Sandra Flubacher blättert in einem Buch. Wir sehen, was sie sieht, denn es wird gefilmt und auf eine runde Leinwand projiziert, die mittig über der Bühne hängt. Das Buch gliedert und bebildert den Abend: Es zeigt die Szenentitel von Kushners „Engel in Amerika“, die Beschaffenheit des HIV-Virus unter dem Mikroskop, einen Dollar, bunte Pillen oder zwei Männer, die sich küssen. Wir lesen zu Beginn: „Teil 1: Die Jahrhundertwende naht“. Die Weltuntergangsstimmung von 1985, ausgelöst durch ein Virus, das damals durchaus als Fluch gesehen wurde, durch die rechtsorientierte Politik der Republikaner und eine bevorstehende Jahrtausendwende. Wir dürfen Teil des Buchs werden und doch von außen auf die Geschichte schauen.
Roy M. Cohn (Matthias Leja) ist ein erfolgreicher New Yorker Anwalt, sein Telefon ist eine Zentrale der Macht, er makelt sich mit einem Tempo durch die Leitungen, dass einem schwindelig wird. Wir sehen sein Whiskeyglas auf der großen runden Leinwand, sein selbstgewisses Lächeln und die Schweißperlen im Gesicht seines Gegenübers. Keine Frage, dieser Mann ist brandgefährlich, er jongliert mühelos auf dem politisch glatten Parkett. Sein Gegenüber: Joseph Porter Pitt (Oliver Mallison), ein junger, ehrgeiziger Mormone, den er nach Washington schicken möchte. Dort brauche man ihn, dort brodelt die Macht, erklärt Roy.
Aber Joe hat andere Probleme. Seine Frau Harper (Alicia Aumüller) leidet an Platzangst, ist valiumsüchtig und mit Sicherheit nicht in dem Zustand, in dem man den Umzug in eine andere Stadt wagt. Und da ist noch diese andere Sache, gegen die er ankämpft: Nachts im Park zuzusehen, wie sich Männer begegnen, weil ihn etwas dorthin zieht; nichts kann ihn abhalten von der erschreckenden Faszination. Harper hingegen spürt die Bedrohung, sie ahnt, weshalb ihr Mann nicht mehr mit ihr schläft, und mithilfe des Valiums träumt sie sich an fremde Orte. Nicht, dass ihr Zustand es zuließe, dass sie die Wohnung verlässt, aber der joviale Reiseagent Herr Lüg (Ernest Alan Hausmann), der in ihren Träumen auftaucht, versichert, sie könne überall hin reisen, sie müsse nur einen Ort nennen. Und Harper weiß, was sie will. In die Antarktis möchte sie, das Ozonloch sehen.
Der zweite Handlungsstrang von Kushners Monumentalwerk, das eigentlich aus zwei Stücken besteht und ungekürzt sieben Stunden dauert, bringt uns in die schwule Szene. Prior Walter (Kristof van Boven) hat AIDS, fast täglich entdeckt er neue Geschwüre und Sarkome. Sein Lebensgefährte Louis (Julian Greis) kann mit der Krankheit des Geliebten nicht umgehen, er erträgt die Nähe zum Tod nicht. Wie Roy und Joe arbeitet er im Appelationsgericht des Bundes. Im Laufe des Stückes wird er Joe kennenlernen und sich in seine Arme flüchten, um der Angst vor dem totbringenden Virus zu entkommen.
Die Welt von „Engel in Amerika“ ist angefüllt von wundersamen Wesen, von Religion und Aberglaube, von der Suche nach Transzendenz. Es ist ein Fieber, in dem sich die Figuren des Stücks befinden, ein Flirren, das Bastian Kraft durch fließende Szenenwechsel auf der Bühne abbildet. Reale Szenen verschwimmen mit Valiumträumen, todesnahen Erscheinungen und religiösem Wahn. Weder der Engel noch der Rabbi (in beiden Rollen: Marie Löcker) wissen einen Ausweg aus dieser Epoche, die wie im Strudel auf den Untergang zuzurasen scheint. Und das Virus, so ahnt man, hat das Potential ganze Generationen auszurotten.
HIV ist Mitte der 80er-Jahre vor allem die Krankheit der Schwulen und der Drogensüchtigen. Auch Staranwalt Roy ist infiziert, lässt sich von seinem Arzt aber Leberkrebs attestieren, denn erfolgreiche Männer haben kein AIDS. Roys politischer Einfluss verschafft ihm trotz endloser Wartelisten dennoch Eintritt in das Testprogramm für ein neues Medikament: AZT, das 1987 als erstes AIDS-Medikament zugelassen wurde.
Aber warum Kushners Stoff heute wieder ausgraben? Was erzählt er 30 Jahre später? Er erzählt vor allem, dass in diesen drei Dekaden viel passiert ist. Wenn Cohn ins Krankenhaus eingeliefert wird, den dunkelhäutigen Krankenpfleger (Ernest Allan Hausmann) sieht und nach einer weißen Schwester brüllt. Wenn die amerikanische schwule Szene auf geballte Homophobie stößt, die uns heute schwer schlucken lässt, aber doch immer noch nicht der Vergangenheit angehört. Wir stoßen bei Kushner auf eine Form von Religionshass und Xenophobie, die heutiger nicht sein könnte, auch wenn sich Fokus und Zielgruppe inzwischen auf andere Gruppen richten.
Aber vor allem strotzt Kushners Stück von ausgezeichneten Dialogen und gekonnter Dramaturgie. In der 3 ½‑stündigen Version von Bastian Kraft, in der einige Zeitbezüge und politische Themen Strichen gewichen sind, gibt es keinen einzigen Moment, der langweilt. Das mag auch daran liegen, dass das Bühnenbildkonzept (Bühne: Peter Baur) so enorm viel Spielraum bietet. Weiß und nackt ist der Bühnenboden, die runde Fläche, auf deren eine Seite projiziert werden kann, während die andere Seite spiegelt, lässt unzählige Variationen zu, schafft Zusatzebenen und Spiegelwelten. Zum Ende hin wird der weiße Papierboden zerfetzt und zerrissen, der Tod hält Einzug, das Ende ist nah. Da kann auch der Engel, der im weißen Reifen von der Decke schwebt, nichts mehr dran ändern.
Anfangs irritierend ist der Naturalismus der Kostüme angesichts der Zeitlosigkeit des Bühnenbilds. 80er-Jahre-Sweatshirts und taillenkurze Jeansjacken mögen sich ästhetisch nicht so recht einfügen. Doch hat Kushner ein Stück mit klarem Zeitbezug geschrieben, dass diese Realismen zur Einordnung wohl braucht. Ebenso fügen sich hier realistische, ja nahezu filmische Dialoge in überzeitliche Traum- und Phantasiesequenzen. Diese Brüche prägen den Abend und sind dennoch so fließend arrangiert, dass das Auge die optischen Marker benötigen mag.
Die Jahrtausendwende ist 15 Jahre her. Das Ozonloch hat sich nicht als Prognose von Panikmachern entpuppt, sondern als bittere Realität. Barack Obama ist der erste dunkelhäutige Präsident der USA, und zumindest in den westlichen Ländern ist das HIV-Virus weitestgehend im Griff. Die Welt ist zum Millennium nicht untergegangen, und homosexuelle Paare dürfen heiraten. Dennoch: Es lohnt ein Blick auf Kushners Stück. Die Konflikte haben sich nur verschoben. Sie sind trotzdem immer noch existent.
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