Die Verfilmung mit Elizabeth Taylor und Richard Burton unter der Regie von Mike Nichols aus dem Jahr 1966 ist ein moderner Klassiker. Nicht umsonst wurden sowohl die Uraufführung als auch der Film mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter unter anderem ein Tony Award und fünf Oscars. Die Messlatte liegt also immer hoch, wenn sich ein Theater »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« vornimmt. Im Falle des Hamburger Schauspielhauses übernimmt die Inszenierung die Intendantin höchstpersönlich.
Dabei greift Karin Beier auf ein bewährtes Team zurück, wie nicht nur das Programmheft verrät, sondern auch die Bühne auf den ersten Blick vermuten lässt. So erinnert der podestartige Aufbau an Beiers Inszenierung von Yasmina Rezas »Der Gott des Gemetzels« aus dem Jahr 2013, das erfolgreich mehrere Spielzeiten lief. Wie damals stammen das Bühnenbild von Thomas Dreißigacker und die Kostüme von Maria Roers. Vor allem aber besetzt Beier die Rolle der Martha erneut mit Filmstar Maria Schrader, die in ihrer Darstellung einer manischen Furie bereits in »Der Gott des Gemetzels« als Véronique glänzte.
Die Handlung ist schnell erzählt: Das zwei Jahrzehnte verheiratete Ehepaar Martha und George kommt nachts gut angetrunken von einer Feier nach Hause und entschließt sich, mit dem kurz darauf eintreffenden Besuch weiterzutrinken. Ein junges Pärchen, das ebenfalls auf der Feier war: Nick, Kollege von George, und die Süße (im Original »Honey«). Und damit nimmt das Spiel seinen Lauf: Immer mehr Alkohol legt Bösartigkeit frei, Verbissenheit – die pure Realität, nackte Fratzen. Während Martha und George einander in ständig neuen und alten Gehässigkeiten zu übertrumpfen versuchen, werden Nick und Honey zum Publikum und gleichzeitig zu Geiseln dieses Spiels – oder auch zu Lakaien, derer man sich bedienen kann, wenn man mal schnell eine Zigarette oder einen Drink benötigt.
Eine Gratwanderung zwischen den Extremen, bei der es darum geht, sich die Wahrheit herbeizusaufen, buchstäblich sämtliche Illusionen im Alkohol zu ertränken und den berauschenden Zustand gleichwohl als Realitätsflucht zu nutzen. In vino veritas? Wer weiß? In jedem Fall ein exzessives Vorgehen, das allen Beteiligten die unterschiedlichsten Illusionen austreibt. Nicht umsonst nannte Edward Albee das Stück in seiner Ursprungsfassung »Exorzismus der Illusionen«.
Doch welche Illusionen lassen sich austreiben? Wünsche, Träume, Vorstellungen – alles vermischt sich, und es ist schwer zu sagen, was wahr ist und was das Ehepaar sich ausgedacht hat. Ob Martha und George aus Langeweile oder Einsamkeit diese »Performance« für Nick und seine Süße aufführen oder ob sie es sich als Form der vermeintlichen Selbsttherapie ausgedacht haben – eine Gratwanderung. In jedem Fall aber höchst destruktiv.
Beier zieht das ursprünglich in drei Akte unterteilte Stück ohne Pause in zwei Stunden durch. Eine kluge Entscheidung, um die Intensität zu verstärken – eine Pause ist dem Publikum nicht gegönnt. Diese Rastlosigkeit zu transportieren, lastet von der ersten Minute an auf dem beeindruckenden Ensemble, das in den zwei Stunden keine ruhige Sekunde auf der Bühne hat und die Herausforderung bravourös meistert. Trunkenheit und Alkoholismus wirken teilweise erschreckend echt, die pointierten, bitterbösen Dialoge sind präzise und messerscharf. Maria Schrader als Martha, die Alkoholikerin, die gerne ein Kind hätte, Devid Striesow als George, der Versager, der es beruflich zu nichts bringen wird und seine Frau nicht mehr befriedigen kann, die beiden jungen Gäste allgemein als naive Kinder, Matti Krause als Nick, das Dummerchen, Josefine Israel, die Süße als naives Anhängsel.
Mit der Rolle der Martha tritt Maria Schrader in die Fußstapfen von keiner Geringeren als der mit einem Oscar ausgezeichneten Elizabeth Taylor – und sie brilliert. Sie verkörpert das Manische, das Hasserfüllte, das Verzweifelte mit spielerischer Leichtigkeit. Wenn sie grazil und gleichzeitig dominant in der Mitte der ungemütlichen Bühne liegt wie auf einer bequemen Chaiselongue, um sich eine Zigarette bringen zu lassen und im nächsten Moment bucklig und breitbeinig dasitzt wie eine Alkoholikerin in der Gosse, werden die konträren Charakterzüge der Figur aufs feinste seziert.
Striesows Stimmungsschwankungen wirken am Anfang etwas aufgesetzt und kindisch plakativ, was sicherlich der Figur geschuldet ist. Sobald die Gemüter sich erhitzen, spielt Striesow sich in Rage. Während Marthas Gehässigkeiten häufig plump wirken, agiert George perfider. Ein perfektes Duo Infernale der Bösartigkeiten, der Co-Abhängigkeit und des Imponiergehabes. »Ich will es nicht wissen« – sagt Honey verzweifelt und ist eben doch zu klug, um die Misere zu ignorieren oder gar übersehen zu können.
Das Bühnenbild von Thomas Dreißigacker, ein zweistufiges Podest in Weiß, lässt Assoziationen offen: eine Bühne auf der Bühne, Rollen des Lebens, die Performance einer Ehe. So einfach das Podest, so vielseitig wird es eingesetzt: als Bett, Bank oder Couch. Ein großer Baum ragt als Sinnbild der dunklen Geheimnisse von Martha und George präsent in der Mitte der Bühne auf, geschmückt mir einigen IKEA-Lampions, von denen meist nur einer leuchtet. Drei Servierwagen bzw. mobile Bars tauchen in den ersten zehn Minuten Stück für Stück aus allen Ecken auf – wann immer schnell ein Drink benötigt wird. Auf dem schwarzen Hintergrund werden nach und nach immer mehr leere Alkoholflaschen sichtbar.
Der gesamte Bühnenraum, der zeitweise ein nahezu erdrückendes Gefühl erzeugt, wird von einem riesigen weißen Rahmen gesäumt, was die Bühnenhandlung doppelt, sie explizit als solche herausstellt und das Publikum in die Rolle von Voyeuren rückt. »Setzt euch«– ein scheinbar einladender Satz zu Beginn des Abends, könnte in Anbetracht der unbequemen Bühne, die ganz ohne Sitzmöbel auskommt, geheuchelter nicht sein.
Das titelgebende Kinderlied »Wer hat Angst vorm bösen Wolf?« aus dem Disney-Klassiker »Die drei kleinen Schweinchen« (1933) fasst das Stück pointiert zusammen: ein vordergründig beschwingter Abend, der völlig aus dem Ruder läuft, bei dem selbst ein harmloses Kinderlied zum Totentanz verkommt. Beier gelingt eine exzellente Interpretation des Klassikers von Albee, die durch ihre schnörkellose, direkte Art überzeugt. »Alle, die herkommen, sind am Schluss genervt!« Diese Feststellung Georges mag für die Gäste von Martha und George gelten, aber definitiv nicht für das Publikum im Schauspielhaus. Das kommt garantiert wieder.
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