
Es ist schon eine ganze Weile her, dass die europäische Union, für manche ihrer Kritiker der Hort von Bürokratie und Menschenferne, ein Programm auflegte, das den Namen eines Humanisten trägt: Erasmus. Dieses European community action scheme for the mobility of university students, wie es in der wahrhaftig bürokratischen Lingua Franca heißt, hat nicht nur den Austausch von jährlich über 200.oo Studenten in ganz Europa bewirkt, sondern ganz konkret zu menschlicher Begegnung, fast eine Million paneuropäischer »Erasmus«-Kinder ist auf diese Weise seit 1987 entstanden. Anfang des Jahrtausends widmete sich der französische Filmemacher Cédric Klapisch mit einer liebenswürdigen und äußerst verspielten Filmkomödie den Beziehungsirrungen junger Erasmus-Studenten, der Film hieß »L’auberge espagnole« – die spanische Herberge.
Als Gioacchino Rossini sein Auftragswerk »Il viaggio a Reims« 1825 als Auftragswerk zur Krönung des Restaurationskönigs Karl X. schrieb, war nicht einmal an eine italienische Einigung zu denken, die Idee eines Großeuropa unter französischer Vorherrschaft war mit der Niederlage Napoleons zehn Jahre zuvor an ihrer vorwiegend militärischen Grundlage zerbrochen. Die Handlung ist simpel, eine Gruppe von Reisenden aus verschiedenen europäischen Staaten, die auf dem Weg zur Krönung ist, muss Station im lothringischen Kaff Plombiere machen, da für die Weiterfahrt keine Pferde mehr zu finden sind. Der Rest ist Kommunikation in jeglicher Hinsicht und viel Gelegenheit zur musikalischen Auseinandersetzung. Das Personal im Libretto des heute weitgehend vergessenen Giuseppe Luigi Balocchi führt zudem eine Fülle nationaler Stereotypen mit sich herum, deren verwaschene Komik aus dem Aufeinandertreffen dieser verschiedenen Allgemeinplätze rührt. So verschwand das lange im Archiv verstaubende Stück vor allem wegen seiner sängerischen Herausforderungen und rossinischer Lebendigkeiten in jüngerer Zeit nicht vollends von den Spielplänen, heute wird es allerdings mehrheitlich konzertant aufgeführt.
In Lübeck hingegen wird das schlichte Stück zur »Volloper«, besser gesagt zu einem Musterbeispiel dessen, was die Kunstform Oper vermag, entkleidet man sie beinahe komplett von ihren historisierenden und musealen Zwängen – Aufklärung, Unterhaltung, ja, Kunst. Der italienische Regisseur Pier Francesco Maestrini hat sein Thema in diesem Libretto gefunden und in diesem befinden sich sowohl Balocchis/Rossinis Gasthaus zur Lilie, in dem sich seine auf der Reise gestrandeten Protagonisten aufeinandertreffen, als auch Klapischs »spanische Herberge«: Europa.

Hier wie dort, im alten Musiktheater oder in den Studenten-WGs des europäischen Kontinents, treffen Vertreter verschiedener europäischer Nationalitäten aufeinander, mit ihren Eigenheiten, aber auch mit Neugier und Interesse am jeweils andersartigen. Gleich ist ihnen natürlich auch das Interesse am anderen Geschlecht – da unterscheidet sich eine Reiseherberge des 19. Jahrhundert nur durch die Form der Leibwäsche von den Studentenbuden in Barcelona oder St. Petersburg. Und um nicht in die Boudoir-Schlüpfrigkeiten einer musealen Rekonstruktion zu geraten, holt der Regisseur zum großen ästhetischen Gegenentwurf aus – die Verknüpfung von Spielhandlung mit einer den ganzen Bühnenraum bestimmenden animierten Rück-Projektion. Kein Bühnenbild im herkömmlichen Sinne, auch keine flimmernde »Einspielung«, sondern das konsequente Miteinander von Spiel und animierter Handlung, bis hin zur Interaktion zwischen den beiden Spielebenen. Kurz: Die Animation wird vom Spiel der Sänger getrieben und umgekehrt. Diese Animationen sind vom italienischen Comic-Zeichner Joshua Held geschaffen worden. Seine typischen Nasen-Figuren – sein Blog heißt übrigens I Nasoni – treten real auf der Bühne (Ausstattung: Alfredo Troisi) wie gezeichnet auf der Leinwand auf – die gleichen grotesken Köpfe, die gleichen bunten Kostüme. Nur im Tempo müssen sich die realen Figuren mitunter anpassen, da sind ihre gezeichneten Pendants manchmal einfach ein wenig flotter.

