Der Titel verrät’s bereits: Wer einen schnellen Reiseführer sucht, der einem Venedig für den Sommerurlaub näherbringt, hat das falsche Buch gekauft. Wer etwas erfahren möchte über Markusplatz und Seufzerbrücke, der muss sich Zeit lassen und darf auf keinen Fall gezielt danach suchen. Denn, so steht es im ersten Kapitel, als die Ankommende verzweifelt und voll bepackt das Mädchenwohnheim sucht, das ihre erste Bleibe werden wird, “in Venedig muss man verloren gehen, um etwas zu finden”.
Und so wird das Studienjahr der Autorin zu einem Buch des Entdeckens. So beiläufig wie sie durch die Gassen der Serenissima streift, hier eine Fassade beschreibt, dort den verwunschenen Hintereingang eines Palazzos oder einen campiello bei Nacht, so sehen wir die Stadt. Allerdings erscheint das nur auf den ersten Blick zufällig und beliebig. Der aufmerksame Leser merkt recht bald, wie geschickt die Autorin ihr profundes Wissen über die Stadt zwischen die kleinen Anekdoten mischt.
Schlieckaus Buch ist ein genuin venezianisches geworden. Denn genau wie der Venezianer seinen täglichen Rundgang, seinen piccolo giretto, durch die Stadt macht, so streifen wir darin umher. Wir wandeln mit ihr auf schmalen Holzwegen während des Acqua Alta, lernen, dass das heiße, schwüle Sommerklima, das die Venezianer aus der Stadt treibt, afa heißt, sehen die Drehorte Viscontis und erleben den carnevalo in der Lagunenstadt. Und so wie ein prächtiger palazzo auf maroden Holzpfählen steht, wird schnell klar, dass Venedig eine Stadt der Maskerade ist. Dass man mia cara genannt wird, bevor Kritik folgt. Aber auch dass es in einer italienischen Großfamilie durchaus so laut, turbulent, herzlich und unkompliziert zugehen kann, wie man sich das immer vorgestellt hat.
Ein Jahr in Venedig lässt sich Zeit dabei, einem die Lagunenstadt nahe zu bringen. Denn – so scheint es – diese Stadt pflegt ihre Langsamkeit. Ohne Autos, abhängig von Booten, die die canale durchpflügen, entdeckt man, dass Unpünktlichkeit nicht immer unhöflich ist und eine halbe Stunde Wartezeit einem die Augen für die Details öffnet, die man sonst mit Sicherheit übersehen hätte. Die Stadt bremst Rhythmus und Tempo ihrer Bewohner.
Monat für Monat erleben wir so das sich wandelnde Bild der Serenissima. Die Stadt und ihre Geschichte, ihre Bewohner und Architektur, die Kanäle und Gassen, versteckte Winkel, geheime Geschichten und gepflegte Gerüchte – man möchte umgehend nach Venedig reisen, wenn man den Buchdeckel geschlossen hat. Denn unmerklich denkt man, man sei zu einem Experten geworden. Wer dieses Buch gelesen hat, wird keiner der Touristen sein, die sich träge durch die Gassen schieben im August. Vielleicht wird man im November fahren, wenn die Stadt im Nebel versinkt und es Tage gibt, an denen man die Hand vor Augen nicht erkennt. Man möchte sich ein bisschen gruseln, Weine trinken in kleinen Bars und hinausgucken in die milchige Suppe.
Frauke Schlieckau: Ein Jahr in Venedig
(Amazon Partnerlink)
Hinterlasse jetzt einen Kommentar