Als der greise Goethe starb, so sagt man ihm nach, bat er um “mehr Licht”. Der kenntnisreiche Dichter, der sich zeit seines Lebens mit naturwissenschaftlichen Phänomenen auseinandergesetzt hatte, war mit der Elementenlehre der Antike tief vertraut – Feuer, Erde, Wasser, Luft, diese göttliche Vierheit drückte die vollkommene Weltenharmonie in der pythagoräischen Kosmologie des 6. Jahrhunderts vor Chr. aus. Nur 200 Jahre später erschien erstmals ein neues Element in der Philosophie, die Schule der Platoniker nannte es “Äther”.
Dieser stand für das Unfassbare in der Natur, eine Erscheinung, die den anderen, mehr oder weniger greifbaren Elementen übergeordnet war, den Himmel, die Welt. Dieser Äther wird als die quinta essenzia bezeichnet, jene Quintessenz, der, nach den naturphilosophischen Untersuchungen des Brüderpaares Hartmut und Gernot Böhme “eine ausgezeichnete Beziehung zum Licht und zur Seele” nachgesagt wird. In Kürze dieser Betrachtungen zusammengefasst, ist dieses fünfte Element der Träger des Lichts.
Eine tiefe Bedeutung hatte das auch für die Baumeister der gotischen Kathedralen, deren Konstruktionsidee eines göttlichen Hauses sich antiker Lichtmetaphorik bediente. Schon die ersten Bauherren dieser für ihre Zeit gigantischen Ritualräume nutzten die Inszenierung des einfallenden Lichtes zur Schaffung eines immateriellen Raumes, der sich nach oben über das bodennah Architektonische hinaus verflüchtigend, der Vorstellung des Göttlichen, des Ätherischen, annäherte.
So kommt es nicht von ungefähr zu einer tiefen Beziehungslage in der abendländischen Kultur zur Metapher des Lichts, die sich in vielen Ausdrucksformen findet. Verwurzelt in dieser Weltwahrnehmung sind Zeilen wie die des walisischen Barockdichters Henry Vaughn:
“I saw Eternity the other night/like a great ring of pure and endless light,/all calm, as it was bright,/and round beneath it, time in hours, days, years,/driven by the spheres,/like a vast shadow mov’d; in which the world/an all her train were hurl’d.”
Solche metaphysische Poesie der frühen Neuzeit wäre sicherlich beinahe vergessen und in den Studienschränken der Anglisten verstaubt, gäbe es nicht Komponisten wie den jungen Waliser Paul Mealor, der dieses Gedicht 2012 vertont hat. Eng mit der Formensprache der Gregorianik verknüpft, hat er Vaughns Lichtmeditation für 4‑stimmigen Männerchor gesetzt. Das hat allerdings, weiß Gott, nichts mit den Crossover-Mönchskantaten zu tun, die dem CD-Stapelwaren-Käufer eine nicht begriffene Innerlichkeit verkaufen, sondern ist moderne Chormusik auf höchstem Niveau.
Mealor hat sein Werk für das schleswig-holsteinische Sonux-Ensemble geschrieben, einer noch recht jungen Formation aus dem kleinen Ort Uetersen. Es sind junge Stimmen, Tenöre und Bässe, die da antreten gegen das Vorurteil von Männerchören in Kneipenhinterzimmern, und schräge Schubert-Intonationen, dieses Niveau haben sie längst verlassen.
Spielerisch leicht und – schon greift die Lichtmetapher erneut – und hell in den oberen Lagen klingen sie; die bordunartigen Liegetöne, die die Oberlagen stützen, setzen sich bis in das Zwerchfell des Hörers hinein. Über die exakte Ausgewogenheit der Stimmlagen kann man nur staunen. Unterstützt wird das Ganze von ein paar hingeworfenen Saxophon-Passagen und dem milde esoterisch anmutenden Geklingel eines Windspiels, ein Arrangement, das der streng kalkulierten Form ein wenig entgegen arbeitet.
Ein weiterer Dichter aus der Gruppierung der englischen Metaphysiker findet auf “Light and Love” – so heisst die jüngste Veröffentlichung des Sonux-Ensembles – seinen Platz, diesmal hat der Norweger Ola Gjeilo komponiert. Das Stück “Sacred Light” fusst auf George Herberts Erbauungsvers “The Call” aus dem Jahr 1633. Die “reine Metapher” (Hans Blumenberg) des Lichts wandelt sich hier in die Inkarnation des göttlichen Lichts, in Jesus Christus, der direkt angesprochen wird: “Come, my Light, my Feast, my Strength …”
Gjeilos Satz ist komplexer gehalten, von Redundanzen geprägt, choralartiger. Wie Glocken schlagen die Stimmen im zweiten Teil aufeinander, verweisen erneut auf das hohe Vermögen dieses Chores. Das Zusammenspiel mit dem erneut zur ergänzenden Stimme gewordenen Saxophon-Solisten Stefan Kuchel führt geradewegs in die jubelnden Sphären dieses Hymnus, in das dem Himmel nahe Dach der Kathedrale. Es werden Licht und göttliche Liebe eins, das kurze Stück ist sozusagen der Angelpunkt des Themenkomplexes, in dem sich die Produktion bewegt.
Der Chorleiter Hans-Joachim Lustig erweist sich als effektvoller Dramaturg seines Ensembles – die genannten Beispiele unterstreichen nicht nur die hohe Könnerschaft der jungen Sänger, sondern verweisen auf einen ausgeprägten Formwillen.
Solcherart sind auch die gefälligeren Passagen der Produktion, etwa die effektvollen “Fünf hebräischen Gesänge” des Amerikaners Eric Whiteacre, wohl einer der umtriebigsten zeitgenössischen Chorkomponisten, der sich höchst öffentlichkeitswirksam mit sogenannten “virtuellen Chören”, die gemeinsam über das Internet musizieren, in Szene gesetzt hat.
Diesen stark vermittelnden Atem merkt man dem für Chor und Streichquartett (hier dem soliden New Yorker Sirius Quartet) gesetzten Werk deutlich an, dessen hollywoodeske Leichtfüssigkeit mitunter ins historisierend Spätromantische kippt. Gleichwohl fügt sich auch dieses in den Gesamtkomplex ein und erleichtert sicherlich den Zugang zum komplexen Thema und vorurteilsbeladenen Genre.
Was bleibt: Der Verlust des Vorurteils, die aufklärende Auseinandersetzung mit dem hellen Licht der Erkenntnis und die Überraschung über ein – über sein chorisches Soziotop hinaus – fast unbekanntes Ensemble. Was kann eine Neuerscheinung noch mehr bieten?
Light and Love
New Vocal Works for
The Sonux Ensemble
Hinterlasse jetzt einen Kommentar