachts­ge­bet um Gesund­heit und Segen ein­schließen. Schließlich zeigt ihm der Geist der zukün­fti­gen Wei­h­nacht das Ster­ben, das Begräb­nis und den Grab­stein eines alten Mannes, auf dem er zu seinem Schreck­en seinen eige­nen Namen erken­nt.

Er ist zutief­st betrof­fen von diesem Gewis­senstraum und er ändert sich von Grund auf. Aus dem her­zlosen Ego­is­t­en wird ein Men­sch, der voll Näch­sten­liebe Gutes tut. Auch Tiny Tim wird gerettet. Eine Wei­h­nachts­geschichte als eine Bekehrungs­geschichte.

Was auf­fällt – die eigentliche Wei­h­nachts­geschichte wird in dem 100 Seit­en-Text mit keinem Wort erwäh­nt. Wei­h­nacht­en ist für Dick­ens das Fest aller Feste. Es ist vor allem ein fröh­lich­es Fest, ein Fest der Freigiebigkeit, ein famil­iäres Fest. Ein Fest, das auch die Armen und die Men­schen am Rande ein­schließt.

Wenn alle Tage Wei­h­nacht­en wäre, sagte er ein­mal, dann würde das Paradies auf Erden sein. Uneigen­nützigkeit, eine andere glück­lich machende Fröh­lichkeit und Freigiebigkeit ist das Kennze­ichen dieses Festes. Es soll Spaß machen und deswe­gen gehören zu ihm auch gesel­lige lustige Betä­ti­gun­gen, die er in der Erzäh­lung am Beispiel des Festes von Scrooges Lehrher­rn schildert. Dick­ens selb­st ist zu Wei­h­nacht­en im Fam­i­lien- und Fre­un­deskreis als Zauber­er auf getreten.

Der christliche Charak­ter ist bei Dick­ens hin­ter diesem bürg­er­lich-freigiebi­gen zurück­ge­treten. Die Geschichte von Jesu Geburt, Kirch­gang und christliche Wei­h­nachts­gesänge wer­den nicht erwäh­nt, was ihm fromme Kri­tik­er auch vor­war­fen. Aber Dick­ens erzählt im Titel und im Inhalt die fro­he Botschaft von Wei­h­nacht­en in ihrer weltlichen Auswirkung, und zwar im Kolorit des frühin­dus­triellen Eng­lands des 19.Jahrhunderts. Kap­i­tal­is­ten wie Scrooge bes­timmten die Wirtschaft.

Als er das Wei­h­nacht­slied schrieb, hat­te Dick­ens ger­ade einen Kom­mis­sions­bericht über die aus­beu­ter­ischen Zustände in englis­chen Fab­riken, über Kinder­ar­beit und Armut gele­sen (ver­gle­ich­bar denen heute in Ban­galadesh). Ohne es the­ol­o­gisch zu benen­nen zeigt Dick­ens, wie Gottes Selb­sten­täußerung, seine Men­schw­er­dung in einem Kind zu ein­er freigiebi­gen Selb­sthingabe unter den Men­schen führt , die sich mit ihrer fröh­lichen Freigiebigkeit selb­st beschenken, die sich über den ersten Schnee eben­so freuen wie über das gute Essen an diesem Fest. Die Wei­h­nachts­fest­freude wirkt ansteck­end. Das Wei­h­nachts­fest kann Men­schen ver­wan­deln. Dazu bedarf es im Fall des hartherzi­gen Scrooge, eines der wider­wär­tig­sten Charak­tere im englis­chen Schrift­tum, allerd­ings der Anstren­gung mehrerer Geis­ter­erschei­n­un­gen.

Was sind das eigentlich für Geis­ter? Gespen­ster-Kinder des Heili­gen Geistes? Führt das nicht von Wei­h­nacht­en weg? Denn in der Regel liegt in den Wei­h­nacht­serzäh­lun­gen die stärk­ste ver­wan­del­nde Kraft doch im Anblick des neuge­bore­nen Kindes in der Krippe: “Ein Kind ist uns geboren!” Jed­er Men­sch ist ein von Gott gewoll­ter Anfang. Das ist die entschei­dende Botschaft des Festes. Auch der alte Geizhals Scrooge kann neu anfan­gen. Aber nicht bekehrt vom Anblick des Kindes im Stall, nicht geläutert von dem Engels­ge­sang über den Feldern von Beth­le­hem son­dern von — Geis­ter­erschei­n­un­gen. Vielle­icht waren ja diese Angst machen­den Geis­ter verklei­dete Engel.

So selt­sam sind Gottes Wege in dieser Wei­h­nachts­geschichte, in der Gott und das Kind in der Krippe nicht vorkom­men. Vielle­icht geschehen solche Ver­wand­lun­gen auch auf den laut­en Wei­h­nachtsmärk­ten in der City, kommt es zu Begeg­nun­gen, die verän­dern. Also: Vor­sicht mit der Vorverurteilung der laut­en Wei­h­nachts­mark­tbe­such­er. Auch sie kön­nen sich noch ändern, spätestens am Heili­ga­bend, wenn auch sie stille wer­den und vor dem Kind in der Krippe zumin­d­est inner­lich in die Knie gehen.

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