Vorab eine Warnung: Dieser Abend könnte dazu führen, dass Sie sich plötzlich mit Menschen, die Sie zu kennen glauben, in heftigen Diskussionen wiederfinden. Es könnte passieren, dass Sie nach dem Theater bei mehreren Gläsern Wein über angeblich unverrückbare Grundprinzipien unserer Verfassung streiten, über Moral und Eigenverantwortlichkeit. Aber vor allem könnte es geschehen, dass Sie die Menschen, mit denen Sie im Deutschen Schauspielhaus waren, in neuen Facetten erleben. Kurzum: Ferdinand von Schirachs »Terror«, derzeit deutschlandweit auf vielen Spielplänen, packt ein heißes Eisen an.
Lars Koch (Jonas Hien), ein junger Pilot eines Bundeswehr-Kampfjets, ist wegen Mordes an 164 Menschen angeklagt. Er hat gegen den Befehl seines Vorgesetzten gehandelt, indem er ein entführtes Flugzeug mit 164 Insassen abschoss. Die Maschine in der Gewalt eines Terroristen hatte Kurs auf ein vollbesetztes Fußballstadion genommen, Lars Koch wollte mit dem Abschuss des Passagierflugzeugs ein noch größeres Unglück verhindern. Jurist und Autor Ferdinand von Schirach lässt in seinem modernen Gerichtsdrama die Grauzonen moralischen Denkens zu Tage treten. Er spielt eine Situation durch, die die Grundfeste unseres Rechtssystems auf eine harte Probe stellt. Was zählt mehr: die Anzahl der Opfer, die durch einen Abschuss vermieden werden kann, oder der Schutz des einzelnen Individuums?
Von Schirachs Szenario ist so einfach wie wirkungsvoll. Der Angeklagte mit seinem Verteidiger (am Premierenabend Markus John) steht der Staatsanwaltschaft (Karoline Bär) und einer Nebenklägerin gegenüber. Jene Nebenklägerin (Gala Othero Winter) ist die Frau eines der verstorbenen Flugzeuginsassen, der ihr kurz zuvor per SMS geschrieben hatte, dass er und einige Mitpassagiere versuchen würden, das Cockpit zu entern, um den Entführer zu überwältigen. Ein kluger dramaturgischer Kniff von Schirachs, denn die Nebenfigur verschärft den Konflikt, macht die Insassen der Maschine menschlich, indem sie der nüchternen Zahl ein Gesicht gibt.
Umso wichtiger, diese abstrakte Situation greifbar zu machen, als das Publikum als Schöffen geladen ist. Als Vorsitzende der Verhandlung tritt Anja Laïs zu Beginn des Abends an die Rampe und blickt ruhig in den vollbesetzten, hell erleuchteten Zuschauerraum. Die Schöffen mögen ihre Verantwortung ernst nehmen, ruhig und gelassen urteilen, bittet sie. “Bleiben Sie bei Ihrem Urteil selbst Menschen”, sagt sie und eröffnet das Verfahren.
In den Zeugenstand tritt Christian Lauterbach (Andreas Grötzinger), am Tag des Unglücks “DC” oder, wie er auf Nachfrage erläutert, “Duty Controller”, der als Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums den Luftraum beobachtet hat. An besagtem Tag meldete er “Renegade” ins Verteidigungsministerium, also einen Fall von Terrorismus. Der Zeuge erläutert, dass die Alarmrotte, deren Pilot der Angeklagte war, Sichtkontakt mit dem Flugzeug aufnehmen und einen Warnschuss abgeben sollte. Den Abschuss der Maschine hingegen habe die Verteidigungsministerin auch auf mehrfache Nachfrage abgelehnt.
