Diese Stimme im Kopf

Sebastian Nübling inszeniert die Uraufführung von Simon Stephens’ neuem Stück »Carmen Disruption« am Deutschen Schauspielhaus

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dis­rupt­ed, alle (Bild: © camopho­togra­phie — Fotolia.com)

“I have a voice in my head” ste­ht über dem Ein­gang der Opern­haus-Kulisse, deren Front die gesamte Büh­nen­bre­ite ein­nimmt. Von drin hört man das Orch­ester die Instru­mente stim­men, das Pub­likum (der Chor) strömt hinein, die Vorstel­lung fängt gle­ich an. Rück­wärts kommt eine Sän­gerin im Car­men-Kostüm aus der mit­tleren Tür. Erst vorn an der Rampe dreht sie sich um, blickt ins Pub­likum – und begin­nt zu sin­gen.

Rinat Sha­ham heißt die Sän­gerin, deren stark­er Mez­zoso­pran sich durch den Abend zieht, immer wieder unter­brochen und gestört, nie mit instru­men­taler Begleitung. Sie habe das Stück durch Gespräche mit Simon Stephens geprägt, wie der in seinem kurzen Vor­wort dafür schreibt: “Ich bin ihr für ihre Großzügigkeit, die mir Ein­blicke gewährte, und ihre Offen­heit zu großem Dank verpflichtet.” Auch der Regis­seur des Abends wird im Vor­wort erwäh­nt: Sebas­t­ian Nübling, mit dem ihn eine jahre­lange Zusam­me­nar­beit verbindet, habe die Entste­hung der Car­men-Bear­beitung “provoziert”, schreibt der Autor.

Nübling gilt fast als Garant für erfol­gre­iche Urauf­führun­gen von Stephens’ Stück­en. Seine Regiear­beit­en wer­den mit schön­er Regelmäßigkeit zum Berlin­er The­atertr­e­f­fen ein­ge­laden – so geschehen u. a. mit Händl Klaus’ “Dunkel lock­ende Welt” oder – natür­lich – Stephens’ “Pornogra­phie”. Mit der Opern­ver­sion von “Car­men” eröffnete Nübling 2006 an der Staat­sop­er Stuttgart die Spielzeit. Ihn jet­zt für diese Stephens-Inter­pre­ta­tion des Car­men-Stoffes “Car­men Dis­rup­tion” ans Schaus­piel­haus zu holen, passt per­fekt in die konzep­tionell kluge und stil­sichere Eröff­nungsspielzeit ein­er Karin Beier. Nicht nur, dass Nübling eine enge Fre­und­schaft zu Stephens verbindet und er den Car­men-Stoff von der Opern-Seite ken­nt: Er ist Schaus­piel­regis­seur und gle­ichzeit­ig Gren­zgänger zwis­chen den Sparten, arbeit­et auch gern mit Tänz­ern zusam­men.

Von den Fig­uren der Car­men-Oper ist bei Stephens nicht mehr viel übrig. Sie sprechen viel und haben doch keine Worte. Aus­drucksstark sind sie in der Bewe­gung. Nübling hat mit seinen Schaus­piel­ern eine Auf­tak­tchore­ografie erar­beit­et, die viel sagt vom Rin­gen mit diesem Ding, das man Gegen­wart nen­nt oder Leben. Eins ist allen gemein­sam: Sie sind müde und aufgekratzt, ver­liebt und verzweifelt, ver­we­gen und am Abgrund. Und ins­ge­samt sind sie alle irgend­wie “dis­ruptet”, gestört, über­fordert von ein­er Diskon­ti­nu­ität der Ereignisse, Zer­ris­sene. Sie alle haben nichts miteinan­der zu tun.

Aus der Haupt­fig­ur Car­men wird ein über­drehter Strich­er, der sich auf ein­er Woge von Selb­stver­liebtheit und Selb­st­be­trug zu seinem Freier auf­macht. “Ich sehe mich kurz im Spiegel, als ich in die Küche gehe, um mir vom Herd einen Kaf­fee zu holen, und ich bin selb­st über­rascht, weil ich ver­dammt scharf ausse­he.Christoph Luser nimmt sich diese Rolle mit ein­er Lust an Extrav­a­ganz und Extrem­ität, geschmei­dig wie eine Raubkatze, hin und wieder gewürzt mit einem der­ben öster­re­ichis­chen Akzent, in den die Fig­ur abdriftet. Das Fläschchen Pop­pers und das Gleit­gel in sein­er Umhänge­tasche wer­den ihm heute nicht weit­er­helfen. Der Abend wird böse enden.

Auch die Sän­gerin ist müde. Sie hat in so vie­len Hotels und Airbnb-Woh­nun­gen über­nachtet, dass sie nicht mehr zu wis­sen scheint, in welch­er Stadt sie ger­ade ist. Hat der Agent aus New York immer noch nicht angerufen? Sie steigt aus den Schuhen, nimmt ihre Perücke ab, set­zt ihre Schlaf­maske auf und legt sich nieder. Diese Schuhe wer­den an diesem Abend nahezu alle Fig­uren tra­gen, am besten gehen kann damit aber zweifels­frei Christoph Luser.

