Das HAMBURGER FEUILLETON im digitalen Zwiegespräch – die HHF-Autoren Natalie Fingerhut (die zur Zeit in München weilt und deswegen nicht in der Aufführung war) und Matthias Schumann (Hamburg) chatten über Alexander Simons Romeo und Julia in der Gaußstraßen-Garage. Wir wagen ein Experiment in einem jungen Medium, schließlich geht es bei Shakespeare auch um ziemlich junge Leute, denen das heutzutage nicht so ganz fremd wäre. Ein Protokoll:
fingerhut ich hab keine ahnung, wie wir das anfangen jetzt
schumann ich auch nicht
schumann was stellst du dir das denn vor, wie das war?
fingerhut wie romeo und julia war?
schumann ja
fingerhut äh.
das ist eine sehr seltsame frage
ich geh grad mal bilder anschauen bei thalia-theater.de
schumann nein, da ist keine seltsame frage: wie stellt sich die “remote-kritikerin” denn eine r&j‑inszenierung von jungen schauspielschülern vor? ohne bilder anschauen, bitte
fingerhut also: zunächst bekomme ich einen heiligen zorn, wenn ich auf der homepage lese “wahre liebe? yes we can!”
schumann geht es denn um die wahre liebe in dem stück?
fingerhut wobei sich zu bestätigen, dass man noch wirklich lieben kann, also den mut haben kann zu den großen, echten gefühlen, gar nicht dumm ist
aber was hat barack obama damit zu tun?
schumann na auf der bühne nichts
fingerhut also, gibt es sie, die wahre liebe in der liebesgeschichte aller liebesgeschichten auf dem theater? fragst du das wirklich?
schumann denn die ist weiss
fingerhut autsch. der spruch schmerzt, herr schumann
schumann ist das nicht eine vision?
fingerhut für mich ist in dem stück eine große erste verliebtheit. dieses wenn der himmel einstürzt, weil man einen menschen zum ersten mal sieht
dann die faszination darüber, dass für das gegenüber der himmel auch einzustürzen scheint
schumann wie stellt man das denn dar?
fingerhut bin ich regisseurin? nein!
schumann zunächst ist da auf der bühne eine grosse konstruktion der personen
eine raumchoreographie auf weissem bodentuch
ein leerer weisser tanzsaal (büchner)
fingerhut weiter
schumann keine rollenfestlegung
jeder mann ein romeo, jede frau eine julia
oder wahlweise die anderen figuren
fingerhut verstehe. begegnen sich alle romeos und julias gleichzeitig? und ist es denn nun liebe? oder vielmehr die projektion von liebe?
schumann nein, keine gruppenanordnung wie damals bei marthaler mit seinen 12 gretchen
projektion gibts später auch noch
fingerhut hab ich’s doch gewusst
schumann eher eine anordnung von verschiedenen facetten und typen der beiden rollen
von aussen ist das erstmal so ein bißchen casiraghi-jeunesse-dorée
party-gepose. sehr reduzierte bewegung der gesellschaft
fingerhut gesellschaft? oder personnage auf der bühne?
schumann die partygesellschaft. das fest
erinnerte ein bißchen an “vogue” von malcolm mclaren
fingerhut das kenn ich mal wieder nicht. ist bestimmt uralt, und ich war 5. also, 8 schauspieler (innen) spielen party. dann?
schumann das ist die folie, vor der die begegnung stattfindet
fingerhut die erste begegnung
schumann genau
fingerhut ist ja zunächst mal wie im stück
schumann das ist alles “wie im stück”. ausser der multiplikation der charaktere
fingerhut verstehe
schumann dann werden die stationen abgearbeitet. also szene an szene
fingerhut da begegnen sich alle romeos und julias?
auf dem fest? vier paare?
schumann nein, ein paar
die anderen sind das partyvolk
fingerhut verstehe. das wäre ja auch furchtbar gewesen
schumann war es nicht
fingerhut furchtbar viel liebe auf einmal
schumann ja kaum zu ertragen. immer ganz hübsch umgesetzt die einzelnen sachen
die balkonszene
eine papierrolle von der decke
fingerhut eine papierrolle?
schumann julia dahinter auf einer treppe
reisst sich das fenster selber aus dem papier
unten einer der romeos
fingerhut das klingt zauberhaft
schumann viel überschwang, so wie es sein soll
ja, aber gelegentlich nach probenraum
fingerhut yes, we can
schumann wäre man böse, würde man das ideentheater nennen
fingerhut aber du bist ja nicht böse. zum glück
schumann aber ich finde, bei so was ist das statthaft. eben.
trotzdem werden halt immer lösungen für einzelne szenen gesucht
fingerhut naja, das war ja auch seine erste regie.
romeo kommt mit dem fahrrad, sehe ich gerade auf den fotos. eine alltagsliebe? oder eben gar nicht alltäglich?
schumann nee, das ist sehr stylish mit dem fahrrad
fingerhut stylish …
schumann dem geht wieder eine gruppenchoreographie voraus
fingerhut ich mag keine stylishen dinge auf der bühne
schumann und er flitzt mit dem rad durch die menschen
gibt eine sehr nette dynamik
auch ein ausdruck von überschwang
fingerhut also: sie sind verliebt und voller überschwang
schumann interessant ist, daß das fast immer funktioniert mit der szenerie
in der nachtigall/lerchenszene aber völlig egal ist
da siegt der zauber des textes komplett über alles andere
alles modische ist vergessen
fingerhut schön klingt das. und gar nicht stylish. ich bin ein bisschen versöhnt
schumann kann man auch sein.
