Humatomic Energy

Eine Nachlese zu den 14. Vattenfall Lesetagen

Bar der Empörung

Ham­burg hat inzwis­chen mehrere Lit­er­atur­fes­ti­vals, das tra­di­tion­sre­ich­ste sind die Vat­ten­fall Lese­tage, die in diesem Jahr zum 14. Mal stat­tfan­den. Wir waren während der Fes­ti­val­woche an fast jedem Abend auf ein­er der 70 Ver­anstal­tun­gen des Erwach­se­nen­pro­gramms, um uns ein Bild des Pro­gramms zu machen und außer­dem dem nachzus­püren, was die lit­er­aturferne Aufre­gung­shal­tung, die sich vor und während dieser Woche bei manchem bre­it­machte, zu bedeuten hat­te. Von Vere­in­nah­mung war da oft die Rede – um es vor­wegzunehmen, indok­triniert hat über­raschen­der­weise nicht die Energiein­dus­trie, es sei denn, ein paar Ban­ner mit Logos darauf zählen dazu. Ein langer Rück­blick auf Hal­tun­gen und Texte.

Bar der Empörung (Bild: HHF)

 

Der Som­mer war heiß, das Gras nicht nur grün und der Mann mit dem Hut und der Gitarre sang. Die Jungs waren in Viet­nam und in Ruß­land war es kalt. Es mußte etwas geschehen, über­all, so kon­nte es nicht weit­erge­hen.

You’ll be drenched to the bone/If your time to you/Is worth savin’/Then you bet­ter start swimmin’/Or you’ll sink like a stone/For the times they are a‑changin’.

Jahre später war der Win­ter ver­reg­net, das Früh­jahr eben­so. Der Mann mit dem Hut und der Gitarre sang wieder. In den Super­märk­ten standen Milch­pro­duk­te, die sich abwech­sel­nd links und rechts drehen kon­nten. Die Jungs waren in Afghanistan und in den Woh­nun­gen war es warm. Es mußte etwas geschehen, über­all, so kon­nte es nicht weit­erge­hen.

Diese Hoff­nung schöpfte sicher­lich auch der schwitzende Mann mit der unauf­fäl­li­gen Out­door­jacke in der kleinen Hotel­bar. Angestrengt und sichtlich erregt krampfen seine Hände um ein Heftchen, das er anschließend zer­reißt. Papier­schnipsel rieseln zu Boden und dann fol­gt er seinen vier Mit­stre­it­ern und geht. Er geht schreiend.

Don’t stand in the doorway/Don’t block up the hall/For he that gets hurt/Will be he who has stalled

Eine Woche vorher bere­its hat­te sich eine Gruppe um den fast vergesse­nen Plaud­er­er des deutschen Kul­turfernse­hens, Roger Willem­sen, geschart, um endlich, im vierzehn­ten Jahr seines Beste­hens, dieses Fes­ti­val abzuschaf­fen und durch ein eigenes, natür­lich viel Besseres zu erset­zen. Dazu bot man TV-Promi­nente ein­er Mei­n­ung auf.

Your old road is/Rapidly agin’

Denn schließlich sei es doch vor allem wichtig, sich zu prüfen, vor welchen “Kar­ren” man sich span­nen ließe, so gab denn Willem­sen schon ein­mal vor­ab im “Stern” bekan­nt. Man lese schließlich hon­o­rar­frei, nur für die gute Sache. Sagten alle übere­in­stim­mend und kämpfen alle gegen die Vere­in­nah­mung der Lit­er­atur durch den Kap­i­tal­is­mus, durch einen ver­ach­tungswürdi­gen Konz­ern. Das war das The­ma dieses Fes­ti­vals.

Come writ­ers and critics/Who proph­e­size with your pen/And keep your eyes wide/The chance won’t come again

Essen müssen da anscheinend nur die, die auf der falschen Seite sind, eben woan­ders und nicht in Killes­berg oder Schwabing oder Eppen­dorf den guten Baro­lo zu schätzen wis­sen. Und dort erin­nert man sich gewiß gern an den 4. März 2003, als in der Ham­burg­er Aus­gabe der WELT zu lesen war, daß ein Mann  “mit seinem “Karneval der Tiere” Heit­eres von heute zwis­chen die schwere Kost” eines Fes­ti­val­pro­gramms brachte. Das Hon­o­rar war vier­stel­lig.

