Erasmus

Mit Rossinis "Il Viaggio a Reims" ist das Theater Lübeck wieder einmal auf der Höhe der Zeit

Il Viaggio a Reims
Hiergeblieben, Mr. John Bull! (Bild: Oliver Fantitsch)

Es ist schon eine gan­ze Wei­le her, dass die euro­päi­sche Uni­on, für man­che ihrer Kri­ti­ker der Hort von Büro­kra­tie und Men­schen­fer­ne, ein Pro­gramm auf­leg­te, das den Namen eines Huma­nis­ten trägt: Eras­mus. Die­ses Euro­pean com­mu­ni­ty action sche­me for the mobi­li­ty of uni­ver­si­ty stu­dents, wie es in der wahr­haf­tig büro­kra­ti­schen Lin­gua Fran­ca heißt, hat nicht nur den Aus­tausch von jähr­lich über 200.oo Stu­den­ten in ganz Euro­pa bewirkt, son­dern ganz kon­kret zu mensch­li­cher Begeg­nung, fast eine Mil­li­on pan­eu­ro­päi­scher »Erasmus«-Kinder ist auf die­se Wei­se seit 1987 ent­stan­den. Anfang des Jahr­tau­sends wid­me­te sich der fran­zö­si­sche Fil­me­ma­cher Céd­ric Kla­pisch mit einer lie­bens­wür­di­gen und äußerst ver­spiel­ten Film­ko­mö­die den Bezie­hungs­ir­run­gen jun­ger Eras­mus-Stu­den­ten, der Film hieß »L’auberge espa­gno­le« – die spa­ni­sche Herberge.

Als Gio­ac­chi­no Ros­si­ni sein Auf­trags­werk »Il viag­gio a Reims« 1825 als Auf­trags­werk zur Krö­nung des Restau­ra­ti­ons­kö­nigs Karl X. schrieb, war nicht ein­mal an eine ita­lie­ni­sche Eini­gung zu den­ken, die Idee eines Gro­ß­eu­ro­pa unter fran­zö­si­scher Vor­herr­schaft war mit der Nie­der­la­ge Napo­le­ons zehn Jah­re zuvor an ihrer vor­wie­gend mili­tä­ri­schen Grund­la­ge zer­bro­chen. Die Hand­lung ist sim­pel, eine Grup­pe von Rei­sen­den aus ver­schie­de­nen euro­päi­schen Staa­ten, die auf dem Weg zur Krö­nung ist, muss Sta­ti­on im loth­rin­gi­schen Kaff Plom­bie­re machen, da für die Wei­ter­fahrt kei­ne Pfer­de mehr zu fin­den sind. Der Rest ist Kom­mu­ni­ka­ti­on in jeg­li­cher Hin­sicht und viel Gele­gen­heit zur musi­ka­li­schen Aus­ein­an­der­set­zung. Das Per­so­nal im Libret­to des heu­te weit­ge­hend ver­ges­se­nen Giu­sep­pe Lui­gi Baloc­chi führt zudem eine Fül­le natio­na­ler Ste­reo­ty­pen mit sich her­um, deren ver­wa­sche­ne Komik aus dem Auf­ein­an­der­tref­fen die­ser ver­schie­de­nen All­ge­mein­plät­ze rührt. So ver­schwand das lan­ge im Archiv ver­stau­ben­de Stück vor allem wegen sei­ner sän­ge­ri­schen Her­aus­for­de­run­gen und ros­si­ni­scher Leben­dig­kei­ten in jün­ge­rer Zeit nicht voll­ends von den Spiel­plä­nen, heu­te wird es aller­dings mehr­heit­lich kon­zer­tant aufgeführt.

