Die Welt ist eine Bühne, hat einmal ein bekannter Theaterautor behauptet. Dieser Dezembertag in der Mönckebergstraße gibt ihm Recht: Budenzauber, Laufsteg-Feeling für Barmbeker Bummel-Beautys, Schneeflockenzauber wie von Disney inszeniert. Selbst drei selbsternannte Donkosaken haben sich auf den Stufen eines Billigschuhladens eingefunden und schmettern hingebungsvoll große russische Gefühle ins hanseatische Grau-in-Grau. Drinnen, im Passage-Kino, geht’s gerade so weiter: Goldene Seidentapeten, Kristalllüster wie aus dem Wirtschaftswunder-Grandhotel, der Drink zum Film: “Krimsekt fünf Euro!” So eingestimmt, ist man wenig überrascht, als die Theatralik auf der Leinwand ihre Fortsetzung findet: Gleich in der ersten Einstellung steht dort eine von goldenen Säulen eingerahmte Bühne im Stil der vorletzten Jahrhundertwende, mit einem schwerer Brokatvorhang, der sich langsam hebt. Großer Auftritt für Anna Karenina.
Kaum ein Bild könnte passender sein. Der britische Regisseur Joe Wright, der sich schon früher als Choreograph ambitionierter Literaturverfilmungen einen Namen gemacht hat, sperrt die tragische Ehebrecherin Anna (Keira Knightley) mitsamt dem ganzen Ensemble von Figuren in ein historisches Theater ein. Aber es bleibt nicht bei der Bühne als Schauplatz: Wright bespielt das ganze Haus, vom Zuschauerraum bis auf den Schnürboden, wo die Figuren gelegentlich verloren umherirren wie zwischen den Takelagen eines Geisterschiffes und verwundert auf die zweidimensionalen Kulissen ihrer Welt herabblicken.
Dieser Nostalgie-Jahrmarkt-Look passt nicht nur perfekt zur Weihnachtszeit, wenn sich auch erwachsene Menschen mit erwachsenem Geschmack gerne mal ins Zauber-Internat oder nach Mittelerde beamen. Die optische Grundidee des Films, ein Wechselspiel von Opulenz und Begrenzung, illustriert auch auf hintersinnige Weise den Grundkonflikt der Figur. Anna Karenina stirbt an der Schönheit, am sprichwörtlichen goldenen Käfig. Sie weiß nicht, wohin mit ihrer Leidenschaft und Körperlichkeit, die den strengen Rahmen ihrer Gesellschaft sprengt.
Gottseidank macht der Film nicht den Fehler, dem Theater-Regisseure gerne erliegen, wenn sie Stoffe aus dem 19. Jahrhundert auf die Bühne bringen: An keiner Stelle versucht Joe Wright, dieses sehr zeit- und gesellschaftstypische Drama zu modernisieren. Nein, er hebt den Stoff auf die einzige Ebene, auf die er gehört: ins Märchenhafte, Phantastische. Schon die erste Szene gibt den Grundton vor: Da wird Graf Oblonskij nicht einfach rasiert, sondern eine Art Kreuzung aus Torero und Barbier geht ihm mit einem langen Messer an den Kragen. Alltagsvorrichtung als Gipfel der Dramatik, inklusive Over-Acting wie einst im Stummfilm. In solchen Bildern schwelgen – das kann man am schönsten, wenn draußen vor der Tür der Glühwein ausgeschenkt wird.
Aus der Begrenzung, der Rahmensetzung durch die Theaterkulisse, schlägt der Film immer wieder seine Funken – und was für welche! Denn gerade, weil er die selbst geschaffene Illusion immer wieder durchbricht, weil er die Mechanik des Theaters so offensiv ausstellt, ist auch jeder Griff in die Trickkiste erlaubt. Der Zuschauer versteht sofort: Diese höchst artifizielle Welt funktioniert nach ihren eigenen Regeln. Etwa, wenn sich Oberst Wronskij (Aaron Taylor-Johnson) auf dem schicksalshaften Ball von der schmachtend verliebten höheren Tochter Kitty ab- und der begehrenswert verheirateten Anna zuwendet: Als sie sich im Tanz zum ersten Mal ihre erotische Anziehung eingesteht, frieren alle anderen Ballgäste um Wronskij und Anna herum in der Bewegung ein. Das Gefühl, zu zweit allein auf der Welt zu sein, in einer sinnlichen Blase vom Rest getrennt. Auch später im Film wird Anna sich wieder zwischen erstarrten Figuren bewegen. Allein. Wenn sie aufs Grausamste isoliert und ausgestoßen ist, von ihrer Familie und der besseren Petersburger Gesellschaft geschnitten.
Nur ein Höhepunkt aus einer ganzen Reihe optischer Spielereien, die auch sattgesehenste Kinogänger verzaubern können: etwa, wie Annas nervöser Fächerschlag den Takt für ein Pferderennen vorgibt, wie die Fetzen eines Briefes zu Schneeflocken vor gemalter Zwiebelturm-Winterkulisse werden, wie Büroangestellte ein Ballett für Stempelkissen und Dokumentenstapel aufführen. Oder wie eine Spielzeug-Dampflok zu jenem Zug wird, in dem Anna ihrer ersten Begegnung mit ihrem Geliebten entgegen fährt. Um so eindrucksvoller wirkt die wuchtige Schlichtheit an anderer Stelle – Annas Mann Karenin (Jude Law), der einen einzelnen Korbsessel an die beleuchtete Bühnenrampe zieht und sich gebrochen darin niederlässt, als er vom Betrug seiner Frau erfährt.