Seine Car­men hat so viele knappe Westchen, dass jed­er Bolero vor Neid erblassen würde. Kostüm ist alles, je bunter das Leben, desto weniger weh tut es. Nach der Verge­wal­ti­gungsszene, in die seine Begeg­nung mit dem Freier mün­det, stöck­elt er wack­lig, aber immer noch ele­gant ab wie eine geprügelte Schön­heit­sköni­gin.

Escamil­lo alias Samuel Weiß, der den ersten Teil des Abends damit ver­bringt, sich mit großer spanis­ch­er Geste Luft zuzufächeln, zieht sich eine riesige Line Koks. Auch er ist in so vie­len inter­na­tionalen Hotels unter­wegs, dass er die Stadt, in der er sich aufhält, nicht mehr ken­nt. Doch seine Fas­sade ist brüchig. Er braucht Geld, und zwar drin­gend. Er wird alles aufs Spiel set­zen in einem einzi­gen Gespräch, und er wird es bekom­men. Nur die Frau im roten Kleid, die bekommt er nicht. Aber das ist nicht so schlimm, denn er liebt seine Ehe­frau, wirk­lich, das müssen Sie ihm glauben.

Auch Don José (Julia Wieninger) hat ihre Kinder geliebt. Heute ist sie Tax­i­fahrerin und lebt auf diesen einen Moment hin, in dem sie ihren Sohn das erste Mal wieder sieht. Sie hat ihre Fam­i­lie ver­lassen für einen anderen Mann, der heute tot ist. Aber sie liebt ihre Kinder, wirk­lich, das müssen Sie ihr glauben. Sie dreht ein paar krumme Dinger ab und an, und die Geste mit der ihr Sohn ihr den Tee ein­schenkt und beiläu­fig genau die richtige Menge Zuck­er hinein­rührt, bringt sie zum Weinen. Denn das zeigt doch, dass er sie erkan­nt hat, im tief­sten Innern gese­hen hat, oder nicht?

Und was wird aus Bizets Bauern­mäd­chen Michaela? Von ihr sind nur noch die Gum­mistiefel übrig, und sie bekommt ihren tapfer­en Sol­dat­en natür­lich nicht. Diese Michaela liebt verzweifelt einen altern­den Pro­fes­sor in der Midlife-Cri­sis, für den sie via Skype alles tut. Ihre Brüste zeigen, eine schlechte Sem­i­narar­beit schreiben, Self­ies schießen, bei denen man sich fragt, wie so etwas anatomisch möglich sein soll. Ihre Sätze begin­nen meist mit “Alexan­der hat mich ver­lassen, weil …”. Sie ver­sucht, sein Fen­ster zu erklet­tern und schlägt sich die Knie dabei blutig. Den Motor­radun­fall, der alle Fig­uren schließlich verbindet, weil sie zufäl­lig zur gle­ichen Zeit an der gle­ichen Kreuzung waren, kann sie der Polizei nicht beschreiben. Sie sieht nichts mehr.

Am Ende rückt die Front des The­ater­haus­es bedrohlich nah nach vorn. Die oberen Arkaden sind nur Kulisse, in den Bögen ste­hen alle Schaus­piel­er und ein halb­nack­ter Mann mit Stierkopf. Auch die Türen der Opern­front wer­den durch­leuchtet, man sieht die nack­te Hin­ter­bühne, auf der der Sta­tis­ten-Chor eilig nach Anweisung marschiert. Plöt­zlich ist alles nur noch Kulisse, ist die Welt Bühne. Und am Ende sehen wir wieder die Sän­gerin, die rück­wärts schre­it­et, langsam, ganz langsam.

Nach­trag: der Chor – fast alle Texte des Chors wur­den gestrichen. Seine Auf­gabe ist zuar­bei­t­end. Mal ist er The­ater­pub­likum, mal Kulisse für die große Büh­nengeste der Sän­gerin, am Ende tanzen sie die Anfangschore­o­gra­phie der Haupt­fig­uren. Ob man dafür 35 Sta­tis­ten braucht, ist die Frage. Ins­ge­samt war vielle­icht ein biss­chen wenig Zeit, diesen großen, frag­men­tarischen Stoff zu Ende zu denken. Ein stark­er Text, von dessen Opern­vor­lage nicht viel übrig bleibt. Es gibt “Buhs” für das Leitung­steam beim Applaus, eine Frau im Foy­er sagt zu ihrer Fre­undin: “Ein biss­chen mehr Car­men hätte ich mir schon gewün­scht.” Egal. Sind wir nicht alle ein biss­chen dis­ruptet?

 

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