In Lübeck hin­ge­gen wird das schlich­te Stück zur »Voll­oper«, bes­ser gesagt zu einem Mus­ter­bei­spiel des­sen, was die Kunst­form Oper ver­mag, ent­klei­det man sie bei­na­he kom­plett von ihren his­to­ri­sie­ren­den und musea­len Zwän­gen – Auf­klä­rung, Unter­hal­tung, ja, Kunst. Der ita­lie­ni­sche Regis­seur Pier Fran­ces­co Maes­t­ri­ni hat sein The­ma in die­sem Libret­to gefun­den und in die­sem befin­den sich sowohl Balocchis/​Rossinis Gast­haus zur Lilie, in dem sich sei­ne auf der Rei­se gestran­de­ten Prot­ago­nis­ten auf­ein­an­der­tref­fen, als auch Kla­pischs »spa­ni­sche Her­ber­ge«: Europa.

Und wie­der ein­mal steht der Deut­sche in der Mit­te aller Nasen (Bild: © Oli­ver Fantitsch)

Hier wie dort, im alten Musik­thea­ter oder in den Stu­den­ten-WGs des euro­päi­schen Kon­ti­nents, tref­fen Ver­tre­ter ver­schie­de­ner euro­päi­scher Natio­na­li­tä­ten auf­ein­an­der, mit ihren Eigen­hei­ten, aber auch mit Neu­gier und Inter­es­se am jeweils anders­ar­ti­gen. Gleich ist ihnen natür­lich auch das Inter­es­se am ande­ren Geschlecht – da unter­schei­det sich eine Rei­se­her­ber­ge des 19. Jahr­hun­dert nur durch die Form der Leib­wä­sche von den Stu­den­ten­bu­den in Bar­ce­lo­na oder St. Peters­burg. Und um nicht in die Bou­doir-Schlüpf­rig­kei­ten einer musea­len Rekon­struk­ti­on zu gera­ten, holt der Regis­seur zum gro­ßen ästhe­ti­schen Gegen­ent­wurf aus – die Ver­knüp­fung von Spiel­hand­lung mit einer den gan­zen Büh­nen­raum bestim­men­den ani­mier­ten Rück-Pro­jek­ti­on. Kein Büh­nen­bild im her­kömm­li­chen Sin­ne, auch kei­ne flim­mern­de »Ein­spie­lung«, son­dern das kon­se­quen­te Mit­ein­an­der von Spiel und ani­mier­ter Hand­lung, bis hin zur Inter­ak­ti­on zwi­schen den bei­den Spiel­ebe­nen. Kurz: Die Ani­ma­ti­on wird vom Spiel der Sän­ger getrie­ben und umge­kehrt. Die­se Ani­ma­tio­nen sind vom ita­lie­ni­schen Comic-Zeich­ner Joshua Held geschaf­fen wor­den. Sei­ne typi­schen Nasen-Figu­ren – sein Blog heißt übri­gens I Naso­ni – tre­ten real auf der Büh­ne (Aus­stat­tung: Alfre­do Troi­si) wie gezeich­net auf der Lein­wand auf – die glei­chen gro­tes­ken Köp­fe, die glei­chen bun­ten Kos­tü­me. Nur im Tem­po müs­sen sich die rea­len Figu­ren mit­un­ter anpas­sen, da sind ihre gezeich­ne­ten Pen­dants manch­mal ein­fach ein wenig flotter.

Il Viaggio a Reims
Wir sind Euro­pa! (Bild: © Oli­ver Fantitsch)

Durch die­se Über-Zeich­nun­gen ver­kehrt sich die etwas ange­staub­te Komik des Urtexts ins Gro­tes­ke und passt die Hand­lung an die Dyna­mik der Ros­si­ni­schen Par­ti­tur an. Die ist näm­lich, wie gewohnt für den »Schwan von Pesa­ro«, von erleb­ba­rer Umtrie­big­keit und gibt Lübecks ohne­hin beacht­li­chem Ensem­ble reich­lich Raum für die Prä­sen­ta­ti­on sei­ner Fer­tig­kei­ten. Der in allen Lagen vir­tuo­se Neu­zu­gang Emma McN­airy als blau­weiß­ro­ter fran­zö­si­scher Natio­nal­cha­rak­ter Com­tesse de Fol­le­ville, deren Ton hier nicht mehr die sou­brett­en­haf­te Schär­fe ihres Lübe­cker Strauss-Debuts vom ver­gan­ge­nen Jahr hat, schiebt das Kli­schee der leicht­le­bi­gen Fran­zö­sin sehr ent­spannt vor sich her, gekrönt vom kecken Eif­fel­turm-Hüt­chen. Dani­el Jenz, stets das Äußers­te aus sei­nen Mög­lich­kei­ten schöp­fend, der sich vol­ler Spiel­freu­de in sei­nen rus­si­schen Gra­fen von Liben­s­kof wirft, fin­det aller­hand Bur­les­kes in Figur und Par­ti­tur und spielt mun­ter gegen Note und Text.

