Auf dem Friedhof Ohlsdorf sind in Massengräbern die fast 40.000 nichtidentifizierten Toten der schrecklichen Bombenangriffe auf Hamburg, genannt Operation Gomorrha, von Ende Juli/Anfang August 1943 beigesetzt – in kreuzförmig angelegten Feldern mit den großen Balken, auf denen die Namen der Ortsteile stehen, ich nenne nur Barmbek, Winterhude, Hamm, Horn, Veddel, Rothenburgsort, Wandsbek; Neustadt, Altstadt, Altona, Eimsbüttel. In der Mitte das Mahnmal mit der Skulptur von Gerhard Marcks von dem Totenfährmann Charon, der ein anmutiges Brautpaar, einen Mann, eine Mutter mit Kind und eine Greis über den Acheron setzt, den Strom, der die Oberwelt vom Reich der Schatten trennt. Er wirkt erstarrt und symbolisiert so die Gleichgültigkeit des organisierten Massentodes. Meine Gedanken gehen zu diesem großen Totenfeld.
Der damalige Hamburger Bürgermeister Brauer sagte bei der Einweihung des Mahnmals für die Bombenopfer von 1943 auf dem Friedhof Ohlsdorf im August 1952: “An dieser Stätte sollen sich die Bürger dieser Stadt vereinigen können, um Zwiesprache mit den Toten zu halten. Ihr Erinnerungsbild ist uns allen so nahe, als weilten sie noch heute in unserer Mitte.”
Das war vor 61 Jahren, vor fast zwei Generationen also. Das Erinnerungsbild der Bombenopfer ist inzwischen verblasst, die meisten sind vergessen, weil die, die sie kannten und liebten, nicht mehr leben. Schon das Gedächtnis der Enkel ist schwächer. Da ist das große Massengrab, das Feld mit den Toten, unübersehbar. Angehörige der Toten haben an den Rändern einzelne Grabsteine gesetzt, die meisten Namen sind verwittert, kaum 200 sind noch lesbar. Wir haben kaum noch eine Vorstellung von ihnen.
Zwiesprache mit ihnen halten heißt: sich dem Grauen von damals stellen. Etwa dem Text von Gretl Büttner, die von der Hamburger Luftschutzleitung als “Berichterin” eingesetzt worden war.Sie dokumentierte im September 1943 ihre Erfahrungen bei Fahrten in die noch brennenden Trümmerlandschaften, und zuweilen konnte ich nicht weiterlesen:
“Was dann kam, war ohnmächtiges schüttelndes Grauen. Die Hammerlandstraße war voller Menschen sie hockten auf den Treppenstufen der Böschung, sie saßen an Bäume gelehnt, sie lagen mit hilfeheischend aufgereckten Armen auf dem Pflaster. Nur Tote, Tote. Viele von ihnen hatte die Glut in phantastische irrsinnige Stellungen gezwungen. Langsam und wie an Ketten ging der Blick von den verrenkten Gliedern zu den nicht mehr menschlichen, in ihrer Grauenhaftigkeit drohenden Gesichtern(…)
Dort lag eine alte Frau. Ihr Gesicht war friedlich, weich und müde, ihr weißes Haar leuchtete…Und dort eine Mutter, an jeder Hand ein Kind. Sie lagen alle drei auf dem Gesicht, in einer anmutigen fast gelösten Bewegung. So hatte die Ohnmacht sie sinken lassen. Und dort der Soldat mit den verkohlten Stümpfen der Beine (…)”
Gretl Büttner schaut hin, wendet den Blick nicht ab, versucht das Grauen des Bombentodes im Feuersturm zu beschreiben. Und die Verstörung der Überlebenden:
“Kinder irrten und riefen nach den verbrannten Eltern. Mütter saßen wie versteinert saßen wie versteinert am Wegrand und warteten, daß man ihnen den Sohn bringen würde, oder die Tochter. Lange Wochen nach diesem fürchterlichsten der Angriffe noch irrten sie herum und suchten und hofften und suchten – und waren wie aus Stein.”
70 Jahre danach, “Zwiesprache mit den Toten halten” heißt aber nicht, den Schrecken ihres Todes immer wieder zu beschwören. Ja, es war grauenhaft für die, die vom Feuersturm erfasst wurden, verbrannten und zu Asche zerfielen. Die verschüttet wurden und erstickten. Die von herabstürzenden Trümmern erschlagen wurden. Aber das ritualisierte Wiederholen dieser Fakten kann dazu führen, möglicherweise ihren Tod zu vergleichen mit anderen schrecklichen Toden während dieses grauenhaften Krieges, etwa gar mit den Millionen Opfern der Judenvernichtung und der anderen KZ-Opfer? Etwa vom “Bomben-Holocaust” in Hamburg zu sprechen, wie das die NPD 2003 tat?
Nein, ich glaube Zwiesprache mit den Toten zu halten, heißt etwas anderes. Es heißt nach so langer Zeit sie in auch Ruhe zu lassen, ihr schreckliches Sterben nicht immer wieder heraufzurufen, um zu zeigen, wie schrecklich sie gelitten haben, wie einmalig und grausam ihr Sterben war. Ja, es war so schrecklich wie das der Opfer von Guernica, Warschau, Rotterdam, London und Coventry, wo die deutsche Luftwaffe mit den Bombenangriffen zuerst begann, was dann die noch schrecklichere Vergeltung nach sich zog.
