Sie ist eine der profiliertesten Literaturvermittlerinnen im deutschen Norden: Kulturveranstalterin Barbara Heine ist seit Jahren in Sachen Lesekultur unterwegs. Sie kuratierte mehr als 10 Jahre das Programm des Literaturfestivals “Lesetage”, zeichnet verantwortlich für die NDR Reihe “Der Norden liest” und entwickelte für die Nordkirche das Literatur- und Wissenschaftsfestival “Martinstage”. Im Rundfunksender NDR 90,3 gibt sie regelmäßig Lesetips in der Sendung “Treffpunkt/Kultur”. Hier ist ihre subjektive Leseliste aus der letzten Sendung vom 20. Dezember, für all die eilenden Kurzentschlossenen vor dem Fest und jene, die zwischen den Jahren noch etwas Neues lesen wollen:
Volker Weidermann
Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen
Kiepenheuer & Witsch, 22 Euro.
Einen verrückten Moment lang, nach dem 1. Weltkrieg, zwischen Herbst 2018 und Frühjahr 2019, sah es so aus, als ob in Deutschland einige Dichter an die Macht hätten kommen könnten und ihre Ideen von Pazifismus, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit verwirklichen. Die Rede ist von der Münchner Räterepublik und Figuren wie Gustav Landauer, Erich Mühsam oder Ernst Toller. Zeitsprung: Landauer 1919 in der Haft ermordet, Mühsam — 1934 im KZ Oranienburg gestorben, Toller — 1945 Selbstmord in den USA.
Wie schon in “Ostende”, seinem Buch über die deutschen Exilierten 1936 bringt uns Volker Weidermann hier die deutsche Literaturgeschichte nahe als die Geschichten von Menschen, die Literatur machen – und Geschichte. In einer Zeit, in der die Poesie wenig Stimme hat in unserer Gesellschaft berührt der verzweifelt-idealistische Kampf der Poeten, die Wirklichkeit mitzugestalten.
Jürgen Neffe
Marx. Der Unvollendete
C. Bertelsmann, 28 Euro
Dass Marx’ Gedankengut interessanter ist als seine vermeintliche Realisierung in den Arbeiter- und Bauernstaaten, das haben wir schon länger geahnt. Er hat den Zusammenhang zwischen Geld und Gewalt analysiert, die Macht der Waren und die Krise als Normalfall des Kapitalismus. Wie dichtete Wolf Biermann schon 1974: „Karl Marx, der Revolutionär / hat großes Glück: er lebt nicht mehr / denn wenn er heut am Leben wär/ — Genosse meiner Trauer -/ Dann lebte er nicht lange mehr / man zöge ihn aus dem Verkehr“
Zu Marx’ 200stem Geburtstag im Mai 2018 ist einiges an Publikationen zu erwarten. Im Kino lief “Der junge Karl Marx” mit August Diehl als Karl Marx und Stefan Konarske als Friedrich Engels. Thomas Steinfeld von der SZ schreibt vom “Herrn der Gespenster”. Mit “Und Marx stand still in Darwins Garten” schaffte es Ilona Jerger bereits auf die Spiegel-Bestseller-Liste. Und von Dietmar Dath wird bei Reclam 2018 ein persönlicher Essay erscheinen. Und warum jetzt Jürgen Neffes 600-seitige Marx-Biografie lesen? Weil er uns vorher schon Einstein und Darwin nahegebracht hat. Weil er verdammt gut schreibt. Und weil das genau die richtige Lektüre ist, um uns über über die Weihnachtsferien und ins neue Jahr zu transportieren. In ein neues Jahr, von dem wir alle ahnen, dass es uns einiges an Umdenken abverlangen wird. Und da kann ein paar Tage historisches Probehandeln ja nichts schaden.