Nicht nur die Innenräume sind artifiziell, das Außen nicht minder. Zwar steht die Natur in starkem Kontrast zu den überladenen, düsteren Dekors: luftig, leicht, pastellfarben. Auf den zweiten Blick irritiert das aber mindestens ebenso: Der Heuhaufen, in dem Naturfreund Lewin schläft, sieht aus wie von Monet gemalt, beim Anblick der Winterlandschaft denkt man sofort an die Balalaika-Melodie aus “Dr. Schiwago”.
Doch erstaunlicherweise wirkt diese weichgezeichnete David-Hamilton-Ästhetik nicht kitschig, sondern eher wie ein Hinweis: Auch die Natur ist Teil dieser hermetischen Welt. Zwar kann man nach dem Frühstück im Grünen nach Herzenslust vögeln, aber innerhalb des Systems bleibt nichts ungestraft. Auch wenn sich die Bühne wie von Zauberhand gelegentlich ins Freie öffnet: kein Ausgang, nirgends. Eine Truman-Show mit Fin-de-Siècle-Flair.
Trotz der ungebrochen nostalgischen Ausstattung hat Joe Wright in seinem Film auf raffinierte Weise eines der kniffligsten Probleme der Klassiker-Adaption gelöst: Tempo hineinzubringen in eine Geschichte, die in Romanform eines der schönsten Beispiele dafür ist, wie anders, wie episch und naturgemäß unfilmisch im 19. Jahrhundert erzählt wurde. Tolstois Wälzer beginnt zwar fulminant: mit einem Star aus der Hall of Fame der Roman-Anfangssätze (“Alle glücklichen Familien gleichen einander, alle unglücklichen Familien sind auf ihre Art unglücklich”), mit Ehebruch und Aufruhr. Aber dann lässt er sich buchstäblich alle Zeit der Welt.
Die Titelheldin selbst taucht erst nach etwa 50 von 800 Seiten überhaupt auf, und gerne wird die Spannung unterbrochen durch seitenlange Diskurse über die Stellung des russischen Bauern nach Ende der Leibeigenschaft. Literatur aus einer Zeit, in der die Dampflok zwischen Moskau und Petersburg der Inbegriff von Geschwindigkeit war. Wright macht den angestaubten Stoff DSL-kompatibel: Seine Anna Karenina hat die Rasanz eines Action Movies, sorgsam kontrapunktiert mit Momenten größter Ruhe. Dadurch ist er nicht nur einfach an moderne Sehgewohnheiten angepasst, er rast auch mit absolut passendem Tempo dem bekannten Unhappy End entgegen. Eine Frau, ausgezogen, um die Sinnlichkeit zu finden, trudelt unaufhaltsam schneller werdend dem Abgrund entgegen, tauscht die bukolische Sommerwiese gegen einen Eispalast mit kaltblauer Seidentapete, die Spielzeuglok des geliebten Sohnes gegen eine echte Lok, von der sie sich überrollen lässt.
Die ganze Inszenierung, so gut die Kombination aus Action-Tempo und Patina funktioniert, hat nur einen Nachteil: Die Figuren wirken manchmal selbst wie aus dem Marionetten-Kabinett. Schade. Dabei wären mit Keira Knightley und Jude Law zwei Schauspieler am Start, die deutlich mehr könnten, als gequälte Stummfilmtränen zu vergießen (sie) oder den stocksteifen Beamten ohne Unterleib, aber mit Rückgrat zu mimen (er). Wobei der ewige Beau Jude Law als Pflichtmensch Karenin durchaus eine gelungene Besetzung ist. So ganz versteht man auch nicht, warum Anna sich ausgerechnet für diesen Wronskij ins Unglück stürzt, der aussieht wie eine Kreuzung aus Operettenprinz und 80er-Jahre-Animateur, inklusive Minipli plus Schnauzer. Mangel an anderer Gelegenheit? Langeweile? Annas Schwägerin Dolly gibt in einem Anflug von Offenheit zu, dass auch sie sich nach einem Schuss Dramatik in ihrem Leben gesehnt hätte: “Ich hätte dasselbe getan wie du, aber mich hat ja keiner gefragt. Und ich hätte vielleicht auch nicht den Mut gehabt.”
Vielleicht die schönste Szene des Films ist die allerletzte. Da läuft ein kleines Mädchen durch winddurchwogte Wiesenblumen, die ihr fast über den Kopf wachsen. Das ist Anna Kareninas Tochter. Sie lacht und freut sich ihres Versteckspiels, bis sie vom großen Bruder gepackt und zur Räson gebracht wird. Erst in der Totale sehen wir, wie dieses kleine Mädchen mit seiner kindlichen Lust buchstäblich den Rahmen sprengt: Die wogenden Wiesenblumen wuchern bis in den Zuschauerraum, das Kino-Theater wirkt plötzlich wie eine Ruinenstadt, die von der Natur zurückerobert worden ist. Ein Hoffnungsschimmer, dass aus dieser alten Ordnung doch etwas Neues, Lebendiges entstehen könnte, auch wenn es vielleicht nur eine Märchenkindheit lang dauert.
Vater Karenin bekommt nur am Rande mit, was passiert, er sitzt inmitten der wogenden Wiese auf einem Gartenstuhl und liest ein Buch. Nur sehr unwillig blickt er auf. Lesen, neben dem Kino wohl die schönste Möglichkeit, der Begrenzung des eigenen Alltags zu entkommen. Man hätte gerne gewusst, in welche Geschichte er sich gerade flüchtet.
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