
Es ist eine Inbesitznahme. Neugierig und ohne Scheu nehmen die Hamburger ihre »Elphi« in Beschlag. Setzen sich auf die Treppen, bauen ihre Klappstühle auf, lehnen am Treppengeländer und warten, dass es losgeht. Man sieht das kleine Schwarze ebenso wie Jeans und Turnschuhe. In fünf Minuten wird Sahsa Waltz mit ihrer Compagnie und dem Vocalconsort Berlin den Raum einweihen. Und so sehr die Errichtung der Elbphilharmonie Hamburg im Bauverlauf gespalten hat, so aufgeregt, neugierig und fast ein wenig verliebt scheint das Publikum heute.
Dann erobert die Kunst den Raum. Sanft entspinnt sich ein Dialog zwischen Sängern des Vocalconsorts Berlin von Treppe zu Treppe. Es ist Francis Poulenc, den Sasha Waltz mit »Figure Humaine« nicht nur zum Titelgeber des Abends, sondern auch als Einstieg gewählt hat. Ätherisch, fast schon sakral mutet die Doppelkantate zu Beginn an und ist doch im Zweiten Weltkrieg entstanden, ein Text wie ein Mahnmal. Aber da ist viel Hoffnung: »Und durch die Macht eines Wortes/Beginn ich mein Leben neu/Ich bin geboren dich zu kennen/Dich zu nennen/Freiheit« heißt es dort in den letzten Takten.
Diese Zweischneidigkeit sieht Sasha Waltz in der Musik ebenso wie im aktuellen Zustand der Welt und der durchaus nicht immer positiven Genese der Elbphilharmonie. »Das Werk versteht sich als Aufruf zur Versöhnung und Menschlichkeit«, wird sie im Programmheft zitiert. »Es bietet Ausblick auf Hoffnung, aber man muss erst durch einen Zustand der Düsternis hindurch.« Von Düsternis ist hier im Foyer zu Beginn allerdings wenig zu spüren. Die Festlichkeit der Doppelkantate entfaltet unter der Leitung von Nicolas Fink ihre volle Wirkung, als die Mitglieder des Vocalconsorts langsam zu einem Klangkörper zusammenkommen.
Inmitten des Publikums suchen sie sich ihren Weg, während die Tänzer nach und nach Geländer und Treppen besetzen. Eine Mischung aus Ruhe und Dynamik strahlt diese Zusammenkunft aus, die Menge teilt sich, um den Weg frei zu machen. Glockengeläut erklingt, man fühlt sich fast an eine religiöse Weihe erinnert, während die Tänzer ihre Arme in die Luft recken und ins Leere tasten, als wollten sie versuchen, den Klang zu greifen. Die Bewegungen werden dynamischer, zu Kreisformationen, und während das Publikum ausweicht, wird es selbst ganz organisch Teil des Körpers aus Klang und Bewegung.
Der Auftakt ist gemacht, die Besucher bewegen sich immer selbstsicherer zwischen den Künstlern hindurch. Musiker wie Tänzer finden sich zu immer neuen Besetzungen, Duetten, Terzetten, Quartetten zusammen. Die Erkundung des mehrstöckigen Foyers nimmt ihren Lauf, und auf fast schon magische Weise wird es nirgends zu voll oder zu eng. Alles ist im Fluss. Künstler wie Publikum nehmen den Ort in Besitz in immer neuen, schwarmartigen Formationen, während draußen vor den Panoramafenstern die Elbe vorbeiwogt.
Natürlich ist hier nichts dem Zufall überlassen. Wer genau hinschaut, sieht die Herren mit Knopf im Ohr, die – stets miteinander im Kontakt – das Geschehen auf unsichtbare Weise dirigieren. Sasha Waltz´ Komposition der Musikstücke und ihrer Tänzer ist klar getaktet, und doch spielt der Zufall eine Rolle. Nicht nur die Bewegung der Zuschauer schafft eine völlig individuelle, unvorhersehbare Raumerfahrung. Auch die Tänzer haben Raum für Improvisation, wenngleich sie sich auch in einem abgesteckten Rahmen bewegt. Es ist eine Raumerkundung der Spitzenklasse, die hier ganz unprätentiös und scheinbar völlig entspannt daherkommt. Man kann nur erahnen, welch minutiöse Planung dahintersteht, welche Wachheit im Blick und Lauschen bei dieser Foyerbespielung konzeptionell vorausgegangen sein muss.