Und ganz ähn­lich geht es da auch Lübecks Über-Mez­zo Wio­let­ta Hebrows­ka, die dies­mal dem Affen ordent­lich Zucker zu geben weiß und mit ihrer immer­dar brüns­ti­gen pol­ni­schen Edel­frau Meli­bea sogar soi­gnier­te Senio­ren scho­ckiert das Thea­ter ver­las­sen lässt – was wirk­lich nicht an ihrer stu­pen­den San­ges­kunst lie­gen kann. Ros­si­ni hat einen star­ken lyri­schen Part in die­ses Werk geschrie­ben, eine Par­tie wie geschaf­fen für Evmor­fia Meta­xa­ki, deren deli­ka­ter Umgang mit Phra­sie­rung und betö­ren­der Mez­za­vo­ce jeden pan­eu­ro­päi­schen Gro­bi­an zum wil­li­gen Ver­eh­rer ihrer Dich­te­rin Corin­na wer­den las­sen muss.

Was einem zudem auf­fal­len muss – auch hier, im rich­ti­gen Leben auf der Büh­ne fin­den wir eine bun­te Mischung der Natio­na­li­tä­ten, von Grie­chen­land über Polen bis in die Ukrai­ne reicht die Her­kunft der Sän­ger – ein mul­ti­na­tio­na­les Ensem­ble, das gemein­sam sei­ne »euro­päi­sche« Auf­ga­be wahr­nimmt, inklu­si­ve des gut dis­po­nier­ten und unter sei­nen Mas­ken red­lich schwit­zen­den Cho­res (Lei­tung: Jan-Micha­el Krü­ger) und des von Dani­el Carl­berg mun­ter gelei­te­ten Orches­ters der Lübe­cker Philharmonie.

Das Kon­zept geht auf und über das Eti­kett der »Comic-Oper« hin­aus – das Ver­gnü­gen ist für Sän­ger und Zuschau­er mit Sicher­heit gleich groß, doch bei aller ästhe­ti­schen Ver­spielt­heit und all den gewoll­ten Brü­chen, die das musi­kan­ti­sche im Büh­nen­spiel her­aus­stel­len, lässt das ita­lie­ni­sche Team den Plot nicht auf sich beru­hen, son­dern fasst mit leich­ter Hand das euro­päi­sche Dilem­ma ein­heit­li­cher Diver­genz an. So unter­schied­lich – und natür­lich über­zeich­net – die natio­na­len Cha­rak­te­re sind, so sehr eint sie die gemein­sa­me Geschich­te und die unmit­tel­ba­re Nähe ihres Lebens­raums. Eine Debat­te, wie sie gera­de heu­te über die euro­päi­sche Iden­ti­tät geführt, kann natür­lich nicht auf der Opern­büh­ne geführt wer­den, aber, sie kann, so wie hier, eine Men­ge zum The­ma erzäh­len, ohne dabei zu lang­wei­len. Für die­se Pro­duk­ti­on ist eine Men­ge Auf­wand getrie­ben wor­den, sie ist eine Copro­duk­ti­on mit dem Thea­ter Kiel und der Fon­da­zio­ne Are­na di Vero­na – anders wären weder Kos­ten noch Logis­tik zu bewäl­ti­gen gewe­sen. Die­ser Auf­wand hat sich zwei­fels­oh­ne gelohnt und dazu macht er noch Spaß.

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