The slow one now/Will lat­er be fast/As the present now/Will lat­er be past

Es ist der Vor­abend des Beginns des anderen Fes­ti­vals, jenes, auf dem Män­ner­hände mit Papier­schnipseln wer­fen. An diesem Abend aber geschehen nicht nur Empörun­gen vor aus­ge­suchtem Pub­likum, es sprechen auch der Lit­er­aturkri­tik­er Wern­er Fuld, Fes­ti­val-Kura­torin Bar­bara Heine und der Autor Matthias Göritz in ihrem lit­er­arischen Salon über Denkver­bote und Bücherver­bren­nun­gen, Zen­sur und die Macht des Geschriebe­nen. Es ist der Anfang eines Pro­gramms, dessen The­men sich über 10 Tage ineinan­der­fü­gen.

Wern­er Fulds Buch ist ein Kom­pendi­um der Geis­tes­geschichte ex neg­a­ti­vo und ver­leit­et in nachaufk­lärerisch­er Zeit gele­gentlich zum Schmun­zeln über die dun­klen, ver­gan­genen Zeit­en. Es ist dieses aber das starre Grin­sen des Schreck­ens, dabei vergesse man  nicht, daß neben den Scheit­er­haufen der bren­nen­den Büche zuweilen auch die Autoren bran­nten, im Angesicht der Ver­nich­tung ihrer Werke. Von anderen pein­lichen Bestra­fun­gen weiß Fuld auch zu bericht­en, die Geschichte der ver­bote­nen Gedanken, die in Büch­ern niedergelegt wur­den, ist voll davon. Aber geschadet hat es den Gedanken nicht, in der Regel war das ver­botene Werk ein begehrtes Werk.

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Ein­er der in Deutsch­land stets in die Ecke des spitzweghaft-pit­toresken gestell­ten Autoren ist Charles Dick­ens. Der Rest des Bil­dungs­bürg­er­tums noch “A Christ­mas Car­ol” und dann noch den Titel “David Cop­per­field” – alle anderen denken dabei eher an einen Las Vegas-Enter­tain­er, der ein­mal mit einem deutschen Modemäd­chen liiert gewe­sen sein soll. Aber im englis­chsprachi­gen Raum ist der Erzäh­ler und Romanci­er Charles Dick­ens ein Name wie Don­ner­hall. Er fehlt hierzu­lande, der Name wie das Werk.

In diese Lücke stößt Hans-Dieter Gelferts Biogra­phie des Englän­ders, die er zusam­men mit Matthias Göritz vorstellt. Im Pro­grammheft ste­ht etwas von Mod­er­a­tion. Das ist falsch. Der Autor und Dichter Göritz ist ein eben­bür­tiger Gesprächspart­ner des Berlin­er Lit­er­atur­pro­fes­sors. Was wie ein akademis­ch­er Dia­log daherkom­men mag, dazu noch in einem holzgetäfel­ten Vor­tragsraum der Staats- und Uni­ver­sitäts­bib­lio­thek mit dem Charme ein­er Anna-Viebrock-Bühne, ist in Wahrheit ein munteres Gespräch zweier Beschla­gen­er und Begeis­tert­er – der Dichter, der immer wieder aus Werk und Lit­er­atur extem­po­ri­ert und neue Bezüge schafft, und der Experte, der frei ste­hend im Saal erzählt und aus seinem Buch zitiert. Das ist keine Lesung, es geht nicht um das Buch, es geht um einen anderen Autor, dessen erzäh­lerische Meis­ter­schaft und sozial-dicht­en Gen­rebeschrei­bun­gen nicht nur die bei­den faszinieren. Dieser Autor muß gele­sen wer­den, auch in Deutsch­land.

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Volk­er Hinz, ein­er der wichtig­sten Pho­tographen der alten Bun­dere­pub­lik und viel­geehrt, hält Abstand. Ein paar Meter weit­er sitzt ein klein­er Greis, mit einem auf­fal­l­en­den weißen Voll­bart, einen braun­roten Sei­den­schal lock­er über dem schwarzen Anzug gehängt. Er erzählt, seine Sprache ist Franzö­sisch, um ihn herum sitzen ein paar Men­schen aus der Buch- und Ver­lagsszene, die ihm zuhören. Am näch­sten Tag wird seine Tochter ein Buch vorstellen, das Buch seines Lebens.

Der alte Mann ist Adol­fo Kamin­sky, geboren 1925, das Buch heißt “Ein Fälscher­leben”. Er hat ein Tal­ent – das Tal­ent, Papiere täuschend echt zu repro­duzieren. Adol­fo Kamin­sky war der Meis­ter­fälsch­er der Resis­tance, die Falschgeld­fab­rik der algerischen FLN, der Papierbeschaf­fer des Wider­stands gegen fast alle Ter­ror­regimes der Nachkriegszeit. Er ver­brachte sein halbes Leben damit, mit diesen Papieren Men­schen vor Ver­fol­gung und Bedro­hung zu ret­ten, aber nahm nie Geld dafür.