Mitten ins Herz
Und dann ist es so weit: Das Publikum darf in den Saal. Wie die Bewegung entsteht, woher die geheimen Signale kommen, dass alle Bescheid wissen, hat fast schon etwas Mystisches. Vereinzelt, tröpfchenweise, dann wieder im Schwall kommen die Besucher – und haben an diesem Tag den Luxus der freien Sitzplatzwahl. Es ist ein Höhepunkt ohne das orgiastische Tamtam, das bei Einweihungen sonst so gern geschieht. Die Hamburger betreten ihren Konzertsaal im gedämpften Licht, und es ist erst mal ganz still. Zaghaft tastet jemand die Waben an den Wänden ab.
Als alle sitzen, nehmen die Musiker auf der Bühne Aufstellung. In der Mitte eine Sängerin. Angespannte Stille. Die Musiker in Position, andächtig, wie eingefroren. Dann lösen sie sich, und sofort tritt der bekannte Konzert-Effekt ein: Räuspern, Rascheln, Bewegung im Publikum, bis der nächste Satz der Stille beginnt. So sehr Sasha Waltz es im Interview im Programmheft bedauert, dass alle diese Spannung aushalten müssen, da vor dem offiziellen Eröffnungstermin am 11. Januar keine Musik im Saal erklingen darf, so stark macht genau dieser Umstand das Konzept. Zum einen, weil das Publikum nach der beendeten „Symphonie der Stille“ der Wirkung der eigenen Stimme nachspüren darf – beim Applaus wird gejuchzt und gejubelt, dass es eine wahre Freude ist. Zum anderen, weil Waltz’ Tänzerinnen und Tänzer in den darauffolgenden Minuten den Klang mit ihren Körpern selbst erzeugen. Mit dem Hoch- und Herunterklappen der Sitze im Publikum, mit ihren Füßen auf dem Bühnenboden, mit ihrer Stimme, wenn Sie »Silencio« rufen und »Keine Fotos«.
Die Männer bleiben im Parkett im Publikum sitzen. Sie erzeugen mit den Sesseln den Rhythmus, ein konstantes Pochen, gleichmäßig wie ein Herzschlag. Die Tänzerinnen kommen dazu im Rund der Bühne zusammen. Wie Schwärme von Vögeln finden sie sich, lösen sich voneinander, um neue Konstellationen zu bilden und wiederum zu lösen, dazu das Geräusch ihrer Füße auf dem Holz, die Choreografie hat etwas Soghaft-Hypnotisches.
Auch wenn das Publikum schwer wieder ins Foyer zurückzubewegen ist, tobt dort schnell das Leben. Draußen herrscht orgiastisches Chaos. Zu ekstatischen Trommelklängen schreien die Tänzer, beißen sich, wälzen sich knutschend am Boden. Der Schweiß perlt an den Körpern, und zwischendrin erklingt das Klatschen von Fleisch auf Fleisch, wenn sich zwei aufeinanderwerfen. Da wird schon mal eine Zuschauerin aus dem Publikum gerissen, im Stechschritt durchs Foyer geführt und am anderen Ende wieder abgestellt. Die Botschaft scheint klar: Mischt euch, ihr Hamburger, feiert, was ihr habt, lasst es mal krachen.
Dann wird es nach und nach sehr still, und von ganz oben singt das Vocalconsort. Man schreitet hinauf in Richtung Licht. Die Tänzer ringsum werden nackter, sie schlagen sich, ziehen sich die Hautfalten vom Körper. Vereinzelt und separiert spielen die Musiker, alle auf einem Grundton, alle in einer Harmonie, und doch jeder für sich. Es ist, als würde das Gebäude tief atmen. Draußen vor den Fenstern auf der Elbe fährt ein Schiff. Und während die letzten Takte des Chors verklingen, lösen sich die Tänzer voneinander, leise läuten die Glocken, und die Sänger nehmen sich in den Arm. Alles ist Umarmung.
Sasha Waltz & Guests haben mit »Figure Humaine« der Elbphilharmonie ein erstes Gesicht gegeben. Es ist ein Menschliches, eines, das in Dialog tritt, der Kunst sämtliche Töne von laut bis ganz leise abringt und keine Hemmschwellen erzeugt. Gut gemacht, Elphi, möchte man flüstern, wenn man die Rolltreppe Richtung Elbe hinunterfährt.
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