Robert Harris
München
Heyne Verlag, 22 Euro
“Peace for our Time”, das ist der legendäre Ausruf, mit dem Neville Chamberlain 1938 das Ergebnis der Münchner Verhandlungen mit Hitler bejubelte. Hitler hatte den Konflikt um die Autonomie der Sudetendeutschen gezielt zu einem internationalen Konflikt eskaliert. Die Briten waren kriegsmüde und froh, gemeinsam mit den Italienern und den Franzosen den drohenden nächsten Weltkrieg erstmal abgewendet zu haben – indem sie Hitler-Deutschland das Sudetenland überließen. Ihre “Appeasement”-Politik half aber leider wenig, denn ein Jahr später marschierten die Deutschen in Polen ein.
Die Jahreszahl 2018 gibt einiges an historischen Bezügen her. Und so labil wie sich die Situation gerade anfühlt – wie geht man mit Erdogan um, mit Assad und mit anderen Kollegen ihres Kalibers, wie kompromissbereit ist man, wo muss man — notfalls auch militärisch — Einhalt gebieten, da stellen sich neben den numerischen auch die inhaltlichen Bezüge fast von selbst ein. Wobei ich ehrlicherweise sagen muss, die Lektüre führt diesmal durch ungewohnt schwergängiges Gelände. Robert-Harris’ Cicero-Trilogie habe ich verschlungen. Bei “München” fällt es mir doch etwas schwer, die vielen Figuren auseinanderzuhalten, die ins diplomatischen Ränkespiel verstrickt sind. Aber es lohnt sich durchzuhalten, nicht zuletzt weil es interessant ist, deutsche Figuren wie Ernst von Weizsäcker einmal durch englische Augen zu sehen.
Jan Fleischhauer
Alles ist besser als noch ein Tag mit Dir. Roman über die Liebe, ihr Ende und das Leben danach
Knaus Verlag, 20 Euro
Der bekannte Spiegel-Journalist Jan Fleischhauer schreibt über das Thema Scheidung, weil er sich damit jetzt auskennt. Nachdem er „Unter Linken“ gelebt hat, nun die Niederungen seines Ehe-Endes. Und das beschreibt er, glücklicherweise, mit viel Humor, denn seine Vorbilder sind die US-amerikanische Autorin Nora Ephron mit ihrem Scheidungsroman “Sodbrennen”. Wir begrüßen mit Fleischhauer das jetzt in Deutschland angekommene neue Genre des: “Ich habe aus meinen Fehlern gelernt und bin jetzt wieder auf dem Markt”-Männer-Romans.
Es ist ja ein bisschen gemein, dieses Buch zu Weihnachten zu empfehlen. Aber da wir alle schon erwachsen sind, wissen wir, dass gerade die Weihnachtstage durch ihre Konfrontation von Idealen und Realität reichlich Zündstoff bieten. Es könnte also befreiend wirken, sich Jan Fleischhauers Scheidungs-Roman zu Gemüte zu führen. Anders als etwa Michalis Pantelouris “Liebe zukünftige Lieblingsfrau”, ist Fleischhauers Buch mutmaßlich keins, das die Frauen lieben werden. Aber dafür möglicherweise eine interessante bis lehrreiche Lektüre für den Mann an ihrer Seite. “Es ist die größte Katastrophe im Leben, die einen ereilen kann, von Unfällen und schweren Krankheiten einmal abgesehen“ sagt Fleischhauer. „Was die Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens angeht, ist sie auch die gewöhnlichste. Vielleicht wird sie deshalb so oft unterschätzt.”
Melissa Forti
Dolci, Zartes und zauberhafte Kuchen
Prestel, 32 Euro
“Mehr Italien kann man in ein Stück Kuchen nicht reinbacken”, sagt Tim Mälzer über Melissa Fortis “Backhandschrift”. Er ist beeindruckt von ihrer Weltoffenheit, Herzlichkeit, ihrem mondänen Stil und ihrer Lebenslust. Die beiden kennen sich aus Sarzana, zwischen Cinque Terre und der Toskana, wo Melissa Forti im historischen Zentrum “Melissa’s Tea Room & Cakes” betreibt: Morgens backt sie, nachmittags verkauft sie. Internationales, Italienisches und eigene Kreationen.
