Für fast jeden der Sommertouristen, die sich auf der Nordseeinsel Föhr auf ihren Fahrrädern dem stetigen Wind entgegenstemmen, ist der Kirchhof von St. Laurentii in Süderende ein willkommener Rastplatz auf halbem Wege der Inselrunde. Hier, auf den buntbemalten Grabmälern der Föhrer Seefahrer, können sie ganze Lebensgeschichten ablesen, Alter, Familienstand und Titel: “Kapitänswitwe”. Und fast alle suchen den einen Stein, den Stein von Matthias Petersen, genannt der “Glückliche”.
Dieser Stein ist unbemalt, auf ihm liest man eine lateinische Inschrift, die ihm einen “unglaublichen” Erfolg zuschreibt: “373 BALENAS CEPIT” — der Kapitän hat in den Jahren, in denen er auf Grönlandfahrt ging, diese Zahl an Walen gefangen. Für die Inselbewohner war diese gefährliche Fahrt in die Kälte des Eismeeres von größter wirtschaftlicher Notwendigkeit. Matthias Petersen starb 1706, er wurde 73 Jahre alt und er hatte, so ist es überliefert, seine Familie gut ernährt.
Knappe 150 Jahre später, im Jahr 1851 erschien ein fast 900 Seiten starker Roman des amerikanischen Autors Herman Melville, der selbst auf Walfängern zur See gefahren war; Moby-Dick, or The Whale. Das Buch fiel durch, war zu lang und metaphernschwer und wurde bald vergessen, seine Modernität erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gefeiert.
Der Roman galt fürderhin als Weltliteratur, die epenhafte Geschichte des strengen Kapitäns Ahab auf der ewigen Suche nach dem übermenschlichen Wal-Wesen Moby-Dick wurde fast volkstümlich. Melvilles komplexe Konstruktion, das riesige Konvolut aus Fakten, Exkursen und Erzählsträngen rückten durch den Mythos des weißen Wals beinahe in den Hintergrund, wurde denn diese Geschichte aber aus zweierlei Perspektive überhöht, vom literarischen Werk und auch seiner Wirkungsgeschichte. Von der Lebensnotwendigkeit der Seefahrer, wie sie Matthias Petersen erlebte, bleibt trotz der Faktenverliebtheit Melvilles nur noch ein literarisches Bild und die Überhöhung durch den Text.
Nun soll es den grossen, weißen Fisch auch auf der Bühne geben. Wieder einmal versucht sich das Theater an der Umsetzung eines Romans, ganz so, wie es zur Zeit à la mode ist. Die Gründe für solche Bühnenfassung mögen – neben dem vorauszusetzenden thematischen Interesse – vor allem in der Vertrautheit der Stoffe liegen, Bekanntes wird gerne wiedergesehen, ein wirkliches Risiko ist da nicht vorhanden. Der Thalia-Jungregisseur Antú Romero Nunes und seine Dramaturgin Sandra Küpper folgen diesem infrage zu stellenden modischen Prinzip und haben eine Bühnenfassung von Moby-Dick erstellt. Es gibt ein ambitioniertes Programmheft zum Mythos dazu, auch ein Auszug des hübschen Textes des Theologen Eugen Drewermann findet sich darin.
Umgesetzt ist das anders, denn viel zu sehen gibt es nicht. Eine leere Bühne zur Beginn, auch das zur Zeit im Trend, finster und offen ist die Brandmauer zu sehen. Und eine über die Bühne verteilte Gruppe junger Männer, brav und rhythmisiert zur Rampe sprechend, als gäbe es kein Morgen und auch keine Interaktion steht da frontal zum Publikum. Rezitation, kollektiv. Dieses Kollektiv prägt den ganzen Abend, Chor, Gruppenchoreographie – WIR sind alle eins, wir sind Ahab, Qeequeg, Ishmael.
So schwanken die jungen Männer, die Reihen fest geschlossen, im kollektiven Wellengang oder schwenken im gleichen Schritt das ahabsche Holzbein. Solcherlei Ideenübungen prägen das Spiel. Wird gerudert, und es wird ja viel gerudert auf so einem Walfänger, sitzt man in Zweierreihe auf dem Boden und zerrt an imaginären Riemen. Auch das Zerlegen der erlegten Beute (“flensen”) wird so zelebriert, oft, mehrfach, ad libitum. Bezeichnend ist, dass das einzige signifikante Darstellersolo des Abends, die fast halbstündige Erläuterung aus einer der vielen wissenschaftlichen Erläuterungen Melvilles zum Wal, zur komödiantischen Einlage wird. Szenenapplaus.
Das Element, in dem der Wal haust, ist das Wasser, für den Seefahrer ist es latent feindlich, in ihm wohnt stets die Gefahr des Untergangs. Es spritzt, genau wie das Blut von Walen. Nur ist es abgefüllt, hier im kleinen Universum zwischen den Bühnenportalen, domestiziert und in Plastikfläschchen abgefüllt, damit wird dann mal klar (Meer!) oder rot gefärbt (Blut!) herumgespritzt.
Wenn das alle machen, die grosse kollektive Ejakulation, gibt es eine Menge Pfützen, die dann hinterher wieder vom Bodentuch aufgewischt werden müssen. Auf Englisch heißt der Pottwal übrigens “Sperm-Whale”, da ist der bübische Kalauer nicht weit und wird natürlich nicht ausgelassen, bis hin zum präadoleszenten siegfriedschen Initiationsbad im “Whale-Sperm”, einer parrafinhaltigen Flüssigkeit, die größte Kostbarkeit des Pottwals, aus der man Kerzen machte in Matthias Petersens und Herman Melvilles Zeiten.
Gedacht ist das Ganze wohl als Erfahrungsschau junger Männer auf der Reise zu sich selbst, doch ästhetisch bleibt das Ganze klein und der Aneinanderreihung der vielen Ideen gefangen. Das soll wild sein und wüst wie die harten Seefahrer im weiten Ozean, doch ist es so domestiziert wie die Sturmflut aus dem Bidon. Nackte Oberkörper machen das Theater nicht per se archaisch, ebenso wenig wie die pubertären Zoten junger Männer. Natürlich spielt sich das Ensemble den berühmten “Wolf”, ihre Qualität ist, wie immer an diesem Haus unstrittig. Erzählen aber tun sie nichts – in einem Interview sagte der Regisseur einmal: “Ich versuche mich auch immer ein bisschen zu überfordern.” Dieser Versuch ist weitgehend geglückt.
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