Ist Pop Kunst? Ist Kunst Pop? Oder beides? Ewige Fragen hat sich das diesjährige Dockville-Festival in Hamburg ausgesucht, gar Kierkegaard zitiert. HHF-Autorin Mila Heckmann stand an diesem einen heißen Sommerwochenende, das das Jahr bislang zu bieten hatte, im Staub des Hamburger Hafens und hat sich Fragen und möglichen Antworten gestellt.
Wo beginnt der Rahmen, der Dinge in Kunst transformiert?
Blauer Himmel und Sonnenschein. Festivalwetter! Doch ist es kein bloßes Musikfestival, was dort in Wilhelmsburg stattfindet. Die Initiatoren des MS Dockville haben sich auf die Fahnen geschrieben Kunst und Musik in Einklang zu bringen.
Bereits drei Wochen vor dem Musikfestival am zweiten Augustwochenende das Kunstcamp. Dieses Jahr unter dem Motto “Entweder. Oder”. Die Künstler stellten dabei Fragen an die Besucher, die beim Spaziergang über das Gelände zur Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk oder der Institution DOCKVILLE anregen sollten.
Was ist die Beziehung zwischen Kunst und Leben?
“Das ist hier wie auf einem großen Kinderspielplatz”, sagt meine Begleitung. Und er hat Recht. Zusammengezimmerte Hütten, Baumhäuser, Schaukeln aus Strohballen. “Kommt, gleich ist Wasserbombenschlacht auf der Autobahn”, wird mir zugerufen.
Die Autobahn ist ein maßstabgetreuer Ausschnitt einer deutschen Autobahn von den Künstlern Ole Utikal und Hannes Mussbach. Überall glitzert es, Luftballons fliegen umher und Seifenblasen werden in das Licht der Abendsonne geblasen. Die “Torte”, eine neue Bühne, wurde von Tobias Großer aus einem Bühnenbild des Hamburger Schauspielhauses gebaut und mit Sahnehäubchen und Rosendekor verziert.
Alles ganz schön bunt hier, aber es macht Spaß. Und das strahlt auch auf das Publikum ab. Dazu passen am frühen Sonntagabend die jungen Norweger von Team Me mit ihren Handclaps, saubererem Chorgesang und flotten Melodien. Das Sextett verbindet Indie-Pop mit klassischen Folkanklängen auf eine liebenswert spielerische Weise, so dass das Publikum diese norwegischen Frohnaturen schnell in ihr Herz schließt. Aber nach 40 Minuten ist dieses Fest schon mit Abschuss der Konfettikanone vorbei.
In welche Richtung müssen wir schauen?
Die Kulisse ist der Hauptdarsteller des MS Dockville. Der Blick auf den angeleuchteten Rethe-Speicher in der Nacht ist wohl eines der meistfotografierten Motive auf dem Festival. Als ein leerer Containerfrachter in nur 20 Meter Entfernung am Gelände vorbeifährt und sein Horn betätigt, jubeln die Besucher. Zwischen Containern, Speichern und Kränen kommt eine gewisse Hafenromatik auf.
Diesen Ausblick haben James Blake, Hot Chip oder Maximo Park als sie auf der Hauptbühne, dem “Großschot”, stehen. Drei große Namen der letzten Jahre in der britischen Musikszene, viele Besucher sind wegen ihnen zum Festival gekommen. Während bei Hot Chip und Maximo Park am Freitag der Sound von der Bühne noch recht zaghaft daherkommt, wurde bei James Blake am Samstag noch einmal ordentlich nachgebessert.
Wie kreuzt man Literatur und Kunst auf einem Musikfestival?
Oder, was macht ein russischer Roman des 19. Jahrhunderts auf unserem Armen und Beinen?
Das Hamburger Künstlerkollektiv “Krautzungen” hat in einer Art Grenzstation Posten bezogen. Sie haben das Ziel Tolstois “Krieg und Frieden” Zeile für Zeile auf die Festivalteilbesucher zu schreiben.
Die temporären Tattoos mit schwarzem Stift, die Arme, Hälse und Beine der Festivalbesucher schmücken fallen auf und machen neugierig. Ich mache mit und meine Hand ziert für den Rest des Abends “War gerade in dem lieblichen Alter- S. 50”. Auf dem Gelände verstreute Romanfragmente und im Internet fotografisch wieder zusammengefügt
Plagiat oder Revolution?
