Die Welt ist ein riesiger runder Spiegel, und sie steht Kopf

Bastian Kraft bringt Pulitzer-Preisträger Tony Kushners „Engel in Amerika“ als komplexes und bildgewaltiges Vexierspiel auf die Bühne des Thalia Theaters.

Strahlende Erscheinung. v.l.n.r. Oliver Mallison, Alicia Aumüller, Marie Loecker (Mitte), Kristof Van Boven, Matthias Leja, Julian Greis (Bild: Krafft Angerer)
Strahlende Erscheinung. v.l.n.r. Oliver Mallison, Alicia Aumüller, Marie Loecker (Mitte), Kristof Van Boven, Matthias Leja, Julian Greis (Bild: Krafft Angerer)
Strahlende Erschei­n­ung. v.l.n.r. Oliv­er Malli­son, Ali­cia Aumüller, Marie Loeck­er (Mitte), Kristof Van Boven, Matthias Leja, Julian Greis
(Bild: Krafft Anger­er)

San­dra Flubach­er blät­tert in einem Buch. Wir sehen, was sie sieht, denn es wird gefilmt und auf eine runde Lein­wand pro­jiziert, die mit­tig über der Bühne hängt. Das Buch gliedert und bebildert den Abend: Es zeigt die Szenen­ti­tel von Kush­n­ers „Engel in Ameri­ka“, die Beschaf­fen­heit des HIV-Virus unter dem Mikroskop, einen Dol­lar, bunte Pillen oder zwei Män­ner, die sich küssen. Wir lesen zu Beginn: „Teil 1: Die Jahrhun­der­twende naht“. Die Wel­tun­ter­gangsstim­mung von 1985, aus­gelöst durch ein Virus, das damals dur­chaus als Fluch gese­hen wurde, durch die recht­sori­en­tierte Poli­tik der Repub­likan­er und eine bevorste­hende Jahrtausendwende. Wir dür­fen Teil des Buchs wer­den und doch von außen auf die Geschichte schauen.

Roy M. Cohn (Matthias Leja) ist ein erfol­gre­ich­er New York­er Anwalt, sein Tele­fon ist eine Zen­trale der Macht, er makelt sich mit einem Tem­po durch die Leitun­gen, dass einem schwindelig wird. Wir sehen sein Whiskey­glas auf der großen run­den Lein­wand, sein selb­st­gewiss­es Lächeln und die Schweißperlen im Gesicht seines Gegenübers. Keine Frage, dieser Mann ist brandge­fährlich, er jongliert müh­e­los auf dem poli­tisch glat­ten Par­kett. Sein Gegenüber: Joseph Porter Pitt (Oliv­er Malli­son), ein junger, ehrgeiziger Mor­mone, den er nach Wash­ing­ton schick­en möchte. Dort brauche man ihn, dort brodelt die Macht, erk­lärt Roy.

Aber Joe hat andere Prob­leme. Seine Frau Harp­er (Ali­cia Aumüller) lei­det an Platzangst, ist val­i­um­süchtig und mit Sicher­heit nicht in dem Zus­tand, in dem man den Umzug in eine andere Stadt wagt. Und da ist noch diese andere Sache, gegen die er ankämpft: Nachts im Park zuzuse­hen, wie sich Män­ner begeg­nen, weil ihn etwas dor­thin zieht; nichts kann ihn abhal­ten von der erschreck­enden Fasz­i­na­tion. Harp­er hinge­gen spürt die Bedro­hung, sie ahnt, weshalb ihr Mann nicht mehr mit ihr schläft, und mith­il­fe des Val­i­ums träumt sie sich an fremde Orte. Nicht, dass ihr Zus­tand es zuließe, dass sie die Woh­nung ver­lässt, aber der joviale Reiseagent Herr Lüg (Ernest Alan Haus­mann), der in ihren Träu­men auf­taucht, ver­sichert, sie könne über­all hin reisen, sie müsse nur einen Ort nen­nen. Und Harp­er weiß, was sie will. In die Antark­tis möchte sie, das Ozon­loch sehen.

Der zweite Hand­lungsstrang von Kush­n­ers Mon­u­men­tal­w­erk, das eigentlich aus zwei Stück­en beste­ht und ungekürzt sieben Stun­den dauert, bringt uns in die schwule Szene. Pri­or Wal­ter (Kristof van Boven) hat AIDS, fast täglich ent­deckt er neue Geschwüre und Sarkome. Sein Lebens­ge­fährte Louis (Julian Greis) kann mit der Krankheit des Geliebten nicht umge­hen, er erträgt die Nähe zum Tod nicht. Wie Roy und Joe arbeit­et er im Appela­tion­s­gericht des Bun­des. Im Laufe des Stück­es wird er Joe ken­nen­ler­nen und sich in seine Arme flücht­en, um der Angst vor dem tot­brin­gen­den Virus zu entkom­men.