Das Buch liegt gut in der Hand, ist angenehm anzufassen und appetitanregend illustriert. Und wer jemals Weihnachten oder Neujahr im Süden verbracht hat und sich danach zurück sehnt, kann mit Melissa Fortis Weihnachtsrezepten etwas Leichtigkeit und ein paar Sonnenstrahlen ins deutsche Wohnzimmer zaubern. Ob mit Lavendel-Honig-Torte, Zitronen-Thymian-Kuchen oder gewürztem Festtagskuchen. – Übrigens: Wie die Gerüchteküche es will, soll Melissa Forti zur Zeit ein Domizil in Hamburg suchen.
Jennifer Ackermann
Die Genies der Lüfte. Die erstaunlichen Talente der Vögel
Rowohlt, 24,95 Euro
Jennifer Ackermann erzählt es uns: Vögel können vieles, was wir können – und manches mehr: Sie überqueren Kontinente, ohne nach dem Weg zu fragen. Sie erinnern sich an die Vergangenheit und planen für die Zukunft. Sie beherrschen die Grundprinzipien der Physik. Vögel sind erstaunlich intelligente Wesen. – Und nicht nur ihre technische Kompetenz ist größer als lange angenommen, sie verfügen auch über eine beeindruckende soziale Intelligenz. Sie täuschen und manipulieren, sie machen Geschenke und trösten einander. Sie können sich an veränderte Lebensumstände anpassen und innovative Lösungen finden.
Ein bisschen Demut kann uns Menschen ab und zu auch nicht schaden. Pause machen, Innehalten, Perspektive ändern. Staunen. “Das da unten ist, also die komische Welt, in der diese Menschen leben”, so drehte Büchner-Preisträger Marcel Beyer bei der NDR Veranstaltung “Der Norden liest” zum Thema “Birdwatching” den Blick um. Wie wäre es, wenn uns die Tiere beobachteten? Wie sähe unser Leben dann aus? “Birdwatching” ist aus gutem Grund eine anglo-amerikanische Leidenschaft, die sich auch hierzulande einer wachsenden Beliebtheit erfreut. Und das nicht nur bei Spießern oder Spinnern.
Regina Ziegler
Geht nicht, gibt’s nicht
C. Bertelsmann, 22 Euro
Sie ist Deutschlands erfolgreichste Produzentin, eine self-made woman. Nach verschiedenen Experimenten gründete sie 1973 ihre eigene Film-Firma und erhielt gleich für ihre erste Produktion einen Bundesfilmpreis. Sie hat junge unbekannte Regisseure gefördert, hat mehr als 400 Filme fürs Kino und fürs Fernsehen produziert und hat mit den bedeutendsten Regisseuren gearbeitet. Es gibt wahrscheinlich kaum jemanden, der noch nie einen von ihren Filmen gesehen hat, darunter die großartige Serie “Weissensee”, durch die der Schauspieler Jörg Hartmann bekannt wurde. Oder zuletzt Volker Schlöndorffs Max-Frisch-Verfilmung “Montauk” mit Nina Hoss.
Und, unter uns, sie steht seit Jahren auf der Liste der Menschen, mit denen ich mit gern mal unterhalten würde. Das ist mir bisher nicht gelungen. Wem es ähnlich geht: Glücklicherweise hat sie jetzt mit 73 Jahren ihre Autobiographie veröffentlicht, in Zusammenarbeit mit der Autorin Andrea Stoll. Darin erzählt sie von ihrer Arbeit einer von Männern dominierten Branche (gerade hoch aktuell, vgl. “me-too-Diskussion”), von ihren Entscheidungen, Niederlagen und Erfolgen. – Meiner Tochter schenke ich zu Weihnachten „Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen“ von Elena Favilli und Francesca Cavallo (Carl Hanser Verlag, 24 Euro). Regina Ziegler ist etwas für die Generation darüber.
