Man möchte mit den “Brüdern Karamasow” auf die Couch. Nicht, weil die Figuren von schweren Vaterkomplexen und Profilneurosen geplagt sind, sondern weil man sie sich als Buch wünscht. Man möchte Dostojewskijs Romane wieder lesen statt sie auf der Bühne zu sehen. Und doch: Der Name lockt. Und dann sitzt man im Thalia und ärgert sich, dass man nicht das Buch zur Hand genommen hat.
Auch 2008 versuchte sich eine der Großen des Regietheaters an einem der großen Romane Dostojewskijs. “Verbrechen und Strafe“ hieß Andrea Breths ungeschönte Übersetzung von “Schuld und Sühne”, die 2008 die Salzburger Festspiele eröffnete. Auch da spielte Jens Harzer mit. Auch dort Stunde um Stunde, gleich drei Teile, mehrere Pausen, viel Text. Anstrengung, Mühsal, Ausweglosigkeit in einer Welt ohne Gott. Bei Luk Perceval immerhin ein größeres Spannungsfeld, denn in “Brüder Karamasow” darf einer glauben, dass es Gott gibt: der grundgute Aljoscha, der “Gottesmann im Taschenformat” wie ihn Gruschenka nennt, der jüngste der drei vom Vater verstörten Brüder. Sein Gegenpol: Iwan, der Zweifler, der am Leben, an der Liebe Verzweifelnde (Jens Harzer).
Jens Harzers Iwan ist ein rastlos Suchender, einer der “nicht einsehen kann, warum das alles so eingerichtet ist”. Der vom Kind erzählt, das von den Eltern gequält und im Abort eingesperrt wird, der nicht glauben mag an einen Gott, der Brutalität und Jähzorn zulässt am Unschuldigen. Dieser Iwan tut einer Bühne gut, auf der so viel Lärm ist. Denn hier gibt es lange Klangstäbe, die von der Bühnendecke baumeln, die zornig gegeneinander geworfen werden oder auch sanft als Klangkörper genutzt. Ein “akustischer Kosmos”, wie es im Programmheft heißt, den die Schauspieler sich dennoch nicht richtig zu eigen machen.
Aber auch sonst ist hier viel Lärm. Denn sie alle sind etwas zu laut, etwas zu polterig. Das beginnt mit dem mittleren der Brüder, dem später des Mordes bezichtigten Dmitrij (Bernd Grawert). Die wahnsinnige Liebe zu seiner Gruschenka wird geschrien, gehechelt, gespuckt, endlos zerredet, sinnlos gebrabbelt. Wenn so Liebe aussieht, möchte man getrost drauf verzichten und sich Iwan anschließen, wenn er sagt: “Kaum zeigt der Mensch sein wahres Gesicht, ist es doch um die Liebe geschehen.”
Und es geht weiter mit Burghart Klaußner als Vater Karamasow, betrunken, lärmend und großspurig, einer, dem man es gönnt, dass ihm der Mörser über den Kopf gezogen wird. Einer, der im Pelzmantel auf der großen Glocke sitzt, die auf der Bühne steht, und seine Liebe zur viel jüngeren Gruschenka beteuert, der Geliebten des eigenen Sohnes. Zum Glück gewinnt Klaußner ungemein im zweiten Teil als Ankläger, die Arme wie Fremdkörper an der Seite des Körpers hängend, die Hände verkrampft, die Stimme dumpf (konsequent die Besetzungsidee des Ermordeten und Anklägers in einer Person). Auch seine Suche nach Wahrheit muss scheitern.
Das Kabinett der wahnhaft Suchenden wird komplettiert durch die Männer verschlingende Gruschenka. Wer Patrycia Ziolkowska als Gretchen im Faust auf dieser Bühne gesehen hat, möchte nicht glauben, was hier passiert. Das Flatterhafte der Figur trägt sie im Körper, wenn sie keine Sekunde stillhält, sich räkelt, verführt, rennt, lacht und heult. Einen Moment liebt sie ihren Dmitrij – für genau eine Stunde, wie sie beteuert –, im nächsten verlässt sie ihn und bittet ein paar Wimpernschläge später hündisch und auf den Knien, dass er sie zurücknimmt. Das ist ein Roman im Zeitraffer, als hätte man die Vorspultaste gedrückt. Hunderte Seiten passieren hier in Minuten – sicher einer der Gründe, warum Romandramatisierungen eine Gratwanderung bedeuten, die oftmals scheitert.
Was Harzer in der Rolle des Raskolnikows in “Verbrechen und Strafe” nicht stand, die Gleichgültigkeit, die Verachtung des Menschen, das Achtlose, das macht er hier wett. Wenn er seinen Unglauben ausführt in einem halbstündigen Monolog, ruhig und doch atemlos von Gedanken zu Gedanken hechtet, folgt man. Das ist gedacht, Satz für Satz. “Wovon sollen wir beide reden in diesem flüchtigen Moment?” fragt er den aufmerksamen Aljoscha und sagt dabei ganz schön viel.
Man könnte fortfahren, über diese 3,5 Stunden im Thalia zu schreiben, über Glauben und Unglauben und eine Kriminalgeschichte, die hier in den Hintergrund gerät. Man könnte schreiben auch über Momente voller Zauber, wenn die kranke Lise sich ihr Leben zurechtredet und von Teufeln träumt. Von einem zutiefst verwirrten jüngsten Bruder, der glaubt und ruht, während um ihn der Wahnsinn tobt und laszive Geliebte sich auf seinem Schoß reiben. Aber man kann es auch lassen und ihn sich noch mal vornehmen, diesen neu übersetzten, überbordenden Dostojewskij. Als Buch.
Klasse, gefällt mir! Gruß