fingerhut ich setzt mal schnell kaffee auf. aber bitte weiterschreiben.
dann hab ich danach wenigstens mal was vernünftiges zu lesen
schumann wenn dann alles klar ist, romeo liebt julia, julia liebt romeo und wir in die phase der zerstörung/tragik kommen
reduziert sich das personal
zum schluss bleibt nur ein paar übrig
fingerhut die dürfen nicht mehr mitspielen? das ist gemein
schumann nee, die sterben ja alle, zumindest im ansatz
und wenn gestorben ist, ab
fingerhut vor allem klingt es für mich als außenstehende ein bisschen inkonsequent. immerhin sind die äußeren umstände schuld, dass die beiden teenies ihr leben lassen müssen. und ausgerechnet die sind am ende nicht mehr da?
aber der tod ist einsam …
schumann eben
und das ist konsequent
also dummheit kann man dem ganzen nicht vorwerfen
es ist ein ganz und gar möglicher ansatz
fingerhut ich werfe überhaupt nichts vor
ich frage bloß
schumann dann gibt es noch ein paar erheiternde mätzchen
paris schickt julia videobotschaften
das ist knapp und sauber gemacht
so etwas wie: ich liebe dich. du bist schön. ich bin schön.
fingerhut jaja, der schöne paris
mamis liebling
schumann gibt nen lacher und sagt in 30 sekunden alles
fingerhut hübsch
schumann unruhige nächte auf hochgestellten matratzen, auch nett, drüber ne projektion
also julias bettgewälze
da gibt’s sie übrigens tatsächlich mehrfach
fingerhut wie das so ist, wenn man sich nachts den kopf zerbricht. dann ist man ja gleich mindestens dreimal da
schumann eben, auch das ist schlüssig. und es gibt eine sehr effektvolle keilerei
fingerhut keilerei! muss ja auch sein. und wie stirbt mercutio?
schumann das ist die szene
sie haben eine grosse saltomatte, so hieß das glaube ich früher, im turnunterricht
fingerhut das muss aber wirklich schon lange her sein, herr schumann
schumann ist es. wenn man sich darauf fallen läßt, knallt es ordentlich
das ding liegt am hinteren bühnenrand, zwei halten einen vorhang davor
die jungs springen hinter dem vorhang darauf, lassen sich fallen, das gibt ein irres getöse
und eine vorstellung von gewalt
man sieht immer wieder mal einen hochkommen und dann wieder hinter dem vorhang verschwinden. auch das eine lösumg
fingerhut keilerei, krawall und remmidemmi
schumann nein, das ist nicht so effektgeladen, wie es klingt
fingerhut lösung klingt in dem falle irgendwie negativ
ist das so gemeint?
schumann das bezieht sich ja nur auf die aneinandereihung von guten ideen, die nicht unbedingt ein ganzes bilden
es wirkt immer so ein bißchen wie nummernrevue
fingerhut kann das am konzept liegen?
schumann wenn man den eindruck von schauspielstudio, der ja unweigerlich in der luft liegt, beiseite wischt, dann könnte man daran denken, daß das stolpern, der fehlende fluss auch eine idee ist
aber was würde das erzählen?
fingerhut hilflosigkeit der in das spiel geworfenen liebenden subjekte (roland barthes?)?
schumann wohl nicht
fingerhut also, eine nummernrevue der liebe
schumann nur ein eindruck, und vielleicht zu knapp formuliert
das wird doch durch die dynamik der jungen talente überdeckt
fingerhut das klingt dann doch wieder furchtbar unromantisch und gar nicht nach “yes, we can” und unbedingtheit des gefühls
schumann hmm. das katastropische ende ist homogener
fingerhut uiuiuiui. was für ein satz
schumann der ist doch bei dem stück gerechtfertigt
unbedingtheit und katastrophe
oder möglicherweise auch: unbedingtheit führt in die katastrophe
fingerhut vielleicht lieben wir deshalb nicht mehr unbedingt. weil das meistens in die katastrophe führt
schumann es ist ja gerade die maßlosigkeit, die in die katastrophe führt
aber andersherum: ist die maßlosigkeit denn unbedingt gut?
fingerhut nie wird liebe wieder so unbedingt, mit jeder körper- und hirnfaser gespürt werden wie beim ersten mal
schumann das ist eine deutung des textes
fingerhut weil das affektive gedächtnis sich den schmerz danach gleich mitmerkt
schumann insofern doch ein konstrukt
eine mahnung zum selbstbehalt und gleichzeitig eine grosse, als schön empfundene illusion
fingerhut ist das eine deutung? oder die deutung von alexander simon?
schumann das wäre doch zu verbinden
wobei das eher shakespeare (wer immer er war) ist
aber daß der gedanke kommt, spricht für herrn simon
fingerhut unbedingt!
schumann und das ist doch ein schöner schluss, oder? noch fragen, fingerhut?
fingerhut keine weiteren fragen, schumann
Hinterlasse jetzt einen Kommentar