Durch diese Über-Zeichnungen verkehrt sich die etwas angestaubte Komik des Urtexts ins Groteske und passt die Handlung an die Dynamik der Rossinischen Partitur an. Die ist nämlich, wie gewohnt für den »Schwan von Pesaro«, von erlebbarer Umtriebigkeit und gibt Lübecks ohnehin beachtlichem Ensemble reichlich Raum für die Präsentation seiner Fertigkeiten. Der in allen Lagen virtuose Neuzugang Emma McNairy als blauweißroter französischer Nationalcharakter Comtesse de Folleville, deren Ton hier nicht mehr die soubrettenhafte Schärfe ihres Lübecker Strauss-Debuts vom vergangenen Jahr hat, schiebt das Klischee der leichtlebigen Französin sehr entspannt vor sich her, gekrönt vom kecken Eiffelturm-Hütchen. Daniel Jenz, stets das Äußerste aus seinen Möglichkeiten schöpfend, der sich voller Spielfreude in seinen russischen Grafen von Libenskof wirft, findet allerhand Burleskes in Figur und Partitur und spielt munter gegen Note und Text.
Und ganz ähnlich geht es da auch Lübecks Über-Mezzo Wioletta Hebrowska, die diesmal dem Affen ordentlich Zucker zu geben weiß und mit ihrer immerdar brünstigen polnischen Edelfrau Melibea sogar soignierte Senioren schockiert das Theater verlassen lässt – was wirklich nicht an ihrer stupenden Sangeskunst liegen kann. Rossini hat einen starken lyrischen Part in dieses Werk geschrieben, eine Partie wie geschaffen für Evmorfia Metaxaki, deren delikater Umgang mit Phrasierung und betörender Mezzavoce jeden paneuropäischen Grobian zum willigen Verehrer ihrer Dichterin Corinna werden lassen muss.
Was einem zudem auffallen muss – auch hier, im richtigen Leben auf der Bühne finden wir eine bunte Mischung der Nationalitäten, von Griechenland über Polen bis in die Ukraine reicht die Herkunft der Sänger – ein multinationales Ensemble, das gemeinsam seine »europäische« Aufgabe wahrnimmt, inklusive des gut disponierten und unter seinen Masken redlich schwitzenden Chores (Leitung: Jan-Michael Krüger) und des von Daniel Carlberg munter geleiteten Orchesters der Lübecker Philharmonie.
Das Konzept geht auf und über das Etikett der »Comic-Oper« hinaus – das Vergnügen ist für Sänger und Zuschauer mit Sicherheit gleich groß, doch bei aller ästhetischen Verspieltheit und all den gewollten Brüchen, die das musikantische im Bühnenspiel herausstellen, lässt das italienische Team den Plot nicht auf sich beruhen, sondern fasst mit leichter Hand das europäische Dilemma einheitlicher Divergenz an. So unterschiedlich – und natürlich überzeichnet – die nationalen Charaktere sind, so sehr eint sie die gemeinsame Geschichte und die unmittelbare Nähe ihres Lebensraums. Eine Debatte, wie sie gerade heute über die europäische Identität geführt, kann natürlich nicht auf der Opernbühne geführt werden, aber, sie kann, so wie hier, eine Menge zum Thema erzählen, ohne dabei zu langweilen. Für diese Produktion ist eine Menge Aufwand getrieben worden, sie ist eine Coproduktion mit dem Theater Kiel und der Fondazione Arena di Verona – anders wären weder Kosten noch Logistik zu bewältigen gewesen. Dieser Aufwand hat sich zweifelsohne gelohnt und dazu macht er noch Spaß.
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