Als Georg Kreisler 1938 seine Heimat Österreich verließ, war er einer von vielen Vertretern der Kulturszene, die aus dem deutschsprachigen Raum unter dem faschistischen Regime verschwunden waren. Der beispiellose Exodus von Kulturschaffenden ist bis heute zu spüren, gerade in der Unterhaltungsindustrie katapultierte sich durch Mord und Vertreibung der halbe Kontinent in die Bedeutungslosigkeit. Wenn heutzutage das Primat der amerikanischen Unterhaltungsindustrie (vulgo “Kulturindustrie”) beklagt wird, ist das auch eine Folge dieses Aderlasses, viele der Künstler, so sie denn emigrieren konnten, gingen nach in die Vereinigten Staaten und prägten dort maßgeblich das Entertainment. Wilder, Goetz, Lang und eben auch Kreisler brachten den “Weimar Touch” nach Hollywood. Kreisler kehrte als amerikanischer Staatsbürger zurück, sein Miniaturmusical “Lola Blau” lehnt sich in den Themen an seine Lebensgeschichte an: Erste Erfolge in Österreich, die beginnende Repression, die Emigration, Erfolg in Amerika, Entwurzelung und Rückkehr, das sind die Themen dieser kleinen Lebens-Revue, zusammengefasst im bekannten Kreislerischen Duktus zwischen Alt-Wiener Sentiment und geschliffener Bösartigkeit. Das Stück hatte nun im immer noch neuen kleinen Schmidt-Theater, dem “Schmidtchen”, Premiere.
Schon beim Einlass zelebriert man die Unterhaltungswelt der Vorkriegszeit, aus den Lautsprechern schnoddert Heinz Rühmann, Ilse Werner pfeift und Marika Röck singt. Die Bühne ist naturgemäß einfach, der musikalische Leiter Gleb Pavlov sitzt links am Klavier, ein Rückenprospekt aus Stoff, je nach Bühnensituation unterschiedlich ausgeleuchtet, und ein sparsam dekoriertes Versatzstück rechts für die Innenszenen – das genügt. Auf dem Klavier ein Radio, man hört den Reichsrundfunk als historisches Kolorit, das dient zur Illustration der bösen Zeit und macht später auch vor der unsäglichen Sportpalastrede nicht halt. Regisseurin Ingrit Dohse verlässt sich da ganz aufs Eindeutige, damit auch ja jeder Zuschauer versteht, worum es da geht. Möglicherweise ist man der Meinung, dass das “Schmidtchen”-Publikum Kreislers Erzählung in “Lola Blau” nicht folgen kann und solche wenig subtilen Mittel braucht. Dabei steht mit Musical-Darstellerin Yvonne Disqué eine fabelhafte Protagonistin auf der Bühne, die sichtlich Spaß an den vertrackten Texten des Meisters hat und die mit ihrer für das Fach untypisch wenig überzeichnenden Stimme auch der fatalen Tontechnik trotzt. Der Sound ist erschreckend indirekt, nie ist klar, von wo die Stimmen eigentlich kommen, als säße man vor einem Kofferradio.
Das Stück erzählt die Geschichte einer aufstrebenden jüdischen Sängerin in den 30er und 40er Jahren. Es gibt eine sehr spärliche Rahmenhandlung, die die einzelnen Nummern, über 20 an der Zahl verbindet, und, ganz wie es sich für die Gattung Musical gebietet, den jeweiligen Zustand der Protagonistin illustrieren. Das geht von den Erwartungshaltungen der Debütantin – “Im Theater ist was los” – über die Verzweiflung und Enttäuschung der Vertriebenen in “Weder noch” bis hin zum glamourösen “Der zweitälteste Beruf der Welt” mit solch bezaubernd-grotesken Zeilen wie “Vorm Schlafengehn teilen wir Länder – und ändern die Ränder”. Darin steckt tatsächlich so etwas wie Revue, Glanz und Innerlichkeit, und das macht Yvonne Disqué ganz fabelhaft und mit viel Präsenz, die Erfahrung bei größeren Produktionen wie “Heiße Ecke” und “Swinging St. Pauli” ist der Rolf-Mares-Preisträgerin von 2011 deutlich anzumerken. Da sitzt jede Nummer, die Spielfreude ist ihr anzusehen – das allein genügte für einen gelungenen Abend, der ohnehin in seiner doch langen Aneinanderreihung von Songs einer Nummernrevue näher ist als einem durcherzählten Stück – doch das liegt in der Vorlage Kreislers begründet
Weitaus schwieriger wird es in den Spielszenen, in denen ihr Partner Hans B. Goetzfried in die Handlung eingreift, die wirken sonderbar gehemmt und führen nicht nur in den Radio-Einspielern einen gewissen edukativen History-Channel-Duktus immer im Köcher. Goetzfried hat die ohnehin undankbare Rolle des Stichwortgebers in dieser Einrichtung und muss in der Maske des mimisch groben Weißclowns mit den hart geschminkten Wangenknochen – wohl eine Reminiszenz an Joel Greys berühmten Cabarét-Conferencier – vom faschistoiden Hauswart bis zum amerikanischen Showmaster jede Charge bedienen. Er wird allerdings dabei herzlich allein gelassen von dieser Inszenierung, das Ganze wirkt hölzern, vordergründig und unfertig.
