Auf dem Marienaltar, den Absalon Stumme 1499 für den Hamburger Mariendom malte (er hängt heute im Warschauer Nationalmuseum) widmet sich ein Bild dem Thema Die Ruhe auf der Flucht. Maria sitzt in ihrem goldbestickten blauen Mantel auf dem stillstehenden Esel mit dem Jesuskind, während Joseph aus einem sich neigenden Dattel-Baum kleine Dattelfrüchte – oder sind es Kirschen? – in seinen großen roten Hut sammelt.
Dabei helfen ihm zwei Engel. Das Motiv “Die Ruhe auf der Flucht” steht so nicht in der Bibel. Das Motiv ist erschlossen aus der knapp skizzierten Geschichte von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, die im Matthäus-Evangelium berichtet wird. Legendarisch ausgeweitet wurde dies Motiv in den sogenannten Kindheitsevangelien, die erst im 2. und 3. Jahrhundert entstanden. Sie berichten von der Kinder- und Jugendzeit Mariens und von der Kindheit Jesu. Jesus ist hier auch als Kind schon der göttliche Heiland, der Wunder tun kann. In dem Evangelium des sogenannten Pseudo-Matthäus aus dem 7. Jahrhundert wird nun erzählt, wie die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten in der Wüste nahe am Verdursten ist.
Da sieht Maria einen Palmbaum, in dessen Schatten sie sich ausruhen will. Als sie sich niedergelassen hat, schaut sie zur Krone der Palme hinauf und sieht sie voller Früchte. Sie bittet Joseph, ihr die Früchte zu pflücken. Der wendet ein, sie hingen viel zu hoch. Da sagt das Jesuskind, das mit fröhlicher Miene auf dem Schoß seiner Mutter sitzt, zu der Palme: “Neige dich, Baum, und erfrische meine Mutter mit deinen Früchten.”
Und auf diesen Ruf hin neigt die Palme ihre Krone sogleich bis zu den Füßen Marias, und man sammelt von ihr Früchte, an denen sich alle gütlich tun. Die Palme wartet geneigt, bis Jesus ihr sagt, sie könne sich wieder aufrichten. Dann befiehlt er ihr, ihre Wurzeln zu öffnen, unter denen eine Wasserader in der Erde verborgen ist.
Flüchtlinge brauchen materielle Hilfe zum Überleben, wenn keine Menschen da sind, durch ein Wunder! Oder durch das “Wunder” der überraschend breit gestreuten Hilfe für die Lampedusa-Flüchtlinge durch viele Hamburger in der St. Pauli-Kirche.
In dem heiligen Buch der Muslime, dem Koran, in der 19. Sure, der Marien-Sure, die von der Geburt Jesu berichtet, wird nun eine ähnliche Geschichte erzählt. Die schwangere Maria hat sich wegen der Vorwürfe aus ihrer Verwandtschaft an einen fernen Ort zurückgezogen. Die Wehen setzen ein, sie ist verzweifelt und ruft: “Wäre ich doch vorher gestorben und ganz in Vergessenheit geraten.”
Da hört sie die Stimme ihres Sohnes: “Sei nicht traurig. Der Herr hat unter dir ein Rinnsal voll Wasser gemacht. Und schüttle den Stamm der Palme, indem du ihn an dich ziehst. Dann lässt sie saftige frische Datteln auf dich herunterfallen. Und iss und trink und sei frohen Mutes”.
Der gerade geborene Jesus rettet seine Mutter. Die Palme leistet gewissermaßen Geburtshilfe, indem sie die gebärende Maria stärkt. Welch eine schöne Gemeinsamkeit zwischen Islam und Christentum! Hat der Autor des Koran diese Legende aus dem Pseudo-Matthäus gekannt?
Die Kindheitslegenden Mariens und Jesu wurden viel erzählt in den Gemeinden des Vorderen Orients, offensichtlich auch dort, wo Mohammed lebte. Es war aber eher umgekehrt. Der christliche Verfasser des Pseudo-Matthäus muss die 19. Sure des Korans gekannt haben, denn zeitlich liegt dieser apokryphe Text später als der Koran.
Im heiligen Buch der Moslems ist der kleine Jesus, der “Sohn Marias” wird er häufig genannt, der Retter und Ritter seiner Mutter. Dass er schon als Säugling sprechen kann, ist ein Sprechwunder, das Gott bewirkt hat. Gegen die Vorwürfe der Verwandten Marias kontert er: “Ich bin der Knecht Gottes. Er gab mir das Buch und machte mich zum Propheten.”
Die Geschichte von den Dattelfrüchten, die also eigentlich aus dem Koran stammt, wurde aufgenommen in die berühmte Legenda Aurea, die Legendensammlung des Bischofs Jakob von Voraigne. Von dort gelangten sie mit den biblischen Geschichten von Maria und Jesus in die Armenbibel, das heißt, sie wurden als Zyklen gemalt, weil das einfache Volk nicht lesen konnte.
Diese Legenden wurden ab dem 14. Jahrhundert von der Renaissance-Malerei der Italiener und Niederländer aufgegriffen. Giotto malt die Flucht nach Ägypten 1305 in seinem berühmten Zyklus in der Arena-Kapelle in Padua. Deutsche Maler wie Albrecht Altdorfer und Lucas Cranach d. Ä. stellten das Motiv dar.
Eine späte romantische Version dieser Legende hängt in der Hamburger Kunsthalle, Philip Otto Runges Gemälde “Die Ruhe auf der Flucht”. Man sieht Joseph, ein älterer Mann in Handwerkertracht mit schon gelichtetem Haar; mit einem Stock schlägt er die Glut des Feuers aus. Hinter ihm das in den Disteln äsende Reittier der Familie, ein Esel.
Auf der andern Seite eine in sich gekehrte Maria bereits im vollen Licht der aufgehenden Sonne. Ihre runden Wangen leuchten. Sie betrachtet anbetend das Jesuskind, das in der Mitte des Bildes auf ihrem blauen Umhang liegt. Strampelnd begrüßt es mit beiden Händen das Licht. Es ist in der Nacktheit der Geburtsstunde dargestellt.
Und über Mutter und Kind statt der Dattelpalme ein Tulpenbaum mit großen weißen Blüten, ein Sinnbild der Natur und zugleich ein Paradiesesbaum. Im Blätterdach schlägt ein der Sonne zugewandter Engel die Harfe. Ein anderer Engel hat sich im verzweigenden Geäst niedergelassen, scheint aus dem Baum herauszuwachsen und trägt in den Händen eine Lilie.
Die reinste Glückseligkeit strömt dieser Tulpenbaum aus mit dem Kind darunter. Das Ganze spielt sich ab vor einer idealisierten ägyptischen Landschaft. Der Himmel tagt sanftblau im Morgenlicht. Runge hat das materielle Motiv, Stärkung mit den Früchten des Baums, in ein spirituelles verwandelt. Alles sagt: Ex oriente lux, aus dem Osten kommt das Licht, das Licht der Sonne und der Erlösung. Ein Bild, das so Recht zum Sonntag Epiphanias, dem Fest der Erscheinung Christi am 6. Januar passt.
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