Was René Pollesch mit Lessing zu tun hat, werden Sie vielleicht fragen. Das ist auf den ersten Blick nicht sofort zu beantworten. Und vielleicht auch nicht auf den zweiten. Aber die Volksbühne Berlin ist mit einem Pollesch-Abend zu Gast im Rahmen der Lessingtage, und das Thalia ist voll bis in die letzten Reihen.
Der Beat von “Streets of Philadelphia” im Endlos-Loop läutet den Abend ein, und dann kommt der Chor von der Decke gesegelt. Fabian Hinrichs wird ganz allein klarkommen müssen mit seinem Mikro und diesem akrobatischen Netzwerk-Chor. Denn diesmal ist es kein Chor der Arbeiter oder des Proletariats. Diesmal sind es 15 junge Turner, und sie verkörpern ein Netzwerk, sie verkörpern den Kapitalismus. Sie kommen von der Decke, sie turnen in Salti über die Bühne und sie lassen ihn allein. Denn wie Hinrichs resigniert feststellt: “Du bist ein Netzwerk. Du bist zu viele. Du willst zu viele.”
Aber zurück zum Anfang. Da erklärt Hinrichs uns nämlich den Abend – und ganz nebenbei das Leben. Die besten Szenen soll im Thalia keiner sehen. Die sind nämlich zu gut, das erträgt ein Publikum überhaupt nicht. Das wahre Leben ist schließlich auch keine Ekstase, eher ein Grillabend. “Stattdessen sehen Sie Szenen, die sie nicht so aufregen”, erklärt Hinrichs. Wie aufmerksam.
Er weiß, dass die Ekstase des tiefen Gefühls out ist. Warum sich niemand mehr aus Liebe umbringt, fragt er, das habe man früher doch auch gemacht. Die ernsthafte Beziehung aber ist heute abschreckend: “Es tut mir leid, dass ich nicht mehr Möglichkeiten bin als das hier” stellt er fest und fährt einen kleinen Bagger aus der Seitenbühne. Tief graben müsste man jetzt. Aber das ist doch viel zu anstrengend. Dunkel auf der Bühne, die kleinen Lichter am Bagger und Gitarrenmusik, das muss für ein paar Minuten reichen.
Als das Licht wieder angeht, versucht er kurz, das Netzwerk wegzubaggern, aber das will nicht so recht gelingen. Mit ruhigem Blick sitzen die jungen Turner vor ihm, da kann er mit der Schaufel drohen und aufgeregt auf und ab fahren, so viel er will. Zwecklos. Und doch fangen sie ihn immer wieder auf, sie tragen ihn auf Händen, sie formieren sich zu seinem Sofa, zu seinem Turm in der Brandung. Und jenseits des Inhalts, den der Chor transportiert, muss man feststellen, dass diese jungen Menschen den Schauspieler Hinrichs tragen mit ihrer Körperlichkeit und Präsenz.
Und das hat er — inhaltlich betrachtet — dringend nötig. Denn man könnte wirklich deprimiert darüber sein, dass dieses dämliche Leben nicht mehr ist, als abends Pizza zu essen oder ein Urlaub im Nieselregen auf Sylt. “Ich brauche den Sturm”, schreit Hinrichs, “Ich brauche die Seenot!” Und so sehr er die Forderung immer wieder ironisch bricht (“Und ich meine jetzt hier nicht so ’nen Carpe diem-Scheiß!”), so ernst ist doch dieser Bühnenmoment: die Resignation über den Grillabend statt dem Exzess.
Doch so einfach kommt er bei seinem Chor nicht davon. Und die Bühnentechnik lässt ihn auch nicht aus. Die machen nämlich Regen. Und dazu wird getanzt und geschlittert auf dem Bühnenboden, dass es eine Freude ist. Wenn Hinrichs im langen Leinenrock und mit Kartoffelsack den Planwagen durch den Bühnenregen zerrt, wird er doch selbst zur Mutter Courage, zu Brechts berühmtester Kapitalistin, die ihre Kinder dem Profit opfert. Die Turner toben im Regen, und kurzzeitig macht auch Hinrichs mit, und alle haben hinreißend viel Spaß dabei.
Doch geht der Spaß mit dem Kapitalismus nicht lange gut. Hinrichs bricht ab, Musik aus, Regen aus, so geht das nicht: “Das ist zu viel Glück, das haben wir doch rausgestrichen!” Und während er so nachdenkt, wie der Abend eigentlich im faden Mittelmaß am besten weitergehen soll, bringen die Turner eine Sportmatte auf die Bühne und tun, was sie eben am besten können: turnen. Das sei ja eine schöne Sache, konstatiert Hinrichs, während die Turner weiter turnen. Aber wer würde dafür in einer Mehrzweckhalle 45,— Euro bezahlen? Eben. Niemand.
Alles braucht Mehrwert, und so wird die Turnakrobatik ein bisschen aufgepeppt. Hinrichs zwängt sich in ein Krakenkostüm, gibt den Einsatz zur Musik und zum Diskolicht. So wird ein Schuh draus, so hat das Ding einen Mehrwert. An und aus geht auf Hinrichs Ansage das Discolicht, und dabei bewegt er seine Krakenarme so zauberhaft – das Publikum ist glücklich. Aber warum machen sie das? Gibt es eine Antwort darauf? Ja! Aber die wurde natürlich gestrichen: “Ihr hättet sie nicht ertragen.” Stimmt ja. Kein Glück, keine Höhepunkte, keine Erkenntnisse.
Aber das Blöde ist ja: Dieser Abend ist irgendwie so rund. Da geht es scheinbar um alles und nichts. Dann fallen alle so wunderbar aus der Rolle, und Hinrichs in seinen Glitzerleggins (!) flirtet mit seinem Publikum, wird getragen, erzählt und strauchelt. Und da kommt das Glück eben doch immer wieder hinterrücks auf die Bühne geschlichen, dagegen kann man gar nichts tun.
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