Eine enorme Klangfülle nimmt die Halle sechs der Kulturfabrik Kampnagel ein. Es erklingt Eric Saties “Ogive”. Satie war bereits in den frühen Zeiten seines Schaffens vom gregorianischen Gesang inspiriert worden, daher wohl auch die Bezeichnung “Ogive”, ein Kreuzrippengewölbe, welches zahlreiche gotische Kirchengebäude schmückt. Saties Idee zu dem Stück war eine religiöse. Er wollte die starken Klänge einer Pfeifenorgel nachahmen, welche assoziativ in den Tiefen einer Kathedrale wiederhallen sollten. Kirchengesang und Rock’n’Roll, wie passt das zusammen?
Indem Michael Clark seine dreiteilige Performance mit den minimalistischen und kargen Tönen der “Ogive” einleitet, überrascht er den Zuschauer von Anbeginn. Zu den knappen und teils aggressiven Akkorden bewegen sich die acht Tänzer der Michael Clark Company in puristischen und mechanischen Bewegungen. Passend dazu die leere Bühnenkulisse und die schlichten schwarz-weißen Ganzkörpertrikots der Tänzer. Der Stilmix aus Ballett und Modern Dance ist auf Präzision und Klarheit bedacht. Clark ist streng mit seinen Tänzern, lässt sie auf einem Bein oder kopfüber auf den Armen balancieren – pure Askese. Die eine oder andere Figur erinnert an Körperstellungen aus dem Yoga. Intensive Körperbeherrschung gepaart mit Geschmeidigkeit und Akrobatik. Beinahe disharmonisch wirken dabei die immer wiederkehrenden Ballettelemente. Klassische Drehungen und Sprünge aus dem Ballett kreuzen sich mit akrobatischen Figuren. Hier ein Jeté, dort eine Kerze oder ein Handstand. Dazu Saties harte Akkorde und Doppel-Oktaven. Musik und Tanz entwickeln eine scharfe kontrastierende Dynamik. Was gewöhnlich ästhetisch wirkt, erscheint in Disharmonie.
Nach zwanzig Minuten strenger Disziplin und musikalischem Minimalismus erklingt Patti Smiths Song “Horses”. Rockig ist nicht nur die Musik, sondern auch das Outfit der Tänzer, in schwarzen Lederhosen mit Schlag. Futuristisch anmutende Grafik-Projektionen erscheinen im Hintergrund und gehen in wirre Zahlenkombinationen über. Dazu die energiegeladenen und progressiven Bewegungsabläufe der Tänzer. Wie im Rausch verschmelzen die Tänzer Ballettfiguren mit Popelementen und Akrobatikkunst. Im Vergleich zum ersten Akt fließen die Bewegungen mehr in einander über, lasziv gleiten die Tänzer über den Boden. Sinnlichkeit und Rausch statt Schlichtheit und Minimalismus.
Und dann erklingt David Bowies “Blackstar” aus dem letzten Studioalbum der britischen Pop-Legende. Die Tänzer tragen nun enganliegende metallisch-glänzende Ganzkörper-Overalls, ganz im Sinne ihres Choreografen. Michael Clark verkörpert Glamour, Punk und Sexyness wie kein anderer zeitgenössischer Choreograph. Clark arbeitete mit bekannten Designers und Models zusammen und genoss sein Leben in Rausch und Fülle. Bunt und Schrill sind Bühnenbild und Kostüme der Tänzer, wie einst das Leben des Ausnahmekünstlers Bowie und der persönliche Lebensstil des Choreografen Michael Clark.
In Mitten der Tänzer erscheint wie aus dem Nichts, eine in Schwarz bekleidete Dame. Teils mischt sie sich unter die Tänzer, teils erscheint sie alleine mit einem Soli auf der Bühne. Ein Todesengel, der an Bowies plötzlichen Tod erinnern soll?
In Bowies letztem Album “Blackstar”, nur wenige Tage vor seinem Tod erschienen, scheinen immer wieder Todesahnungen des Künstlers zu hören zu sein. Bowie schaut in diesem Album auf sein Leben zurück und sucht nach Erlösung. Wie der erste Akt erinnert auch der letzte an etwas Übersinnliches.
Wie bei Satie mischt sich auch in das Bowies Album ein düsterer Gesang ein, der entfernt an einen gregorianischen Choral erinnert. Religiöse Klangelemente, die Clarks Akte zusammenhalten. Als letztes Stück erklingt Bowies “Aladdin Sane”, das stark von dem Klavierspiel des Jazz-Pianisten Mike Garson geprägt ist . Seine Pianoklänge rufen Saties Klavierspiel zurück. Eric Satie war nicht nur Revolutionär und Mitbegründer einer “Nouvelle Music”, seine Musik beeinflusste auch den Jazz. Und, ganz wie am Anfang, so endet auch das Gesamtstück mit einer Pirouette auf einem letzten Klavieranschlag.
Wie das Gewölbe, die Ogive, welche von Kreuzrippen gehalten wird, spannt Clark einen historischen und musikalischen Bogen um seine drei Akte. Angefangen beim radikalen Vereinfacher Eric Satie, der mit den klassischen Klavierkompositionen brach und sich nach einer neuen Musikrichtung sehnte, über die “Godmother of Punk” Patti Smith bis hin zu Bowies letztem Werk “Blackstar” – alle drei eint die Freude am Experimentieren und der Suche nach etwas Neuem.
Getreu dem innovativen und rebellischen Geist dieser Musiker bricht auch Clark mit der Tradition und entwickelt eine eigenständige Form des Tanzes. Auch Clarks Choreographiestil lässt sich keinem genauen Genre zuschreiben. Heute wirkt der einst als Enfant terrible gefeierte Künstler nicht mehr so radikal und innovativ wie in seiner Hochzeit in den achtziger Jahren. Nichtsdestotrotz begeistert er – und zwar nicht, weil er eine atemberaubende Performance zeigt, sondern weil er einen Ausnahmekünstler feiert. Mit seinem Stück verneigt sich Clark vor der Poplegende und er scheint Bowie für seinen Mut, seine Inspiration und sein Lebenswerk danken zu wollen.
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