“… und tauften mich Wigalois, den Ritter mit dem Rade, wobei sie die Helmzier meinten. Ich aber deutete es als Rädchen im Kopf und fand es gut getroffen.” So schreibt Albert Vigoleis Thelen über seinen Namen, recht am Ende seines größten und einzigen Erfolges, des tausendseitigen Romans “Die Insel des zweiten Gesichts”. Er war ein Erzähler, ein Schwadroneur, eine narrative Existenz.
Außer diesem Buch kennt man heute nichts mehr von diesem bedeutenden Autor und nicht einmal das ist nur noch einem Häuflein Eingeweihten bekannt. Nahezu 200.000 Exemplare sind von seinem ersten Erscheinen 1953 bis heute gedruckt worden, angesichts zeitgenössischer Bestseller eine Geringfügigkeit, dennoch ein literarischer Erfolg. Es ist verstiegen, übervoll und sprachlich reich, ein seltener Glücksfall der deutschen Exil- und Nachkriegsliteratur, voll wuchernder Handlungsstränge und überbordend in seiner Fabulierlust.
Hier also der Beginn des Buches, in Kurzform: Vigoleis und seine spätere Frau Beatrice werden in den frühen 30er Jahren durch ein Telegramm nach Mallorca gerufen: “Liege im Sterben, Zwingli”. Absender ist Beatrices Bruder, der nicht etwa siech darniederliegt, sondern einzig und allein den erotischen Anforderungen seiner Liebesgefährtin, einer mallorquinischen Hure, nicht mehr genügen kann. Das ist allerdings erst der Anfang eines mehrjährigen Aufenthaltes der beiden auf der Baleareninsel – von einem Lebens-Wandel in den nächsten werden die beiden geworfen …
Nicht ohne Grund konnten die Reduktionisten der Gruppe 47 – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – nichts mit Buch, Autor und Schreibstil anfangen. Ein zweiter Versuch (“Der schwarze Herr Bahßetup”) scheiterte 1956 mehr oder weniger kläglich, der Autor verschwand aus dem Bewusstsein der literarischen Welt.
Um so rühmlicher ist die neu erschienene Briefedition der beiden Germanisten Ulrich Faure und Jürgen Pütz, deren erster Band die frühen Jahre Thelens von 1929 bis zum Erscheinen der “Insel” im Jahre 1953 – zumindest in Auswahl aus dem unfänglichen Material – dokumentiert. Die beiden Herausgeber sind nicht nur akribische Arbeiter, sie sind auch Verehrer Thelens.
Ihre Lesereise, die auch den Fortbestand der Briefedition sichern soll und muss – zwei weitere Bände sind geplant, aber noch nicht finanziert – machte am Donnerstag Station im Hamburger Literaturhaus am Schwanenwik, unterstützt wurden sie vom Sprecher Michail Paweletz. Eine ziemlich kleine Gemeinde hatte sich da versammelt, um den Ausführungen der drei zu folgen, ein durchaus mit Kennerschaft gesegnetes Auditorium. In der sonst so lähmenden Fragerunde nach der Lesung war schnell klar, wer die “Insel” gelesen hatte, und wer nicht. Für Hamburg ein sehr erstaunliches Ergebnis, wäre doch nicht unbedingt zu vermuten, dass ein rheinischer Erzählkünstler in seiner so ausschweifenden Art hier ein dankbares Publikum fände. Die Präsentation war allerdings auch außergewöhnlich liebevoll, die Begeisterung der beiden Forscher für Stoff und Autor offenbar. Deutlich wurde vor allem die enge Verzahnung zwischen Leben und Erzählanlass des Autors. Biographisch gespeist, entstehen aus kleinen, zunächst dokumentarisch anmutenden Alltagsschilderungen, die Wucherungen der Thelenschen Fabulierlust. Faure und Pütz zeigten beispielhaft einen Beitrag des Schweizer Fernsehens, in dem Thelen vor der Kamera anfängt, eine Geschichte zu entwickeln. Ein faszinierender Einblick in die Genese von Texten und die Verbindung zu mündlichen Erzählstrukturen. Man mag solche Veranstaltungen ja ungern als “kurzweilig” bezeichnen, der heilige literarische Ernst könnte verschwinden, aber wer könnte ein besserer Gegenstand einer solchen Literaturveranstaltung sein als Thelen? Also – es war kurzweilig, auch durch die legere Darstellung des Trios – Literaturvermittlung, wie man sie sich öfter wünschte. Es bleibt zu hoffen, dass die beiden Herausgeber mit dieser Lesetour Erfolg haben und den schön ausgestatteten Briefband ein wenig publik machen können – eine editorische gute Tat, ohne den Staub der Archive.
Albert Vigoleis Thelen starb als wenig erfolgreicher und tatsächlich vergessener Autor 1989 in seiner niederrheinischen Heimat, die “Insel des zweiten Gesichts” ist nach wie vor im Buchhandel erhältlich.
Die Webseite der Herausgeber mit viel Material zu Albert Vigoleis Thelen: www.vigoleis.de
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