Aber das immer wieder zu beschwören in nicht enden wollender Erinnerung und Vergleichung ist auch nicht heilsam. Es ist wahr, Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht. Aber vielleicht war es weise von früheren Generationen, in die Friedensverträge eine Vergessensklausel einzubauen über die Untaten, die man sich gegenseitig angetan hatte. Sie sollten vergessen werden, um in Zukunft friedlich zusammenleben zu könne.
Und das ist ausgehend von der Nagelkreuzgemeinschaft der Kathedrale von Coventry auch geschehen zwischen den ehemals verfeindeten Engländern und Deutschen. Erinnern und vergessen im Sinne von: nicht mehr aufrechnen, verzeihen, sich versöhnen. Diese Stimme der Toten sollen wir hören.
Zwiesprache halten mit den Toten. Ich lese die wenigen verwitterten Namen. Ja, sie sind schrecklich gestorben, verbrannt, erschlagen, erstickt. Aber jetzt sind sie schon lange tot. Sie haben sich, wenn ich das so sagen darf, an ihr Totsein gewöhnt, auch an die Art ihres Todes. In meiner Zwiesprache mit den Toten höre ich die Stimmen der Kinder, die erschlagen, verbrannt und erstickt sind. Was sagen sie mir? Ich höre sie sagen, sie wussten nicht, dass gleichzeitig hunderttausende von jüdischen Kindern in die Vernichtungslager transportiert und dort ermordet wurden, darunter auch Hamburger jüdische Kinder, die nicht emigrieren konnten. Aber sie ahnten etwas, weil diese Nachbarskinder auf einmal weg waren. Doch die Eltern hätten gesagt, halt den Mund, frag nicht weiter. Jetzt aber sei es anders, man habe sich wieder getroffen. Diese Hamburger Kinder, die Bombenopfer und die Opfer der Judenvernichtung, die nicht gemeinsam “Anner Eck steiht ein Jung mit d‘m Tüdelband,” singen konnten, weil eine verbrecherische Rassenpolitik es ihnen verbot, ich höre sie dieses Lied singen.
Zwiesprache mit den Toten halten. Ich höre die Mütter, die lange darunter litten, dass sie ihre Kinder nicht retten konnten. Den Mann, der auf der Flucht vor dem Feuer seine Frau hinter sich ließ, den Bruder, der seine Schwester im Gewühl verlor, Schicksale über Schicksale. Aber ich höre die Toten, wie sie zu ihnen sagen: Lass es gut sein, mach dir keine Vorwürfe, denn hier im Reich der Schatten gibt es keine Vorwürfe mehr, hier sind wir gleich, ich erwarte dich, gräme dich nicht, es ist nicht zu ändern. Wir haben uns an unser Totsein gewöhnt.
Zwiesprache mit den Toten halten von Hamburg 1943. Sie waren nicht alle gleich, manche waren Nazis, manche Mitläufer, manche in der inneren Emigration, manche wollten nur ihr Leben leben und kümmerten sich nicht um Politik. Viele, weil sie in bestimmten Stadtteilen wohnten, traf es besonders schlimm, vor allem die Arbeiter. Und dann höre ich sie in einem babylonischen Stimmengewirr von Opfern der Gewalt.
Ich sehe die große weltweite Versammlung aller Opfer von Krieg und Gewalt, ein gewaltiges Heer, ein riesiges Totenfeld, und darin sind die Toten des Hamburger Feuersturms ein ganz kleiner Bereich. Vielleicht tauschen sie sich mit den anderen aus, wie bist du zu Tode gekommen. Vielleicht lächeln sie sogar über die infernalischen Anstrengungen, mit denen man sie getötet hat. Und wenn ich jetzt eine Litanei anstimmte und erzählte, wer dort alles versammelt ist, wir müssten noch mehrere Stunden ausharren. Vielleicht sagen die Toten aber zu den andern auch nur: Lasst uns in Ruhe tot sein.
Die Operation Gomorrha war schrecklich, die Hölle, wie viele sagten. Trotzdem — Hamburg hat das überstanden und ist schöner wiederaufgebaut als zuvor, eine blühende lebendige Stadt mit fröhlichen Menschen. Kaum noch Spuren der Zerstörung von 1943.
Rufen die Toten jetzt – aber du übersiehst unser Schicksal? Nein, ich höre das nicht, denn die Toten wissen, dass ich sie nicht vergesse, dass wir sie nicht vergessen, auch wenn wir nur noch gelegentlich an sie denken. Allen Opfern der Gewalt ist ein längeres Gedenken sicher als denen, die sozusagen normal, auf übliche Weise das Zeitliche segneten. Sie haben Denk- und Mahnmäler. Das Unrecht, das ihnen geschah, ist auf Steinen und in Skulpturen verewigt. Wenn wir davor immer wieder mal innehalten wie vor den vielen Stolpersteinen der deportierten und ermordeten jüdischen Mitbürger, dann ist es gut.
Denn die Toten möchten auch ihre Ruhe haben, nicht benutzt werden für andere Zwecke – etwa: Hamburg, die Opferstadt schlechthin. Die Wiederauferstehung der Stadt soll auch vom Odem Gottes zeugen, sprich von der Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht nur vom Geist des Konsums und des schönen Lebens. Zwiesprache mit den Toten halten, sie nicht vergessen und sie doch in Ruhe lassen. Darauf hoffen, dass Gott alle Tränen abgewischt hat von ihren Augen, wie es im Buch der Offenbarung heißt und dass sie Ruhe gefunden haben.
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