Die Welt von „Engel in Ameri­ka“ ist ange­füllt von wun­der­samen Wesen, von Reli­gion und Aber­glaube, von der Suche nach Tran­szen­denz. Es ist ein Fieber, in dem sich die Fig­uren des Stücks befind­en, ein Flir­ren, das Bas­t­ian Kraft durch fließende Szenen­wech­sel auf der Bühne abbildet. Reale Szenen ver­schwim­men mit Val­i­umträu­men, todesna­hen Erschei­n­un­gen und religiösem Wahn. Wed­er der Engel noch der Rab­bi (in bei­den Rollen: Marie Löck­er) wis­sen einen Ausweg aus dieser Epoche, die wie im Strudel auf den Unter­gang zuzurasen scheint. Und das Virus, so ahnt man, hat das Poten­tial ganze Gen­er­a­tio­nen auszurot­ten.

HIV ist Mitte der 80er-Jahre vor allem die Krankheit der Schwulen und der Dro­gen­süchti­gen. Auch Staran­walt Roy ist infiziert, lässt sich von seinem Arzt aber Leberkrebs attestieren, denn erfol­gre­iche Män­ner haben kein AIDS. Roys poli­tis­ch­er Ein­fluss ver­schafft ihm trotz end­los­er Wartelis­ten den­noch Ein­tritt in das Test­pro­gramm für ein neues Medika­ment: AZT, das 1987 als erstes AIDS-Medika­ment zuge­lassen wurde.

Aber warum Kush­n­ers Stoff heute wieder aus­graben? Was erzählt er 30 Jahre später? Er erzählt vor allem, dass in diesen drei Dekaden viel passiert ist. Wenn Cohn ins Kranken­haus ein­geliefert wird, den dunkel­häuti­gen Krankenpfleger (Ernest Allan Haus­mann) sieht und nach ein­er weißen Schwest­er brüllt. Wenn die amerikanis­che schwule Szene auf geballte Homo­pho­bie stößt, die uns heute schw­er schluck­en lässt, aber doch immer noch nicht der Ver­gan­gen­heit ange­hört. Wir stoßen bei Kush­n­er auf eine Form von Reli­gion­shass und Xeno­pho­bie, die heutiger nicht sein kön­nte, auch wenn sich Fokus und Ziel­gruppe inzwis­chen auf andere Grup­pen richt­en.

Aber vor allem strotzt Kush­n­ers Stück von aus­geze­ich­neten Dialo­gen und gekon­nter Dra­maturgie. In der 3 ½‑stündigen Ver­sion von Bas­t­ian Kraft, in der einige Zeit­bezüge und poli­tis­che The­men Strichen gewichen sind, gibt es keinen einzi­gen Moment, der lang­weilt. Das mag auch daran liegen, dass das Büh­nen­bild­konzept (Bühne: Peter Baur) so enorm viel Spiel­raum bietet. Weiß und nackt ist der Büh­nen­bo­den, die runde Fläche, auf deren eine Seite pro­jiziert wer­den kann, während die andere Seite spiegelt, lässt unzäh­lige Vari­a­tio­nen zu, schafft Zusatzebe­nen und Spiegel­wel­ten. Zum Ende hin wird der weiße Papier­bo­den zer­fet­zt und zer­ris­sen, der Tod hält Einzug, das Ende ist nah. Da kann auch der Engel, der im weißen Reifen von der Decke schwebt, nichts mehr dran ändern.

Anfangs irri­tierend ist der Nat­u­ral­is­mus der Kostüme angesichts der Zeit­losigkeit des Büh­nen­bilds. 80er-Jahre-Sweat­shirts und tail­lenkurze Jean­s­jack­en mögen sich ästhetisch nicht so recht ein­fü­gen. Doch hat Kush­n­er ein Stück mit klarem Zeit­bezug geschrieben, dass diese Real­is­men zur Einord­nung wohl braucht. Eben­so fügen sich hier real­is­tis­che, ja nahezu filmis­che Dialoge in überzeitliche Traum- und Phan­tasiese­quen­zen. Diese Brüche prä­gen den Abend und sind den­noch so fließend arrang­iert, dass das Auge die optis­chen Mark­er benöti­gen mag.

Die Jahrtausendwende ist 15 Jahre her. Das Ozon­loch hat sich nicht als Prog­nose von Panikmach­ern ent­pup­pt, son­dern als bit­tere Real­ität. Barack Oba­ma ist der erste dunkel­häutige Präsi­dent der USA, und zumin­d­est in den west­lichen Län­dern ist das HIV-Virus weitest­ge­hend im Griff. Die Welt ist zum Mil­len­ni­um nicht unterge­gan­gen, und homo­sex­uelle Paare dür­fen heirat­en. Den­noch: Es lohnt ein Blick auf Kush­n­ers Stück. Die Kon­flik­te haben sich nur ver­schoben. Sie sind trotz­dem immer noch exis­tent.

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