Ganz und gar schwierig wird das in einer Szene, in der Lola Blau auf der Überfahrt nach Amerika auf einen jüdischen Schicksalsgenossen trifft. “Das ist ja schon fast antisemitisch” murmelt die Sitznachbarin nach einigen Sätzen, und sie trifft es damit ziemlich genau. Der weinerliche, osteuropäische Schtetl-Jude, der gebrochen radebrecht, solche Darstellungen glaubte man überwunden. Das soll wohl als liebevolle Erinnerung an chagalleske und anatevkahafte Idyllen gelten, scheitert aber am Unvermögen der oberflächlichen Inszenierung. Kreisler beherrschte in der Tat eine Vielzahl von Dialekten, von seiner Meisterschaft ist diese Nachahmung weit entfernt. Das geht soweit, dass das nachfolgende Lied vom Mädele – “Ich hab a Mädele, die hat a Fingerle, Mit diesem Fingerle drückt sie an Knopf …” – genauso schal daher kommen muss, obgleich Yvonne Disqués Lola zu diesem Zeitpunkt bereits bestens als Figur etabliert ist.
Das Hans B. Goetzfried ein ganz hervorragend gestaltender Chansonnier sein kann, zeigt er kurz vor Schluss, in einem der bösartigsten Couplets Kreislers, dem späten “Schlagt sie tot” von 1997, das nicht zum über zwanzig Jahre älteren “Lola Blau”-Kontext gehört. Doch da ist es schon zu spät für Rolle und Figur, zum Glück nicht für den Darsteller, der sich damit ganz und gar rehabilitieren kann. Denn hier bricht auf einmal der ganze Zynismus des heimgekehrten Anarchisten Kreisler durch, und in diesem Moment und mit diesem Text gewinnt der Abend für einen kurzen Moment an der inhaltlichen Schärfe, die er bisher vermissen ließ:
“Komm mir nicht mit Demokraten, köpf sie, kill sie,
das sind Todeskandidaten, niemand will sie,
Vater, Mutter, Schwester, Brüder, alte Freunde,
brauchst du die für irgendwas?
Pfarrer, Lehrer, Besserwisser, strangulier sie,
all die blöden Tintenpisser, massakrier sie,
merk dir eins: du bist stark,
aller Rest ist Quark.”
Bedauerlicherweise glaubt die Regie nur wenig später, dieser an sich schon starken Positionierung noch etwas hinzuzufügen zu müssen: Ein Audio-Einspieler einer Pegida-Demonstration ist der Schlusspunkt des Abends, damit die Bedrohung durch den Alltagsfaschismus auch ja jedem bewusst werde. Das ist und bleibt ernüchternd schlicht angesichts der Eleganz und Deutlichkeit von Kreislers Texten und einer überzeugenden Hauptdarstellerin, beider Qualitäten kann man nur jedem ans Herz legen, “Heute Abend: Lola Blau” läuft noch bis Ende April.
Postscriptum: Wieviel Eitelkeit muss man besitzen, einer Darstellerin, die zwei Stunden auf der Bühne hart gearbeitet hat, noch vor dem zweiten Vorhang in den wohlwollendsten Schlussapplaus zu springen, um sein eigenes Haus zu “präsentieren”? Der Theaterleiter Corny Littmann nimmt sich diese Freiheit wie ein Duodezfürst, der seine Komödianten vorführt. Möge diese Stillosigkeit künftigen Besuchern erspart bleiben.
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