Seine Tochter Sarah ent­deck­te seine Ver­gan­gen­heit erst, als sie schon erwach­sen war, und schrieb dieses Buch. Er sagt zu den Umsitzen­den: “Vielle­icht hil­ft ihr das Buch und meine Frau muß nicht mehr so viel arbeit­en.” Ein paar­mal nur löst die Kam­era von Volk­er Hinz aus. Am näch­sten Tag, auf der Ver­anstal­tung, wird deut­lich, daß es nur Momente sind, die ein Men­schen­leben in die eine oder andere Rich­tung brin­gen. Heldengeschicht­en entste­hen nicht aus Absicht, sie passieren.

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“Da habe ich Hoff­nung“, meint der Autor und Jour­nal­ist Mar­tin Häus­sler. Er hat eine ganze Rei­he von mehr oder weniger bekan­nten Per­sön­lichkeit­en zum The­ma Angst befragt, her­aus­gekom­men sind erstaunliche Por­traits zu einem außeror­dentlich deutschen The­ma, das inzwis­chen sprich­wörtlich ist für eine bes­timmte Art der kollek­tiv­en Reak­tion und für das Zaud­ern angesichts großer The­men.

Seine Hoff­nung fußt, ein wenig dif­fus, auf dem Pub­lic-View­ing- und Atom­ausstiegs­deutsch­land, auf dem Quentchen Bewe­gung im gesellschaftlichen Gefüge, das er wahrzunehmen glaubt. So heißt denn sein Reportage­band auch “Fürchtet Euch nicht!” Seine Hoff­nung ist aller Ehren wert.

Glaubt man allerd­ings der Fam­i­lien­ther­a­peutin Gabriele Bar­ing, dann ist die Hoff­nung noch weit und der Deutsche hat noch viel zu tun in der Aufar­beitung sein­er per­sön­lichen wie gesellschaftlichen Äng­ste. Sie gehörte zu den Inter­viewten des Häus­sler-Buch­es und dieses Gespräch gab den Anstoß zu ihrem Buch “Die geheimen Äng­ste der Deutschen”. Gabriele Bar­ing ist eine vehe­mente Vertreterin ihrer The­sen und auch ihrer Ther­a­pierich­tung.

Sie ist Schü­lerin des umstrit­te­nen Bert Hellinger, dessen sys­temis­che Fam­i­lien­auf­stel­lun­gen kri­tis­che Geg­n­er­schaft her­vor­ruft. Fra­gen danach beant­wortet sie eher auswe­ichend, allerd­ings – ob nun das Gegen­mod­ell “Tetralem­maar­beit” oder Hellingers “Sys­temis­che Fam­i­lien­auf­stel­lung” – tut das der Grundthese ihres Buch­es keinen Abbruch.

Bar­ing hat in ihrer Prax­is mit vie­len Angst­phänome­nen zu tun gehabt, und sie beschreibt in vie­len Fall­beispie­len, wie sie durch ihre Auf­stel­lungsar­beit mehr und mehr an Überzeu­gung gewin­nt, alle diese Äng­ste seien inner­famil­iär über­tra­gen wor­den.

Ihr The­ma sind die Kriegsenkel, die dritte Gen­er­a­tion der­er, die ihr Leben unter dem Schat­ten bei­der Weltkriege, die von deutschem Boden aus­gin­gen, gestal­ten müssen. Gabriele Bar­ing sieht jene aktuellen Äng­ste, die in ihrer Arbeit behan­delt wer­den, in der Tra­di­tion der trau­ma­tisierten Vor­fahren – die Enkel müssen die Pho­bi­en der Kriegs­gen­er­a­tio­nen aufar­beit­en.

Diese Idee ist an sich nicht neu, schon vor 6 Jahren beschäftigte sich die Köl­ner Jour­nal­istin mit den “Kriegskindern” und den Fol­gen für die Nachge­bore­nen. Neu ist vor allem Bar­ings Analyse der gesellschaftlichen Sit­u­a­tion, deren Grund­lage all diese über­tra­ge­nen Trau­ma­ta sind – über­tra­gene Äng­ste als läh­mendes Moment der deutschen Gesellschaft. Möglicher­weise hat sie damit eines der wichtig­sten Sach­büch­er dieser Jahre geschrieben, allen dog­ma­tis­chen Dis­puten zum Trotz.

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Pirat­en, Pirat­en, Pirat­en. Natür­lich denkt man bei einem, der mal Wired-Redak­teur war, an die, die ein Dasein als Sys­temad­min­is­tra­toren haben und behaupten die Welt müsse trans­par­ent sein.

