Das Dorf hinterm Deich

Johan Simons verlangt dem Publikum mit seiner Version von Storms „Schimmelreiter“ am Thalia Theater Einiges ab.

Vor der Flut. Bild: HHF

Auf der meter­ho­hen, schrof­fen Schräge liegt ein tot­er Schim­mel, und der Wind pfeift. Unheil­voll hän­gen die kom­menden Geschehnisse fast greif­bar in der Luft, dro­hend schweigt die Glocke, die bei ein­er Springflut geläutet wird. Das Ensem­ble nimmt Auf­stel­lung oben an der kanti­gen Ver­sion des Deichs, die in den gesamten Büh­nen­raum hineinge­baut ist und dem Pub­likum auf den seitlichen Plätzen lei­der den Blick auf einige Szenen ver­wehrt (Büh­nen­bild Bet­ti­na Pom­mer).

„Herr, du mein Gott, sei gnädig mit uns Men­schen!“ – wir befind­en uns im Jahr 1756, kurz vor der dro­hen­den Sturm­flut, die der Dor­fge­mein­schaft bevorste­ht. Sieben­mal wer­den die Schaus­piel­er an diesem Abend diese Auf­stel­lung in nur leicht­en Vari­a­tio­nen ein­nehmen und die Zuschauer tei­choskopisch das Grauen miter­leben lassen, als die allmächtige Sturm­flut her­an­rollt. Mit jed­er Erzäh­lung wird etwas mehr offen­gelegt über die Schuld eines jeden in der unheil­vollen Nacht, die den Deich zum Ein­bruch bringt. Die düstere Nov­el­le Theodor Storms über den Kleinknecht Hauke Haien, der zum Deich­grafen auf­steigt und sich Gott und den Naturge­wal­ten mit der Macht der Math­e­matik ent­ge­gen­zustem­men ver­sucht, wird in dieser Szene in ihrer ganzen Wucht greif­bar.

Die dun­klen Tage begin­nen mit einem Spiel. Das Eis­boßeln beim Deich­grafen gewin­nt aus­gerech­net der junge Knecht Hauke Haien – und gle­ichzeit­ig das Herz der Grafen­tochter Elke. Ein Kleinknecht hat auf ein­er Ver­anstal­tung beim Deich­grafen nur am Rande etwas zu suchen – und schon gar nicht das Spiel zu gewin­nen. Neid und Miss­gun­st sind ihm gewiss – weit bevor er durch die Ehe mit der Deich­grafen­tochter Elke die höch­ste Posi­tion des Dor­fes ein­nimmt. Es ist eine Szene, die vor­weg­n­immt, dass die Dorf­bevölkerung keine Verän­derung duldet.

Simons lässt seine Schaus­piel­er nicht agieren, nur erzählen. Selb­st zu Beginn der Liebesgeschichte zwis­chen Hauke und Elke find­et nichts als Spröd­heit statt, keine Berührung, kein Blick. Es ist eine schroffe und karge Welt, in der kein Platz ist für Zwis­chen­men­schlich­es, und dergestalt kühl und unnah­bar ist auch die Inter­ak­tion zwis­chen den Schaus­piel­ern. Jens Harz­er und Birte Schnöink als Deich­grafen-Ehep­aar wer­den noch einige Zwiege­spräche führen, sich aber fast nie berühren. Die Frau, die bei den hochgreifend­en The­o­rien ihres Mannes gedanklich meist müh­e­los mithält, wird ihm auch bei der Pla­nung des neuen Deichs mehr Part­ner als Gat­tin sein. In diesen Szenen darf echter Dia­log stat­tfind­en – Momente, bei denen man fast aufat­men möchte, weil sie einen kurz aus der Trock­en­heit des ständi­gen Nach-Vorn-Spie­lens reißen, die Simons seinen Schaus­piel­ern verord­net hat.

Das Ensem­ble in durch­weg schwarzen, an Friesen­maler Carl Lud­wig Jessen erin­nern­den Kostü­men (Tere­sa Vergho), hat es an diesem Abend nicht leicht. Bei der fün­ften Wieder­hol­ung der Springflut-Schilderung wer­den im Pub­likum erste Lach­er laut. Das strenge Korsett, in das Simons seine Insze­nierung schnürt, ver­langt Sitzfleisch und Konzen­tra­tion. Seine her­vor­ra­gen­den Schaus­piel­er – beein­druck­end vor allem Kristof van Boven in sein­er Kör­per­lichkeit als Kind Haukes – sind klar geführt und haben doch kein leicht­es Spiel. Nach der Pause bleiben viele Sitze im Par­kett leer, der Abend kann dur­chaus ermü­den. Und doch gibt es diese Momente, wo man den Atem anhält, weil die Insze­nierung so greif­bar die Rück­wärts­ge­wandtheit, Gottes­fürchtigkeit und Düster­n­is dieser kleinen Gemein­schaft am Meer greif­bar macht. Augen­blicke, in denen man das dro­hende Unheil fast anfassen kann, das da täglich über den Men­schen hängt. In dieser Atmo­sphäre wird eine Gesellschaft greif­bar, die zugrunde geht in ihrem unbeir­rbaren Glauben, der hier nicht ohne Aber­glauben möglich ist. Ein­er, der sich auf Euk­lid, die Math­e­matik, seinen Geist, kurz: auf die Aufk­lärung ver­lässt, wird hier unweiger­lich scheit­ern.

Jens Harz­er spielt Hauke Haien als einen Hadern­den, einen, der sein­er Zeit voraus ist, unbeir­rbar gegen die Wider­stände anren­nt, ohne zu ren­nen. Die Her­aus­forderun­gen, die das Leben an der Küste an ihn stellt – vom Wider­stand der Dorf­bevölkerung bis hin zur Geburt des zurück­ge­bliebe­nen Kindes – erträgt er stoisch, geleit­et von der Idee, etwas Größeres zu schaf­fen. Einzig, als Elke im Kind­bett zu ster­ben dro­ht, darf Verzwei­flung durch­schim­mern. Harz­ers Spiel ist wie meist reduziert, geprägt von sein­er unnachahm­lichen Art, die Sätze zu zerdehnen und teil­weise gegen ihren Sinn zu bürsten. Als zum siebten Mal die Springflut her­an­rollt und er ihr sich auf seinem ver­flucht­en Schim­mel ent­ge­gen­wirft, ist er allein auf der Bühne, allein mit all den Fra­gen ohne Antwort. Der Deich bäumt sich senkrecht zu voller Höhe auf, Harz­er entk­lei­det sich und ste­ht am Ende nackt bei harten Gitar­ren­riffs im Gegen­licht. Und scheint schließlich doch erlöst: „So hat man endlich Ruhe vor den Men­schen.“

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