So klar, so simpel wäre das Urteil. Der Angeklagte hat den Nichtabschuss-Befehl missachtet und ist somit vor dem Gesetz schuldig. Die Rechtslage hingegen ist komplex. Das Luftsicherheitsgesetz, das 2005 gegen Flugzeugentführungen, terroristische Anschläge und Sabotageakte im Luftverkehr in Kraft getreten war, wurde bereits ein Jahr später für verfassungswidrig erklärt. Es hatte als äußerste Maßnahme eine Abschussbefugnis im Fall von Renegades vorgesehen. 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das Gesetz dem Grundrecht auf Leben widerspräche, gegen die Menschenwürde verstoße und somit verfassungswidrig und nichtig sei.
Als der Angeklagte in den Zeugenstand tritt, wird schnell klar, dass Kampfpiloten diese schlimmstmögliche Situation in Friedenszeiten mit kühlem Kopf prüfen, die Rechtslage mit Freunden, Kollegen und Familie diskutieren. Koch hatte, so wird in der Befragung deutlich, bereits ein Referat zum Luftsicherheitsgesetz vor jungen Kampfpiloten gehalten, in dem er den Standpunkt vertrat, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei falsch. Trotzdem oder – so fragt man sich, gerade deswegen? – hatte man ihn in der Kampfrotte fliegen lassen.
Der Abend wirft viele dieser Fragen auf, an deren Beantwortung wir von Mal zu Mal erneut scheitern. Er begibt sich tief in die Gedankenexperimente der Rechtsphilosophie. Die Dramaturgie der wechselnden Sympathien beherrscht von Schirach perfekt. “Wir müssen akzeptieren, dass es keine Sicherheit in gesetzlichen Fragen gibt”, argumentiert die Verteidigung. “Wir brauchen etwas Verlässliches, wir brauchen Prinzipien”, kontert die Anklage: “Diese haben wir uns selbst gegeben. Es ist unsere Verfassung.” Der Verteidiger wiederum setzt dem entgegen, kein Prinzip könne wichtiger sein, als 70.000 Menschen zu retten.
Ist ein einziges Leben ebenso viel wert wie das von 100.000 Menschen? Ist ein kleineres Übel einem größeren vorzuziehen? “Ihre Beratung wird sich mit der Entscheidung befassen, ob der Angeklagte das Recht hatte, das Recht zu brechen.” Damit entlässt die Vorsitzende das Publikum in die Abstimmung. Der Abend hat zwei mögliche Ausgänge. Das Publikum entscheidet, welchen es sehen wird.
Am Deutschen Schauspielhaus hat man sich entschieden, das Stück als szenische Lesung zu zeigen. Jörg Bochow und Rita Thiele haben von Schirachs Text mit den Schauspielern zusammen eingerichtet. Das Ensemble darf mit Textkladde auf die Bühne und beispielsweise bei den Plädoyers einen Blick hineinwerfen. Ein moderates Mittel, das den Gedankengängen des Textes nicht abträglich ist. Hier braucht es keine voll ausgearbeitete Inszenierung, lediglich die Konzentration auf die Sachlage und ausgezeichnete Schauspieler, die sich in den Konzepten ihrer Figuren sicher bewegen – auch wenn der Text nicht zu 100 Prozent im Kopf ist.
Das ein oder andere theatrale Mittel nimmt dem Abend das pur Protokollarische, unterstreicht aber trotzdem den Dokumentarcharakter. Wenn die Zeugen befragt werden, stehen sie mit dem Rücken zum Publikum, den Blick auf die Vorsitzende – und in eine Kamera – gerichtet. Die Projektion einzig des Gesichts des jeweils Befragten oberhalb des Bühnengeschehens, ist stark und lässt Raum für subtil gespielte Emotion. Es gibt Texte, die brauchen keine entschiedene Regiehandschrift, sondern einzig eine kluge und bedächtige Schauspielerführung. Zwei Wochen Probenzeit hatte das “Terror”-Ensemble und meistert diese Herausforderung mit Bravour. Ein aktueller Text lässt sich so in Spielplänen ungeplant einschieben. Funktioniert einwandfrei.
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