Und wenn dann der Roman auch noch eine Art Zukun­ftsvi­sion mit dig­i­taler Tech­nik ist, noch mehr – Sci­ence-Fic­tion oder so, irgend­wie cool, ein­er der über implantierte Kom­mu­nika­tion­sein­rich­tun­gen schreibt. Doch Ben­jamin Stein ist kein Nerd und sein klein­er Roman “Replay“, eigentlich eher eine Erzäh­lung, wider­set­zt sich hart­näck­ig den doofen Klis­chees, die man so gerne über Inter­net, Pro­gram­mier­er und all das dif­fuse Halb­wis­sen über und in der “Net­zwelt” ver­bre­it­en möchte.

Das Buch ist eine sprach­lich aus­ge­feilte Ver­such­sanord­nung zur Wirk­lichkeit und deren Wahrnehmung, Texte, die mit “Ich fürchte mich vor Erschei­n­un­gen, die ich nicht selb­st erfun­den habe” begin­nen, und damit ihre Bedeu­tungs-Welt in einem Satz einkreisen, gehören nicht zu den schlecht­esten. Und der Autor ist alles andere als eine Leit­fig­ur des zur Zeit Modis­chen.

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“Hi, i’m Bob.” Wer so hemd­särmelig von einem Nobel­preisträger begrüßt wird, weiß, es han­delt sich um genau die Spezies elo­quenter amerikanis­ch­er Wis­senschaftler, die der ern­st­nehmende Deutsche nicht ken­nen mag. Robert B. Laugh­lin hat 1998 einen Nobel­preis für Physik bekom­men und er hat ein Buch geschrieben, das sich mir den Energieprob­le­men der Zukun­ft beschäftigt.

Ein kurz­er Abriß – in der englis­chsprachi­gen Wis­senschaftswelt heißt so etwas “Abstract” – mit ein paar eingängi­gen Folien muß dem deutschen Pub­likum als Ein­führung in das The­ma reichen, dann geht es in die vom Wis­senschaft­sjour­nal­is­ten Ger­ald Trau­vet­ter (SPIEGEL) betreute Diskus­sion mit dem Pub­likum.

Die eben­falls geladenene Green­peace-Grün­derin, ehe­ma­lige nieder­säch­sis­che Umwelt­min­is­terin und jet­zige Kreuz­fahrer-Mitar­bei­t­erin Moni­ka Griefahn hat­te urplöt­zlich und völ­lig über­raschend erfahren, daß sie genau an diesem Abend an ein­er Preisver­lei­hung teil­nehmen müsse und kon­nte deshalb nicht an diesem Gespräch teil­nehmen.

Wobei Diskus­sion eigentlich zu viel gesagt ist, in klas­sisch sokratis­ch­er Frage- und Antwort­tech­nik nimmt “Bob” gerne ein­mal eine Frage vor­weg und beant­wortet sie gle­ich. Kurz und knapp geht der Physik­er die bekan­nten Energieerzeu­gungs­for­men mit seinem deutschen Pub­likum durch. Im Grunde sei das Gros der Energiegewin­nung ja nur “Feuer”, also die Umwand­lung von einem in den anderen Aggre­gatzu­s­tand, meint er, nichts Neues seit der Steinzeit, auch die Atom­en­ergie fiele darunter. Die mache im übri­gen unan­genehmen Müll, den man nicht weg­bekomme, das andere “Zeug” CO².

Winden­ergie sei pri­ma, aber wehen täte ja auch nicht immer und der Energiebe­darf mod­ern­er Indus­triege­sellschaften sei eben kon­stant. Ein paar zaghafte Ein­würfe kom­men aus dem Pub­likum, ein paar der nicht ganz so wüten­den Energiekonz­ernkri­tik­er haben sich offen­bar in die Ver­anstal­tung gewagt. Und was denn mit Gezeit­enkraftwerken sei, fragt da ein­er.

Liegt ja auch nahe, schließlich ist das Wass­er nie weit ent­fer­nt in Ham­burg. Ja, das sei eine gute Idee, meint der Physik­er. Man wisse ja, daß die Erdro­ta­tion von der beweglichen Masse des Wassers auf der Erde abhängig sei, verur­sacht durch die Anziehungskraft des Mon­des. Entziehe man diese Energie, würde sich die Erdro­ta­tion ein­fach ver­langsamen. Das sei physikalis­ches Gesetz. Sie scheint nicht so ein­fach zu sein, die Sache mit der Energie, da müssen wir uns wohl noch was ein­fall­en lassen.

And the first one now/Will lat­er be last/For the times they are a‑changin’.

Und falls jemand fragt, ja, es ist Dylan.

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