Im Sonnenschein und allgemeiner heiterer Sommerstimmung hatten Misteur Valaire leichtes Spiel bei den Zuhörern. Eine heitere Truppe fünf junger Männer aus dem kanadischen Montreal, die mit Trompete, Sequenzer, Percussions, Turntables, Schlagzeug, Bass und Keyboards in sämtlichen Musikstilen wildern.
Das ist weder Elektro, noch Hip-Hop, Jazz oder Rock. Da darf dann auch mal aus heiterem Himmel Whitney Houstons “I will always love you” vom Band intonieren, bevor der Tanz-Beat wieder angestimmt wird. Bei den vielen recht ähnlich klingenden Elektro-Pop Bands an diesem Wochenende, wurde man hier durch diese musikalische Wundertüte doch auf angenehme Weise überrascht.
Warum möchte jeder sichtbar sein?
Freitag ca. 2 Uhr nachts auf der Bühne “Butterland”. Aérea Negrot erscheint im Paillettenkleid und trägt eine Kopfbedeckung, die im Scheinwerferlicht wie die Schlangen der Medusa aussehen. Zu elektronischen Beats lässt sie ihre Stimme Nina Hagen-esque durch sämtliche Tonarten wandern. Ihre Bewegungen wirken wie eine Voodoozeremonie. Diese Frau ist überragende Erscheinung auf der kleinen Bühne.
Derselbe Ort, dieselbe Uhrzeit, einen Abend später. Wabernde tiefe Bässe und spärliche Beleuchtung. Inmitten der Nacht steht der Künstler “Holy Other”. Er gibt sich mysteriös und hat sein Gesicht mit einem schwarzen Stofftuch umhüllt. Alles, was er in diesem Moment von sich preisgibt sind seine sphärischen Klänge. Man weiß von ihm keinen Namen und man kennt nicht einmal sein Gesicht.
Sind wir sicher, dass das, was wir sehen, das ist was wir denken zu sehen?
“Der hat ja graue Haare bekommen”, sagt jemand laut neben mir und meint damit Dirk von Lowtzow. Tocotronic sind am letzen Tag der Headliner und der Abschluss des Programms auf der Hauptbühne. Sie fangen gleich mit “Freiburg” an, dem ersten Song ihrer ersten Platte von 1995. “Ich bin alleine und ich weiß es und ich find es sogar cool. Und ihr demonstriert Verbrüderung”, eine überragende Textzeile.
Doch an diesem Abend mag der Funke zumindest bei mir nicht so recht überspringen. Ich möchte mir die ausgelassene Stimmung nicht vermiesen lassen und beschließe, dass das Festival damit für mich vorbei ist und trete dem Heimweg mit der S‑Bahn zurück an.
Kann durch Versagen auch Potential entstehen?
Im letzten Jahr war der Boden des Festivalgeländes durch anhaltenden Regen derart aufgeweicht, dass es von den Besuchern kurzerhand in “Schlammville” umgetauft wurde. Wege waren nicht begehbar und Bühnen zeitweise nicht bespielbar.
Dieses Jahr hatten die Organisatoren das Wetter auf ihrer Seite, sie konnten ein wunderbares Festival auf die Beine stellen. Im Gegensatz zu anderen Festivals dieser Größenordnung hat der Besucher hier nicht das Gefühl bloß ein zahlender Konsument zu sein. Wenn man sich darauf einlassen möchte, wird man hier noch zum mitdenken und mitmachen angeregt.
Was bleibt übrig?
“Dockville muss raus” hieß es noch vor ein paar Wochen, und “Dockville darf doch bleiben” war die Nachricht kurz vor dem Festival.
Wie lange noch? Im Moment ist die Nutzung des Geländes für das Festival noch bis 2014 zugesichert. Doch wie wird es dort im nächsten Jahr aussehen? Das MS Dockville Gelände am Reiherstieg war von Anfang an einem ständigen Wandel ausgesetzt. Die Internationale Gartenschau, die 2013 in Wilhelmsburg stattfinden wird, klopft auch schon an die Tür.
Das Festival hat das Glück – denn sonst würde es nicht existieren — und gleichzeitig das Unglück auf einer Insel verortet zu sein, die von der Stadtpolitik dazu auserkoren wurde, umgestaltet und, wie man es so schön nennt, “aufgewertet” zu werden.
Ist der Kontext relevant für die Kunstproduktion? Kann sie in universellen Ebenen existieren, kann sie sich unabhängig von ihrer Umgebung machen, oder wird sie ständig wieder aktualisiert?
Ich komme nächstes Jahr gerne wieder vorbei, um zu schauen, ob ich dann auch diese Frage beantworten kann. Entweder … oder …?
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