Lesetage, Tag 2: Nah dran

Volks­dorf ist für den Zen­tral­ham­burg­er eine ziem­lich weite Reise. Fast 45 Minuten ist man aus der Stadt­mitte im abendlichen Verkehr unter­wegs, bis man endlich den Ort der Lesung mit Margrit Schriber aus der Schweiz erre­icht. Sie hat einen kleinen Roman geschrieben, “Die hässlich­ste Frau der Welt.” Ihre Schweiz­er Herkun­ft ist unverkennbar, die knapp 40 Besuch­er in plüschi­grot möblierten Koralle-Kino brauchen ein wenig Zeit um sich an den sehr ent­fer­nt klin­gen­den Zun­gen­schlag zu gewöh­nen. Die Ver­anstal­tung begin­nt ein wenig später, man wartet noch auf let­zte Gäste. Das Buch han­delt vom Leben und Ster­ben der Julia Pas­trana, ein­er Frau, die Mitte des vor­let­zten Jahrhun­derts, auf­grund ein­er Erbkrankheit entstellt, als “Affen­frau” durch die Gesellschaft gere­icht wurde. Soge­nan­nte Freak­shows waren in diesen Jahren der fortschre­i­t­en­den indus­triellen Entwick­lung und des bedin­gungslosen Glaubens an tech­nis­chen und wis­senschaftlichen Fortschritt eine beliebte Angele­gen­heit. Unter dem Vor­wand der Wis­senschaftlichkeit wur­den die die unap­peti­tlich­sten Exper­i­mente mit ander­sar­ti­gen Men­schen durchge­führt, immer ver­bun­den mit der Zurschaustel­lung der “Exponate”. Gewisse Auswüchse dieses Show­be­triebs gibt es auch heute noch, in abgemilde­ter Form in den Real­i­ty-Shows des Event-TVs, sehr nah an den altem Zustän­den bei “Wis­senschaftlern” wie Gun­ther von Hagens.

Das ist ein brisantes The­ma, das Buch ist nah an der Doku­men­ta­tion, die Erzäh­lung ist sprach­lich eher karg und trock­en gewor­den. Die Geschichte aber ist groß genug für die 180 Seit­en des Buch­es. Und das Buch hat seine Leser gefun­den, nicht nur in Volks­dorf, son­dern ganz offen­bar auch in der mod­er­nen Zeit des Web 2.0. Unter den Zuhör­ern in Volks­dorf war eine Abor­d­nung der Inter­net-Com­mu­ni­ty lovelybooks.de, in deren Forum das Buch eine rezen­sierende Fange­meinde gefun­den hat. Diese Gemein­schaft hat sich nicht nur des Buch­es angenom­men, son­dern auch seines Stoffes. Julia Pas­trana wurde nach ihrem Tode prä­pari­ert (man kann auch sagen aus­gestopft) und zusam­men mit einem, möglicher­weise ihrem, eben­falls prä­pari­erten Kind weit­er aus­gestellt. Die Über­reste des “Prä­parats” liegen heute in Oslo in einem gerichtmedi­zinis­chen Insti­tuts und wer­den weit­er­hin der “Forschung” zur Ver­fü­gung gehal­ten. Bei lovelybooks.de hat sich eine Gruppe gegrün­det, die den Leich­nam beerdi­gen will und dazu sog­ar eine Peti­tion an das nor­wegis­che Königshaus ein­gere­icht. Bei dieser Lesung wurde stolz das Antwortschreiben gezeigt, der Vor­gang ist noch in der Schwebe.

Was diese Ver­anstal­tung vor allem zeigt: Lit­er­atur kann lebendi­ge und span­nende Auseinan­der­set­zung mit einem The­ma sein, auch in Zeit­en des Web 2.0. Neue Kon­tak­t­for­men zwis­chen Autor und Leser tun sich da auf, das ist aufre­gende Lit­er­aturver­mit­tlung par excel­lence, uner­he­blich von Ort und Werk. Ein inter­es­san­ter Weg.

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