Francis Duncan
Ein Mord zu Weihnachten
DuMont, 15 Euro
“Niemand hätte vorausahnen können, wie es enden würde. Nicht einmal der Mörder selbst”. So beginnt Francis Duncan Krimi “Ein Mord zu Weihnachten”. Und auch wenn wir dem Erzähler ungern widersprechen, so ganz unbekannt ist uns die Konstruktion nicht, Miss Marple und Hercule Poirot sei Dank:
Benedict Grame, Eigentümer eines englischen Landguts lädt wie in jedem Jahr seine Mischpoke, will sagen Freunde, Familie, gute Bekannte, zu einem festlichen Weihnachtessen in seine Gemäuer ein. Und wie zu erwarten, hat jeder der Gäste ein kleines Geheimnis im Gepäck, das im Laufe der Festivitäten zu, sagen wir mal, gewissen Irritationen führt. Glücklicherweise fühlt sich ein Mitglied der Festgesellschaft zum Hobbydetektiv berufen …
Wir haben “Das Haus am Eaton Place” gesehen und “Downton Abbey”. Wir haben Kazuo Ishiguros “Was vom Tage übrig blieb” gelesen (oder James Ivorys Verfilmung gesehen). Wir verehren Jane Gardams Romane über das Britische Empire und haben uns über J. L. Carrs in einem englischen Sommer des Jahres 1920 angesiedelten Roman “Monat auf dem Lande” gefreut.
Nun gibt es weitere britische Nachkriegsware, einen Vintage-Krimi in beiderlei Bedeutung des Wortes. Nachdem das Manuskript im Archiv des englischen Vintage-Verlags entdeckt worden war, musste erst der richtige Name des Autors gefunden werden: William Underhill, 1918 in Bristol geboren, kurz nach dem D‑Day als Sanitäter nach Frankreich gekommen, Lehrer. Kriminalromane schrieb er aus einem inneren Bedürfnis heraus, aber auch, um seine Familie zu ernähren. Er reiste gern, vor allem nach Frankreich und als Rentner spielte er Golf. Er starb an einem Herzanfall kurz nach seiner Goldenen Hochzeit im Jahr 1988.
1949 zuerst veröffentlicht, ist dieser stimmungsvolle Krimi eine hübsche Wiederentdeckung. Es gibt sie also weiter, die guten Dinge 😉
Carlos Spottorno & Guillermo Abril
Der Riss
Avant Verlag, 32 Euro
Zwei spanische Journalisten machen sich im Auftrag der Zeitschrift El Pais Semenal auf an die Grenzen Europas. In mehreren Reisen suchen Carlos Spottorno und Guillermo Abril Orte auf, an denen die Idee von Europa erfahrbar wird – wie auch ihr krasses Gegenteil. Sie fahren nach Melilla, die schwer bewachte spanischen Enklave in Marokko, sie recherchieren im Norden Finnlands und in den Wäldern Weißrusslands, wo NATO-Truppen für einen Grenzkonflikt mit Russland trainieren. Sie treffen Flüchtende, Grenzsoldaten und Kommunalpolitiker, und halten ihre Erlebnisse in Wort und Bild fest. Ein einmaliges Dokument der Herausforderungen, welche tagtäglich an den Grenzen der EU auftreten.
Aus ihren Fotos haben Carlos Spottorno und Guillermo Abril eine Graphic Novel gemacht – in den Bildern sind die konkreten Bildmotive und Vorlagen noch zu erkennen, aber so verfremdet, dass das Allgemeine, das archetypische und gleichzeitig Anrührende aus ihnen hervorspringt. Es ist schwer, sich diesem Bann zu entziehen – und damit der europäischen Idee, für welche diese beiden jungen Spanier mit ihrer Arbeit eintreten.
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