Ungemein populär war er, der Scheinrusse Iwan Rebroff, in den 70er und 80er Jahren in Deutschland. Zu den immer wiederkehrenden Klassikern seines gelegentlich pseudo-osteuropäischen Repertoires gehörte auch “If I Were a Rich Man” aus “Anatevka”, dem 1964er Broadway-Erfolg. Das Musical lief auch in Deutschland endlos und dem Song konnte in dieser Zeit wohl niemand entgehen, der ein TV-Gerät sein eigen nannte. Der Deutsche liebte anscheinend diesen russisch-jüdischen Milchmann, und endlich hatte er auch die Gelegenheit sich zu einem Juden zu bekennen, und außerdem noch zu sehen, dass es dem Volk, das er 20 Jahre zuvor auslöschen wollte, ja auch schon vorher schlecht ging und er nicht allein Täter war. Die putzig-dekorative Welt des Milchmanns, arm, aber irgendwie doch glücklich, weichherzig und schicksalsergeben war – das vor allem, war viel genehmer als Veit Harlans Schandwerke und vor allem gewissensbereinigt. Und wenn’s dann noch ostisch dialektet, dann war der Schtetl-Zuckerguss des Broadways auch in der gequälten deutschen Seele angekommen. Das der Urtext des Musicals von Scholem Alejchem stammte, einem der bedeutendsten Vertreter der jüdischen Literatur und frühem Verfechter des Zionismus, stand im D‑Mark-Deutschland nie im Vordergrund. Warum auch.
Ulrich Waller, der “Anatevka” jetzt am St. Pauli-Theater mit ziemlichem Aufwand auf seine kleine Bühne gebracht hat, weiss sicherlich um diese Geschichte. Natürlich bedient er die Klischees von Joseph Stein und Jerry Bock, den beiden Musical-Schreibern aus New York, die Häuschen des Kleinstädtchens sind hübsch windschiefe Versatzstücke, der Horizont glüht in allen Farben der Taiga und seine hervorragend disponierten sechs Musiker (Musikalische Leitung: Matthias Stötzel) tragen Weste und Kippa, damit auch ja alles klar ist. Das erwartet sein Publikum, dessen Profil doch ein anderes ist als das der großen Häuser an Kirchenallee und Alstertor. Aber er erliegt nicht der Versuchung, dem Stoff mehr Effet zu geben, als er ohnehin schon hat. Kein jiddischer Dialekt, radikal auf Anschluss gespielt, zumindest zu Anfang auf rasantes Tempo gesetzt, da kommt man nicht so sehr in die Versuchung sich in der Beschaulichkeitsauce zu verlieren. Seine Ensemble ist stimmlich wie darstellerisch stark besetzt, die Gruppenszenen sind schön in den knappen Raum gestellt und nicht einmal die Tanzerei ist peinlich.
Und wenn die Damen, mit Kaftan, Hut und Rauschebart versehen, rasant um die Dorfgesellschaft trippeln, dann fühlt man sich schon fast wie in einem dieser fabulösen Woody-Allen-Filmusicals.
Die Story stimmt, der Rhythmus stimmt, am Ende hat Tevje seine Töchter alle an die Männer gebracht, die er nicht wollte, die Zeit zerfällt und alle brechen auf zu den neuen Ufern des Exils. Maseltov und aus. Der alte Rampentiger Gustav-Peter Wöhler, der den Tevje entrebrofft und keinen Zweifel an seiner fulminanten Kunst aufkommen lässt, hat die Sache ebenfalls fest im Griff. Alle anderen (Adriana Altaras, Angelika Bartsch, Victoria Fleer/Sonja Gründemann, Heide Grübl, Torsten Hammann, Niels Hansen, Knut Koch, Ulrich Lenk, Marina Lubrich, Rossen Prangov-Rossi, Mario Ramos, Tim Reingruber, Anneke Schwabe, Mark Weigel, Richard Zapf) stehen ihm in nichts nach, es ist alles zwar unüberraschend, aber wirklich gut gemacht. Aber es ist eben nun auch – so wie der Antrag des Frührevolutionärs Perchik im Stück – “eine politische Frage”. Und da fängt die Sache an zu hinken.
Was Waller nämlich nicht macht, ist die Geschichte auf irgendeine Weise in die heutige Zeit zu führen. Da hilft auch nicht die zugegebenermaßen hübsche Idee, eben jenen Revolutionär Perchik in schönster Stummfilmmanier, mit Zwischentiteln und rollenden Augen, zu projezieren und damit die Zukunft der russischen Gesellschaft zu prophezeien. Es fehlt in der Tat an der Vermittlung des Wissens, was kommen wird. Das halbherzige Pogrömchen der Musical-Fassung, das ja am Ende zu Auswanderung der Juden aus dem vorrevolutionären Russland führt, ist eine hingehauchte Andeutung – eine kleine Prügelei, ein zerfetztes Kissen, das war’s dann auch schon. Ein bisschen mehr einer Ahnung der in den nächsten fünfzig Jahren folgenden Ereignisse kann und müsste auch dieses Stück mittlerweile vertragen. Das ist dann schon eine Gefahr des schönen, flotten Anschlußspiels, fürs Hintergrunddenken bleibt da weniger Zeit als für den schönen Effekt, es reicht dann nicht, den Schmäh wegzuspielen und ansonsten auf die Kraft des Stoffes zu vertrauen. Und die Frage stellt sich einfach: Warum muss man genau dieses Stück machen, wenn es nicht noch mehr zu erzählen hat als ein paar Liedchen und eine flotte Handlung?
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